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La Suisse n’existe plus
Nicolas Jutzet, zvg.

La Suisse n’existe plus

Zumindest nicht die Schweiz, wie wir sie uns vorstellen und sie schätzen. Höchste Zeit, aus der Lethargie aufzuwachen und das Erfolgsmodell wiederzubeleben.

Im Jahr 1992 löste der Künstler Ben Vautier am Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla eine Polemik mit seinem Gemälde aus, auf dem zu lesen war: «Suiza no existe» – «Die Schweiz existiert nicht». Die Frage, die sich heute stellt, ist nicht so sehr, ob die Schweiz existiert, sondern vielmehr, ob unsere Vorstellung von ihr noch der Realität entspricht. Gibt es die Schweiz wirklich noch, die wir schätzen und im Ausland gerne als Land des Föderalismus präsentieren, die auf dem Milizsystem basiert, mit Institutionen, die das Privateigentum schützen, die soziale Mobilität über ihr duales Ausbildungssystem fördern? Es kommen Zweifel auf, denn es hat sich eine Kluft aufgetan zwischen unseren Mythen und der Realität. Oberflächlich betrachtet deutet alles darauf hin, dass es uns gut geht. Doch schaut man genauer hin, wird schnell klar, dass sich die Schweiz seit Beginn des 21. Jahrhunderts auf ihren Errungenschaften ausruht und ihren Vorsprung einbüsst.

Es mag auf einen ersten Blick gewagt erscheinen, sich über die Situation eines Landes Sorgen zu machen, das in internationalen Rankings regelmässig die ersten Plätze belegt. Wir können feststellen: Der Schweiz geht es gut. Müssten wir eine Zeit wählen, in der wir geboren werden, würden wir uns sicher für die heutige entscheiden. Was zählt, ist jedoch nicht die Momentaufnahme, sondern die Dynamik. Befasst man sich genauer mit der Situation der Schweiz, bekommt das Bild eines Paradieses Risse und enthüllt eine ­andere Realität – die einer Schweiz, die ihren Vorsprung ­dahinschmelzen sieht, einer Schweiz, die Gefahr läuft, als Gegenmodell zum Rest der Welt zu verschwinden. Weil sie die Gründe für ihren Erfolg nicht zu schätzen weiss und nicht gewillt ist, diesen Erfolg fortzusetzen.

Reformen haben Seltenheitswert

Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts sind politische Reformen eine Ausnahmeerscheinung. Sie gelingen, wenn der Druck, der meistens von aussen kommt, zu stark wird. Die Einführung der Schuldenbremse ist die einzige nennenswerte positive Reform. Ansonsten schwächen die «Reformen» in vielen Fällen das Schweizer Modell, anstatt es zu stärken. Dies galt beispielsweise für das Ende des Bankgeheimnisses 2009 oder die Abschaffung der attraktiven Steuerregelungen für grosse multinationale Unternehmen, welche die Schweiz 2023 auf Druck der OECD aufgegeben hat.

Dieser abwartende Ansatz hat konkrete Folgen. Das Schweizer Rentensystem, das auf drei sich ergänzenden Säulen beruht, galt zu Beginn des 21. Jahrhunderts als internationales Vorbild. Seither ist es im Global Pension Index von Mercer und dem CFA Institute, der unter anderem die langfristige Tragfähigkeit berücksichtigt, immer weiter zurückgefallen. Aufgrund fehlender Reformen ist die Schweiz von einem Vorzeigemodell zu einem nur noch knapp überdurchschnittlichen Land geworden.

Im Gesundheitssektor werden keine ernsthaften Reformen angepackt, obwohl die Ausgaben stetig ansteigen. 1970 machten die Gesundheitskosten 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, 1994 waren es schon über 8 und 2020 fast 12 Prozent. Auch wenn man glaubt, die Gesundheit habe keinen Preis, ist sie doch mit Kosten verbunden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns daran gewöhnen, Massnahmen nach ihrer Umsetzung und nicht nach ihren «guten» Absichten zu beurteilen.

Schliesslich steht auch die Europapolitik still, nachdem das falsch konstruierte Rahmenabkommen gescheitert ist. Indirekt ist der Misserfolg dieses Dossiers ein perfektes Beispiel für unser generelles Problem, das uns bei der Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft begleiten wird, wenn wir sie nicht klar benennen: Wir wissen nicht, was wir wollen, und weigern uns zuzugeben, dass diese Unentschlossenheit mit Kosten verbunden ist. Während die Schweiz stagniert und sich damit zufrieden gibt, die Überschüsse ihres Wohlstands zu verteilen, bereiten sich andere Regionen akribisch auf die Zukunft vor. Unsere Unbeweglichkeit hat mehrere Quellen; die bedeutendste ist die naive und ahistorische Überzeugung, dass, da bisher immer alles gut für uns gelaufen ist, auch in Zukunft alles gut laufen werde. Und dass es in der Schweiz zwar kleine Verschlechterungen gibt, aber dass es anderswo noch viel schlimmer sei …

