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Bürgerliche Tugenden sind  nötiger denn je
Suzette Sandoz, fotografiert von Sophie Brasey.

Bürgerliche Tugenden sind
nötiger denn je

Werte wie Arbeitsfreude, Hilfsbereitschaft und Verantwortung haben die Schweiz und ihre Politik geprägt. Heute werden sie von einer internationalen Geldoligarchie bedroht, die sich von den Menschen entfernt hat.

Lisez la version française ici.

«Gegen die Philister» war laut unserem Deutschlehrer am Gymnasium der Schlachtruf der Sturm-und-Drang-Schriftsteller gegen die «Bourgeois», denen sie engstirniges Denken vorwarfen und die sie als Banausen und Feinde der Aufklärung betrachteten. Eigentlich waren es weniger die «bürgerlichen Tugenden», welche die Autoren des Sturm und Drang irritierten, als vielmehr die Wirkung, die diese ­Tugenden zu haben schienen, nämlich das Fehlen von «Aufbruchstimmung», Abenteuerlust und Leidenschaft. Sind die bürgerlichen Tugenden wirklich Hindernisse für Fortschritt und Neugier?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst ­natürlich klären, was «Tugend» und «Bourgeoisie» bedeuten, um dann herauszufinden, was die Tugenden der Bourgeoisie und ihre «Früchte» sind.

1. Der Triumph der «geringen Tugend»

Noch im 19. Jahrhundert war es üblich, von einer Frau mit «geringer Tugend» zu sprechen, um eine Prostituierte oder zumindest eine flatterhafte Frau zu bezeichnen.

In diesem Sinne bezeichnet der Begriff Tugend die «Keuschheit» und stellt offensichtlich eine Eigenschaft dar, die Männern eher nicht gefällt. Eine Frau von «geringer Tugend» hat bei Männern deutlich mehr Erfolg als eine «brave» Frau, aber vielleicht weniger Chancen, eine «bürgerliche» Ehe einzugehen. Der Begriff Tugend hat in diesem Fall den Beigeschmack von «gutem Benehmen», das Gegenstand von Spott und Hohn ist. Gibt es etwas «Bürgerlicheres» als Treue oder Zurückhaltung bei der Sexualität? In unserer Zeit, in der Sex und sexuelle Aktivitäten einen hohen Stellenwert in sozialen, psychologischen und sogar schulischen Belangen haben, werden «geringe ­Tugenden» wahrscheinlich gegenüber den «Tugenden» an sich bevorzugt.

Der Begriff «Tugend» selbst wird mit der Religion in Verbindung gebracht. Spricht man nicht von den «theologischen» Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe)? Nichts sehr Attraktives. Im Zeitalter der galoppierenden Entchristlichung der westlichen Gesellschaft wird selbst der Begriff «Tugend» obsolet. Er wird wohl eher mit einer Engstirnigkeit assoziiert, die der «Aufklärung», das heisst der Wissenschaft, der Technik und wohl auch der weiblichen «Emanzipation», nicht gerade förderlich ist. Heute scheint nur noch die «geringe Tugend» eine Chance zu haben!

2. Was ist eigentlich ein «Bourgeois»?

Gemäss dem Wörterbuch ist ein «Bourgeois» eine Person, die keinen manuellen Beruf ausübt. Dazu muss man vielleicht ergänzen: Im Unterschied zum Adligen, der von den Erträgen ­seiner Güter oder von königlichen Pensionen lebt, ist er jemand, der «seinen Lebensunterhalt verdient». Eine historische Analyse wäre natürlich viel nuancierter; man muss jedoch fest­halten, dass selbst Wörterbücher nicht viele «schmeichelhafte» Erklärungen für den Begriff «Bourgeois» liefern. Auch Molières «Le Bourgeois gentilhomme» hat nicht dazu beigetragen, das Bild des Bourgeois zu verbessern.

In der Schweiz hat sich das Bürgertum je nach Kanton unterschiedlich entwickelt. In der Westschweiz im Allgemeinen und in den protestantisch geprägten Kantonen Waadt, Genf und Neuenburg im Besonderen gewann die Bourgeoisie mit der ­Reformation im 16. Jahrhundert und später, nach der Auf­hebung des Edikts von Nantes im Jahr 1685, an Bedeutung. Die lokale Bourgeoisie bestand aus Unternehmern oder Akademikern (Theologie, Recht, Geschichte, Literatur, Medizin), die freiberuflich tätig waren. Zu den drei erwähnten Westschweizer Kantonen kann man noch Basel-Stadt hinzufügen, das vor allem Frankreich nahestand und mehrheitlich protestantisch war.

