
La Suisse n’existe plus
Zumindest nicht die Schweiz, wie wir sie uns vorstellen und sie schätzen. Höchste Zeit, aus der Lethargie aufzuwachen und das Erfolgsmodell wiederzubeleben.
Im Jahr 1992 löste der Künstler Ben Vautier am Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla eine Polemik mit seinem Gemälde aus, auf dem zu lesen war: «Suiza no existe» – «Die Schweiz existiert nicht». Die Frage, die sich heute stellt, ist nicht so sehr, ob die Schweiz existiert, sondern vielmehr, ob unsere Vorstellung von ihr noch der Realität entspricht. Gibt es die Schweiz wirklich noch, die wir schätzen und im Ausland gerne als Land des Föderalismus präsentieren, die auf dem Milizsystem basiert, mit Institutionen, die das Privateigentum schützen, die soziale Mobilität über ihr duales Ausbildungssystem fördern? Es kommen Zweifel auf, denn es hat sich eine Kluft aufgetan zwischen unseren Mythen und der Realität. Oberflächlich betrachtet deutet alles darauf hin, dass es uns gut geht. Doch schaut man genauer hin, wird schnell klar, dass sich die Schweiz seit Beginn des 21. Jahrhunderts auf ihren Errungenschaften ausruht und ihren Vorsprung einbüsst.
Es mag auf einen ersten Blick gewagt erscheinen, sich über die Situation eines Landes Sorgen zu machen, das in internationalen Rankings regelmässig die ersten Plätze belegt. Wir können feststellen: Der Schweiz geht es gut. Müssten wir eine Zeit wählen, in der wir geboren werden, würden wir uns sicher für die heutige entscheiden. Was zählt, ist jedoch nicht die Momentaufnahme, sondern die Dynamik. Befasst man sich genauer mit der Situation der Schweiz, bekommt das Bild eines Paradieses Risse und enthüllt eine andere Realität – die einer Schweiz, die ihren Vorsprung dahinschmelzen sieht, einer Schweiz, die Gefahr läuft, als Gegenmodell zum Rest der Welt zu verschwinden. Weil sie die Gründe für ihren Erfolg nicht zu schätzen weiss und nicht gewillt ist, diesen Erfolg fortzusetzen.
Reformen haben Seltenheitswert
Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts sind politische Reformen eine Ausnahmeerscheinung. Sie gelingen, wenn der Druck, der meistens von aussen kommt, zu stark wird. Die Einführung der Schuldenbremse ist die einzige nennenswerte positive Reform. Ansonsten schwächen die «Reformen» in vielen Fällen das Schweizer Modell, anstatt es zu stärken. Dies galt beispielsweise für das Ende des Bankgeheimnisses 2009 oder die Abschaffung der attraktiven Steuerregelungen für grosse multinationale Unternehmen, welche die Schweiz 2023 auf Druck der OECD aufgegeben hat.
Dieser abwartende Ansatz hat konkrete Folgen. Das Schweizer Rentensystem, das auf drei sich ergänzenden Säulen beruht, galt zu Beginn des 21. Jahrhunderts als internationales Vorbild. Seither ist es im Global Pension Index von Mercer und dem CFA Institute, der unter anderem die langfristige Tragfähigkeit berücksichtigt, immer weiter zurückgefallen. Aufgrund fehlender Reformen ist die Schweiz von einem Vorzeigemodell zu einem nur noch knapp überdurchschnittlichen Land geworden.
Im Gesundheitssektor werden keine ernsthaften Reformen angepackt, obwohl die Ausgaben stetig ansteigen. 1970 machten die Gesundheitskosten 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, 1994 waren es schon über 8 und 2020 fast 12 Prozent. Auch wenn man glaubt, die Gesundheit habe keinen Preis, ist sie doch mit Kosten verbunden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns daran gewöhnen, Massnahmen nach ihrer Umsetzung und nicht nach ihren «guten» Absichten zu beurteilen.
Schliesslich steht auch die Europapolitik still, nachdem das falsch konstruierte Rahmenabkommen gescheitert ist. Indirekt ist der Misserfolg dieses Dossiers ein perfektes Beispiel für unser generelles Problem, das uns bei der Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft begleiten wird, wenn wir sie nicht klar benennen: Wir wissen nicht, was wir wollen, und weigern uns zuzugeben, dass diese Unentschlossenheit mit Kosten verbunden ist. Während die Schweiz stagniert und sich damit zufrieden gibt, die Überschüsse ihres Wohlstands zu verteilen, bereiten sich andere Regionen akribisch auf die Zukunft vor. Unsere Unbeweglichkeit hat mehrere Quellen; die bedeutendste ist die naive und ahistorische Überzeugung, dass, da bisher immer alles gut für uns gelaufen ist, auch in Zukunft alles gut…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1110 – Oktober 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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