(5) Visionen einer innovativen Kulturpolitik
Kulturförderung hat die Aufgabe, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich das kritische Potential der Kultur entfalten kann.
Was muss Kulturpolitik leisten? Das Thema «Visionen für eine innovative Kulturpolitik» ist nicht ganz ungefährlich. Denn erstens sind Begriffe wie «Innovation» und «Vision» zwar voll im Trend. Das macht sie aber nicht besser. Und zweitens soll hier in nur wenigen Sätzen erklärt werden, wohin sich die aktuelle Kulturpolitik in der Schweiz bewegen soll.
Im Kanton Basel-Stadt sind die Pro-Kopf-Ausgaben für Kultur vorbildlich hoch. Würden sich die anderen Kantone daran ein Beispiel nehmen, gäbe es für die Kulturförderung fast keine Probleme mehr. Aber beruht eine visionäre Kulturpolitik wirklich nur auf «genug Geld»?
Dank prestigeträchtigem Sponsoring bringen Kulturinstitutionen heute Produkte auf den Markt, die eher der grassierenden «Eventitis» als einer visionären Kulturförderung zuzuordnen sind. Die «Art Basel Miami» oder der «Zürcher Opernball» sind Beispiele dafür, wie sich Kunst und Kommerz vereinen. Das Publikum mag solche glamourösen Anlässe, die mit Kultur gewürzt sind: wer wann auf welcher Party mit wem gesehen wurde, wird intensiver diskutiert als die Kunst. Das ist zwar nicht weiter schlimm, geht jedoch an der Tiefe der Frage vorbei.
Innovative Kulturpolitik beschäftigt sich nicht nur mit dem Produkt, mit Aufführungen, Ausstellungen oder Konzerten beispielsweise. Sie thematisiert den dahinter stehenden Denkprozess. Kulturförderung muss dafür sorgen, dass auch das kritische Potential der Kultur zum Ausdruck kommt. Wer Kultur lediglich als Standortfaktor oder als Exportschlager versteht, wird ihrem Wesen nicht gerecht. Für alle, die an einem kritischen Kulturbegriff festhalten, ist und bleibt Kulturförderung ein Wagnis, bei dem es letztlich um mehr geht als nur um das Endresultat. Kulturförderung ist aus dieser Perspektive mehr als die Unterstützung einer Ausstellung oder eines Konzerts. Es geht um die Auseinandersetzung darüber, was Kultur in der Gesellschaft leisten soll. Ein künstlerisches Projekt kann sehr wohl nahtlos in ein sozialpolitisches oder ökologisches Projekt münden. Ein solches Kulturverständnis erfordert geistige Beweglichkeit und zwar nicht nur bei den Kulturschaffenden, sondern auch bei den Kulturpolitikerinnen und -politikern und bei den Kulturkonsumierenden.
Wie Claude Lévi-Strauss in «Das Rohe und das Gekochte» ausführt, unterscheidet die Fähigkeit des Reflektierens den Menschen vom Tier. Kultur bildet eine existentielle Grundkonstante im Leben der Menschen. Aus dieser Sicht hat auch Kulturförderung in erster Linie mit Denken und mit Fragen zu tun. So sollte es zumindest sein. Doch was heisst das konkret?
Dazu ein persönliches Beispiel. Ende der achtziger Jahre hatte ich zusammen mit meinem Studienkollegen Philip Ursprung die Idee, einen Ausstellungsraum als Jungkuratorenwiese, als Feldversuch sozusagen, bespielen zu wollen. Wir wohnten damals beide in Genf und machten uns auf die Suche nach einem Ort, der uns Raum für unsere Ideen bieten sollte. Dieser Ort war dann Liestal, von dem wir kaum mehr wussten, als dass es sich um die Hauptstadt des Kantons Basel-Landschaft handelte. Die zu bespielenden Räume waren wunderbar. Geld gab es vorerst kaum, daher improvisierten wir. Solange, bis uns die Leute am Ort unterstützten. Wir wollten unsere Ideen umsetzen, nicht Subventionen abholen. Doch es war gut zu sehen, wie Kulturpolitikerinnen und -politiker erkannten, dass neue Ideen zwar Risiken bergen, aber förderungswürdig sind. Nicht die Liestaler haben es uns in erster Linie gedankt, sondern das nationale, internationale, am Experiment interessierte Publikum. Diese Erfahrung hat mich geprägt: es genügt nicht zu warten, bis sich die Dinge bewegen; man muss Chancen erkennen und ergreifen, aber auch Kritik und Selbstkritik als ständige Begleiter akzeptieren. Dinge, die mich auch heute leiten, wenn ich die Förderstrategie des Migros-Kulturprozents massgeblich mitgestalte.
Risiko muss möglich sein, und darum darf es auch in der Kulturpolitik, wo Steuergelder investiert werden, keine Scheuklappen geben. Auch dort braucht es den Mut, Unmögliches zu ermöglichen und die Bereitschaft, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Wer Kultur nur produktbezogen fördert und nur um der Repräsentation willen unterstützt, würgt letzten Endes ihre Entwicklung ab. Denn die zentrale Absicht kultureller Tätigkeit besteht in der Wirkung auf sie selbst: als interpretierendes Fortschreiben oder als Verändern des Bestehenden. Egal ob bildende Kunst, Musik, Theater oder Literatur – nachhaltig wirksam sind diejenigen Projekte, die das eigene Medium, die Kultur und dadurch die Gesellschaft, ja die Welt in Frage stellen und sie deshalb weiterbringen.