Diese Bourgeoisie wohnt vor allem in den Städten. Die landwirtschaftliche Bevölkerung gehört nicht im eigentlichen Sinne zum Bürgertum – obwohl der Landwirt auch einen freien Beruf ausübt und selbstständig ist –, dennoch pflegen und verteidigen die Bauern im Wesentlichen die gleichen Tugenden wie das städtische Bürgertum. Nun, was sind diese Tugenden?

3. Was steckt hinter den bürgerlichen Tugenden?

Als ich vor einigen Tagen mit einer jungen Frau aus der Generation meiner Enkel (um die 30 Jahre) über dieses Thema sprach, war ich überrascht über die erste Antwort, die ihr einfiel: Höflichkeit.

Diese junge Frau, die aus einem ländlichen – also eher «unverdorbenen» – Milieu in die «bürgerliche» Stadt Pully gekommen war, um dort ein Pfarrpraktikum zu absolvieren, gestand mir, dass sie von der Höflichkeit der Menschen, denen sie dort begegnete, beeindruckt war. Ich höre schon das Gekicher der Freidenker: «Höflichkeit ist Heuchelei, das ist die Eigenschaft der Bourgeois [‹der Reichen›, wie es heute heisst]: Vorne lächeln, hinten lästern.»

Diese recht beschränkte Reaktion ist in Wirklichkeit nur Ausdruck einer Form von Ignoranz: Jede Qualität – oder jeder Mangel – hat immer sein Gegenteil, und der Fehler, den man ­begeht, besteht darin, zu vergessen, dass der Mensch, da er nicht perfekt ist, diese Dualität in sich trägt; folglich läuft jede Qualität Gefahr, zu einem Mangel zu werden, insbesondere wenn man sie für sich selbst kultiviert; jeder wird, je nach seiner «Brille», im anderen eher die eine als die andere Seite sehen. Wenn man sich diese Konstante vor Augen hält, kann man von Tugenden – in casu bürgerlichen – sprechen, ohne aus ihren Trägern Heilige oder Teufel zu machen.

Doch kehren wir zu den verschiedenen Tugenden zurück. Die Höflichkeit ist eine Verhaltensweise, durch die man auf den anderen Rücksicht nimmt. Sie sollte jede Aktivität, ob in der Freizeit oder bei der Arbeit, beeinflussen und vereinfacht die zwischenmenschlichen Beziehungen erheblich. Dies natürlich unter der Bedingung, dass es sich um eine Höflichkeit handelt, die von Herzen kommt, und nicht nur um einen snobistischen Anstrich, hinter dem sich ein Mangel an Offenheit, Mut zur Wahrheit oder die Absicht zu täuschen verbirgt.

Eine weitere Tugend ist die Treue, eine Tugend, die sowohl im Berufs- und Geschäftsleben als auch im Privatleben nützlich ist, die aber auch in Sturheit oder Eifersucht und Misstrauen ausarten kann. Mit der Treue eng verbunden sind die Loyalität und die Ehrlichkeit, dank derer ein Ja ein Ja und ein Nein ein Nein ist. Aber wer lässt sich nicht manchmal zu einem Hauch von Doppelzüngigkeit verleiten, indem eine kleine «soziale» Lüge erzählt wird, um eine Verpflichtung abzulehnen?

Bescheidenheit, Toleranz (geistige Offenheit), Diskretion, Ausdauer, Arbeitsfreude, Mut, Pflichtbewusstsein, Gerechtigkeitssinn, Verantwortungsbewusstsein (Voraussetzungen sine qua non für Freiheit und Unabhängigkeit), ­Genügsamkeit sind unbestreitbar bürgerliche Eigenschaften (Tugenden). Diese Tugenden haben zur Entwicklung, zum Wohlstand, zur Schweizer Demokratie und zu unserem Ruf als seriöses Land beigetragen. Da aber jede dieser Tugenden von Natur aus ihr Gegenteil mit sich bringt, sind sie auch die Ur­sache für das, was manche unserem Land vorwerfen. Bescheidenheit kann ein Gefühl der Überlegenheit verbergen, Toleranz kann zur Gleichgültigkeit verkommen, Offenheit zum Chaos, Diskretion kann in Nachlässigkeit ausarten, Ausdauer an Sturheit grenzen, Arbeitsfreude kann eine Schwierigkeit verstecken, frei oder fantasievoll zu leben, Pflichtbewusstsein, Gerechtigkeit und Verantwortung können zu einer Form von strenger oder moralisierender Rigidität werden, Genügsamkeit kann zu Geiz vertrocknen.

