
Eine Generation verkümmert
Immer mehr Jugendliche werden wegen psychischer Störungen hospitalisiert. Oft leiden sie aber nicht an einer Depression, sondern an Beziehungsverarmung.
Die 18jährige Sabine lebt bei ihrer Mutter und hat in der Coronazeit eine KV-Lehre begonnen. Nun sitzt sie ihrem Hausarzt gegenüber und bittet um eine Krankschreibung. Sie könne nicht mehr schlafen und sei daher ständig müde. Sie müsse häufig weinen, könne sich bei der Arbeit nicht konzentrieren und sich über nichts mehr freuen. Sie sei am Ende ihrer Kräfte und denke oft, es wäre besser, sie würde nicht mehr leben. Der Hausarzt schreibt Sabine krank und schickt sie mit Verdacht auf eine Depression in die Psychotherapie.
Gegenüber dem Therapeuten erklärt Sabine, dass der Lehrbeginn im Homeoffice für sie sehr schwierig gewesen sei. Sie sei im Lehrbetrieb nie richtig angekommen. Die langen Arbeitstage setzten ihr zu, weshalb sie oft Kopfschmerzen habe und die Mutter sie von der Arbeit abholen müsse. Werde sie vom Chef kritisiert, müsse sie weinen und könne sich nicht mehr konzentrieren. Die Arbeitskolleginnen redeten hinter ihrem Rücken über sie und mobbten sie zunehmend. Sie könne nicht mehr dorthin zurückgehen und habe daher in Absprache mit ihrer Mutter beschlossen, die Lehre abzubrechen.
Seit dieser Entscheidung fühle sie sich wieder superfit und glücklich. Das Ausschlafen tue ihr gut. Tagsüber treffe sie Kollegen, die in einer ähnlichen Situation seien wie sie. Sie habe auch schon eine neue Beschäftigung gefunden, wenn auch noch unbezahlt. Als Assistant Promoterin organisiere sie Partys, sei verantwortlich für das Booking von DJs und verbinde sich über Instagram und Snapchat mit Followern. Diese Arbeit mache sie ausschliesslich online, was ihre Mutter etwas irritiere. Aber letztlich sei für Mama das Wichtigste, dass sie wieder glücklich sei.
Flucht in den Hedonismus
Während dem Therapeuten die Nachhaltigkeit von Sabines neuer Beschäftigung verschlossen bleibt, zeigt der Fall ein vertrautes Muster, das sich in der Statistik widerspiegelt: In der Schweiz brechen so viele Jugendliche die Lehre ab wie noch nie, nämlich jeder fünfte Lehrling, was einer Quote von 22,4 Prozent entspricht. Die meisten Abbrüche gibt es in den Sparten Friseurgewerbe und Schönheitspflege, die wenigsten in der Forstwirtschaft.
Unsere Gesellschaft ist mit einer wachsenden Gruppe von Jugendlichen konfrontiert, die mit den Anforderungen des Lebens offenbar nicht mehr zurechtkommen. Sie leben in einer Parallelwelt, entwickeln keine Ressourcen und entsprechende Lebenstüchtigkeit. Es mangelt ihnen an Durchhaltevermögen und Belastbarkeit. Sie fallen durch eine tiefe Frustrationstoleranz auf bei gleichzeitig hohen und realitätsfremden Erwartungen. In einer Situation der Haltlosigkeit ist ein hedonistischer Lebensstil der einzige Orientierungspunkt. Was vordergründig als Depression erscheint, verflüchtigt sich schlagartig, wenn sich diese Jugendlichen in ihre Sandkastenwelt zurückziehen und dabei nicht gestört werden. Symptomatisch dafür ist die Antwort von Sabine auf die Frage des Therapeuten, was passieren müsste, damit es ihr wieder so schlecht ginge wie vor zwei Wochen: «Wenn ich daran gehindert werde, das zu tun, was mir guttut.»
«Was vordergründig als Depression erscheint, verflüchtigt sich
schlagartig, wenn sich diese Jugendlichen in ihre Sandkastenwelt
zurückziehen und dabei nicht gestört werden.»
Im vergangenen Jahr wurde in der Schweiz bei den jungen Frauen zwischen 10 und 24 Jahren ein beispielloser Anstieg der Hospitalisierungen wegen psychischer Störungen um 26 Prozent verzeichnet. In der Praxis zeigt sich aber, dass Jugendliche wie Sabine nicht an einer Depression leiden, sondern an einer chronischen, generalisierten Anpassungsstörung. Diese Störung ist in den diagnostischen Manualen weder erfasst noch ist ein entsprechender Behandlungsansatz etabliert. Im eklektischen Vorgehen fungieren die Psychotherapeuten als Ersatzeltern. Auf der Grundlage einer vertrauensvollen Beziehung ist im besten Fall eine Form von Nacherziehung im Sinne einer Konfrontation mit der Realität möglich. Für genuin adoleszententypische Probleme, zum Beispiel Störungen der Geschlechtsidentität oder Probleme mit dem körperlichen Erscheinungsbild, haben die Endokrinologie und plastische Chirurgie die Psychotherapie abgelöst.
Wir sind mit der Verkümmerung einer ganzen…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1111 – November 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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