Die Schweiz braucht eine innovative und nachhaltige Kulturpolitik . Doch wie schafft das ein föderalistisch organisiertes Land, dessen Kulturhoheit bei den Gemeinden liegt? Wir sollten vor der Komplexität der Aufgabe nicht erschrecken, sondern einfache Fragen stellen.
Erstens: Was brauchen wir? Mut zur Vision, Verbündete, die mit uns am gleichen Strick ziehen, einen langen Atem und Beharrlichkeit, um die Visionen umsetzen zu können. Das bedingt Gesprächsfreude, die Lust an der Auseinandersetzung, aber auch den Mut zum Dissens. Kulturförderung braucht Persönlichkeiten, die Dinge dann anpacken, wenn sie noch nicht konsensfähig sind. Dazu brauchen wir die Stimme der Kulturschaffenden, als Einmischung, nicht als Echoraum. Die Angst vor Disharmonie ist die grösste Gefahr für eine innovative Kulturpolitik. Und sie ist die beste Garantie, um in ein mutloses Technokratentum, in die stete Wiederholung des Bewährten abzugleiten.
Zweitens: Was ist zu tun? Einerseits sind die Kräfte zu bündeln. Schon längst wird in den Regionen grenzüberschreitend Kultur «gemacht». Kultur hält sich nicht an Kantonsgrenzen. Anderseits braucht es eine klare Aufgabenteilung. Der Staat stellt die Grundversorgung zur Verfügung. Museen vermitteln, sammeln, bewahren und forschen. Nicht alle diese Aufgaben lassen sich mit Sponsoring finanzieren. Sponsoring finanziert höchstens die «Kür»; die «Pflicht» zu erfüllen, obliegt dem Staat. Private Förderer, Stiftungen oder eben das Migros-Kulturprozent sind dazu da, Impulse zu geben und Lücken zu schliessen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Vor sechs Jahren eröffnete das Migros-Kulturprozent ein Kulturbüro in Zürich, ein niederschwelliges, praktisches Angebot für angehende Kunstschaffende. Wir finanzieren das Zürcher Büro allein, da niemand es unterstützen wollte. Zwei Jahre später eröffneten wir zusammen mit der Stadt Bern ein Kulturbüro. Das Zürcher Modell hat den Bernern gezeigt, wie sinnvoll das Angebot für Kulturschaffende am Anfang ihrer Karriere ist. Und diesen Juni eröffnen wir ein Kulturbüro in Genf, als perfekte public private partnership paritätisch finanziert von Stadt, Kanton, Loterie Romande und Migros Kulturprozent. Es geht eben doch.
Drittens: Welche Ziele verfolgen wir? Nur eine Kulturpolitik, die sich auch um Inhalte und nicht nur um Strukturen kümmert, wird nachhaltig wirken. Also steht am Anfang einer innovativen Kulturpolitik die Vision – die Frage nach den Inhalten. Die Diskussion um Strukturen und Ressourcen folgt dann früh genug nach. Wir brauchen in erster Linie Inhalte, die zum Nachdenken anregen. Und die verlangen nach ihrer eigenen Sprache. Die Sprache der Ökonomie und des Marketings zu übernehmen, wie es heute unter Kulturschaffenden und -förderern üblich ist, genügt nicht. Kommt es zu keiner Verständigung, muss das ausgehalten werden können. Sonst droht der Primat der Ökonomie über die Inhalte.
Ich plädiere also für eine Kulturpolitik, die am courant normal vorbei über den Gartenhag hinaus denkt, den Kantönligeist ignoriert und die ewigen Zauderer eines besseren belehrt. Doch was unternehmen wir beim Migros-Kulturprozent Visionäres? Auch wir tun uns schwer, Projekte abzuschaffen, die seit Jahren erfolgreich sind, beim Publikum wie bei den Kunstschaffenden. In diesem Jahr feiern wir eine schöne Anzahl von Jubiläen: 2006 zum zehnten Mal «Steps» und zehn Jahre Migrosmuseum, 2007 fünfzig Jahre Kulturprozent, 2008 zehn Jahre Kulturbüro und sechzig Jahre Klubhauskonzerte. Diese Jubiläen können wir nur feiern, weil von diesen Projekten immer noch Impulse ausgehen. Weil die Menschen, mit denen wir unsere Projekte gestalten, die Kraft haben und die Lust aufbringen, Bestehendes in Frage zu stellen und Neuem mit offenen Augen und Ohren zu begegnen. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen für das Wichtigste an der Kulturförderung, für den Denkprozess, für den Dialog mit dem Publikum und mit den Kulturschaffenden und für die Vernetzung mit anderen Förderern und Vermittlern.
Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung eines Vortrags, der im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Musik muss sein, Musik macht Staat», organisiert vom Schweizer Fernsehen und von der Pro Helvetia, am 8. April 2006 im Theater Basel gehalten wurde.