Mir gefällt der Gedanke, dass zu jeder Tugend eine Untugend gehört, weil dies die Heiligkeit ausschliesst, die nicht von dieser Welt ist, und weil es die Vorstellung von der Wertgleichheit aller Menschen verdeutlicht. Es gibt keine De-facto-Gleichheit, anders als Artikel 8 Absatz 2 unserer Bundesverfassung zu sagen scheint, sondern eine Gleichheit des Wertes, deren Einhaltung das Gesetz in der Praxis zu konkretisieren versucht.

4. Bürgerliche Tugenden prägten die Schweiz

Ob man es zugeben will oder nicht: Die bürgerlichen Tugenden waren die Tugenden jener Politiker, welche die Schweiz und die Kantone in der Gründungszeit des Bundesstaates inspirierten und anführten. Sie prägten unbestreitbar den internen politischen Aufbau, aber auch die Aussenpolitik, insbesondere in ­Bezug auf die Neutralität und unser humanitäres Engagement. Das Verantwortungsbewusstsein ist unauflöslich mit dem Konzept der bewaffneten Neutralität verbunden; Patriotismus ist ein Ausdruck von Solidarität und sozialer Treue, sofern er nicht in Chauvinismus verfällt; Föderalismus ist eine Anerkennung des Reichtums, den die Unterschiede darstellen, die für die Gleichwertigkeit der Menschen konstitutiv sind.

5. Alle bürgerlichen Tugenden haben christliche Wurzeln

Zu Beginn dieses Essays haben wir im Zusammenhang mit dem Ursprung der Bourgeoisie auf die historischen Unterschiede zwischen den Kantonen hingewiesen und festgestellt, dass es in mehreren Westschweizer Kantonen eine Verbindung zwischen dem Protestantismus und der Bourgeoisie gibt. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass es in anderen Kantonen kein Bürgertum gäbe oder dass dieses nicht christlich wäre. In allen Kantonen beteiligten sich die Bürger aktiv an der Verwaltung der ­«öffentlichen Sache»; in allen Kantonen unterstützte das ­Bürgertum die Kirche und stellte ihr Pfarrer zur Verfügung. Die Kirche benötigte für ihre Aktivitäten stets finanzielle Mittel, und die bürgerlichen Klassen waren in der Lage und oft auch willens, ihr diese zu geben. Die Unterstützung der Kirche war eine unbestrittene bürgerliche Pflicht. Hinzu kam eine moralische Verpflichtung zur Freiwilligenarbeit, insbesondere für Frauen, da sie dank der finanziellen Situation ihrer Ehemänner keine Erwerbstätigkeit ausüben mussten. Freiwilligenarbeit war ein Ausdruck der Dankbarkeit für die erhaltenen Güter. Die Freiwilligenarbeit entspricht dem Milizgedanken bei der Er­füllung öffentlicher Aufgaben.

6. Und heute?

Die Gesellschaft verändert und entchristlicht sich aus vielen Gründen; das Bürgertum, das immer mehr in Verruf gerät, hat viel Einfluss verloren. Es wird (vereinfachend) für alle Übel der heutigen Welt verantwortlich gemacht: die Umweltverschmutzung; die Überausbeutung von Land und Menschen und die Entwicklung dessen, was manche fälschlicherweise als Neoliberalismus bezeichnen, obwohl es sich dabei um eine Neoökonomie ohne politisches Denken und ohne Tugenden handelt, die nicht von einer lokal verankerten Bourgeoisie, sondern von einer Art internationaler Geldoligarchie entwickelt wird, die sich von den Menschen entfernt hat, ihre tatsächlichen Bedürfnisse ignoriert und sich an einer Technik berauscht, die sie selbst kaum beherrscht, die sie aber durchsetzen will, um daraus über die Staaten hinweg ein Vermögen zu machen. Diese Oligarchie ist nicht geneigt, sich eine Transzendenz vorzustellen, die von Natur aus über ihr steht. Ihre erste «Tugend» ist das Geld, eine universelle Quelle der Macht und damit der Kriege, sowohl der zivilen als auch der militärischen.

«Das Bürgertum, das immer mehr in Verruf gerät, hat viel

Einfluss verloren. Es wird für alle Übel der heutigen Welt verantwortlich gemacht.»

Es ist unerlässlich, die sogenannten bürgerlichen Tugenden wiederzubeleben; sie sind universell und ihre Ausübung ist nicht nur vollkommen mit der Moderne vereinbar, sondern, was noch besser ist, in der Lage, den Frieden und den Wohlstand jeder Gesellschaft zu fördern.

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