Die grosse Entfremdung

Die Lethargie der Schweiz ist auch darauf zurückzuführen, dass sich Wirtschaft, Politik und Bevölkerung seit den 1990er-Jahren auseinanderentwickelt haben. Die Wirtschaft hat sich weitgehend internationalisiert. Vor allem in grossen Unternehmen ist das Verständnis für die schweizerischen Eigenheiten weniger verbreitet. Die Politik ihrerseits hat sich professionalisiert und sich vom Milizsystem verabschiedet. Während sich 1975 nur 27 Prozent der Parlamentarier als professionelle Politiker bezeichneten, nähert sich diese Zahl heute zwei Dritteln. Als direkte Folge dieser Professionalisierung der Politik ist eine schleichende Zentralisierung der Aufgaben zu beobachten, die eine Ausdünnung des Föderalismus zur Folge hat. Um die Lücke zu füllen, die durch die Entfremdung zwischen Wirtschaft, Politik und Bevölkerung entstanden ist, nimmt der Staat mehr Raum ein. Infolgedessen explodieren Bürokratie und Staatsausgaben.

Die Erosion des Milizsystems betrifft nicht nur die nationale Politik, sondern generell die Bereitschaft, sich ehrenamtlich für das Gemeinschaftsleben einzusetzen. Zwar ist das Engagement im internationalen Vergleich immer noch hoch – fast jeder dritte Einwohner über 15 Jahren setzt einen Teil seiner Zeit für die Gemeinschaft ein –, aber es nimmt ab. Ende der 1990er-Jahre engagierten sich noch fast 50 Prozent der Bevölkerung. Diese Entwicklung ist in mehrfacher Hinsicht besorgniserregend. In Demokratien, die sich auf das Miliz­engagement der Bürger verlassen können, sind die Staatsquote und die Bürokratie geringer als in repräsentativen Systemen, und die Bürger sind zufriedener mit ihrem Leben. Der Rückgang des Milizengagements offenbart uns eine Freiheitsmüdigkeit, die den Wunsch hervorruft, Verantwortung abzugeben und auf andere zu übertragen.

«Der Rückgang des Milizengagements offenbart uns

eine Freiheits­müdigkeit.»

Falsche Selbstwahrnehmung

Diese verschiedenen Elemente zeigen uns, dass die Schweiz, von der wir in vielerlei Hinsicht schwärmen, in Wirklichkeit nicht mehr existiert. Unsere Selbstwahrnehmung stimmt nicht mit der Realität überein. Was auf individueller Ebene problematisch ist, ist es auch auf nationaler. Unsere Mythen werden kontraproduktiv, da sie dem notwendigen Aufschwung im Weg stehen. Nur wenn wir diese Diskrepanz zur Realität thematisieren, können wir Gegenmittel für unsere Lethargie finden.

Eine erste konkrete Massnahme wäre, die Ursachen der Zentralisierung anzupacken. In vielen Gemeinden sind 80 Prozent der Ausgaben oder mehr gebunden. Um dem Desinteresse an der kommunalen und kantonalen Politik entgegenzuwirken, muss es wieder möglich werden, auf diesen Ebenen mehr Einfluss zu haben. Dazu sollten Kompetenzen vom Bund auf die Kantone und Gemeinden übertragen und die Konkurrenz zwischen den Kantonen gestärkt werden. Der Finanzausgleich in seiner derzeitigen Form verfehlt sein Ziel, da er verantwortungsbewusste Kantone nicht dazu anregt, ihre Attraktivität weiter zu verbessern, und die schlechten Schüler zur Stagnation verleitet. Das über die Subventionen zwischen den Kantonen zu erreichende Umverteilungsziel muss daher nach unten korrigiert werden.

Ein zweites Element, das einen Paradigmenwechsel herbeiführen könnte, ist die Wiedereinführung des Losverfahrens im politischen Prozess. Das Losverfahren hat eine lange Tradition in der Schweizer Politik. Es wurde bis ins 19. Jahrhundert häufig eingesetzt, um die Macht besser zu verteilen. Heute wäre der Vorteil des Losverfahrens im Wahlprozess auf Bundesebene, jede Aussicht auf eine Karriere in der nationalen Politik zu verunmöglichen und damit die Professionalisierung zurückzudrehen. Mit einer Dosis Losverfahren würde der Wahlprozess mehrheitlich weiterhin so ablaufen wie bisher: Parteien stellen Listen auf und entscheiden, welche Kandidaten darauf stehen. Aber sobald gewählt wurde und feststeht, wie viele Sitze eine Liste erhält, würde neu innerhalb der Liste ausgelost, wer die Sitze erhält. Auf diese Weise würde das politische Personal regelmässig erneuert. Die Politik wäre somit wieder ein Abschnitt im Leben und keine Karriere. Dadurch würde der Anreiz für Wahlgeschenke in Form von Subventionen entfallen, da eine Wiederwahl nicht planbar wäre.

Massnahmen wie diese würden den Kantonen wieder mehr Macht verleihen und der Dynamik der Zentrali­sierung entgegenwirken. Halten wir die Erosion unseres Erfolgsmodells nicht auf, werden wir den Anschluss verlieren und die Schweiz wird zu einem banalen Land unter vielen anderen.

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