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(2) Kultur und die Grenzen der Marktlogik

Die Künste wie die Kultur insgesamt funktionieren nach einer Logik, die derjenigen des Marktes und auch der Politik entgegensteht. Sie sind auf einen eigenständigen Bereich angewiesen.

Die seit dem frühen Beginn der Moderne in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung löste den Menschen aus einem hilfreichen sozialen Bezugsrahmen heraus und zwang ihn so zu zunehmender Selbstreflexion. Die Frage, woher der Mensch Orientierung für sein Leben und Massstäbe zur Bewertung seiner selbst beziehen könne, gewann an Relevanz. Der kanadische Philosoph Charles Taylor nennt daher den Menschen «das sich dauernd selbst reflektierende Tier». Der Diskurs der Moderne ist entschieden ein Kulturdiskurs, und dieser Kulturdiskurs ist im wesentlichen ein Diskurs der Kritik der Moderne.

Dass Rousseau die Frage der Akademie von Dijon verneinte, ob denn die Verbesserung der Wissenschaften auch zu einer Verbesserung der Sitten geführt hätte , wirkte wie ein Paukenschlag. Kant griff diese kritischen Äusserungen zur Moderne auf; in der Romantik entwickelte sich eine umfassende gesellschaftliche und künstlerische Gegenbewegung gegen die Vorstellungen der Aufklärung. Grosse Philosophen des 19. Jahrhunderts, wie Schopenhauer, Nietzsche oder Marx, arbeiteten sich an der Frustration allzu optimistischer Zukunftserwartungen ab. Im 20. Jahrhundert sprach der Soziologe Simmel von der Tragödie der Kultur, Freud schrieb über das Unbehagen, in amerikanischen Texten tauchte die Rede vom homeless mind auf, und Spengler sprengte alle Verkaufsrekorde mit einer Arbeit über den Untergang des Abendlandes. Der Mensch der Moderne ist offensichtlich ein höchst bedauernswertes Geschöpf, das, für Sinngebung und Orientierung, auf Kultur mehr denn je angewiesen ist.

«Künste» werden erst in jüngerer Zeit als Bestandteil eines autonomen Kulturbereichs wahrgenommen. Kant, der als Erfinder der Kunstautonomie gilt, beschreibt in seiner 1790 erschienen «Kritik der Urteilskraft» das freie Spiel der Erkenntniskräfte. «Freies Spiel» bedeutet für ihn, dass die unterschiedlichen Vermögen, die der Mensch hat, ohne äussere Sachzwänge zueinander in Beziehung treten können. Friedrich Schiller, ein glühender Anhänger von Kant, hat diese philosophische Konstruktion ins Politische gewendet. Insbesondere in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung entwickelt er die Utopie, dass ein Umgang mit autonomen Künsten den Menschen zu einem politischen Bürger zu machen vermöge. Die Idee ist sehr plausibel: ein Mensch, der im zweckfreien Raum in seiner ästhetisch-künstlerischen Praxis Freiheit erlebt hat, kommt derart auf den Appetit, dass er diese Freiheit gerne auch auf politische und gesellschaftliche Verhältnisse übertragen möchte.

Ein weiterer Beleg für die Relevanz der Kultur findet sich in einem völlig andern Zusammenhang, im heute so aktuellen Bereich der Neurowissenschaften. Am Lissaboner «Weltkongress zur künstlerischen Bildung» im März dieses Jahres erklärte etwa der Neurowissenschafter Antonio Damasio, wie das menschliche Gehirn in zwei unterschiedlichen Bereichen arbeitet – vergleichsweise schnell im Kognitiven, wodurch wir in der Lage sind, in immer kürzerer Zeit immer wichtigere Erfindungen zu machen, vergleichsweise langsam jedoch, wenn es um die moralische Bewertung dieser Erfindungen geht. Die Diskrepanz wird dadurch weiter verschärft, dass im herkömmlichen Bildungswesen diese beiden Hirnbereiche auch noch unterschiedlich gefördert werden. Die Grundbotschaft von Damasio lautete: Wenn es uns nicht gelingt, den moralisch bewertenden Teil des Gehirnes genauso konsequent zu fördern wie den kognitiven Teil, wird der Erfindungsreichtum des Menschen irgendwann einmal ins Destruktive umschlagen und uns umbringen. Die Künste spielen bei der Entwicklung dieser moralischen Bewertungsfähigkeit eine grosse Rolle.

Lässt sich die Logik der Künste mit der Marktlogik verknüpfen? Der Markt ist ein geniales Regulierungsinstrument. Denn trotz dem etwa hundertjährigen Feldexperiment in sozialistischen Ländern ist es bislang nicht gelungen, eine auch nur annähernd gleich wirkungsvolle Methode für rationellen Umgang mit knappen Ressourcen zu entwickeln. Es gibt jedoch Probleme, die der Markt nicht lösen kann. Vier davon seien hier stichwortartig hervorgehoben.

Erstens: Damit der Markt funktioniert, braucht er normative Grundlagen, die er nicht selbst hervorbringen kann.

Zweitens: Dagegen neigt der Markt dazu, diese normativen Grundlagen zu zerstören. Das Prinzip der Gewinnorientierung und -maximierung führt dazu, dass die Wettbewerbsteilnehmer nach einer beherrschenden Stellung im Wettbewerb streben,. Das bedeutet, dass im Markt auf Monopole zustrebende Kräfte am Werk sind. Dies wiederum erklärt, warum ausgerechnet besonders wirtschaftsliberal orientierte Länder die schärfsten Anti-Trust-Gesetze erlassen haben. Der Markt funktioniert, so paradox dies klingen mag, nur dann, wenn der Staat ihn gegen die Marktteilnehmer schützt.

Drittens: Der Markt ist immanent expansiv. Ihm ist eine Entwicklungsdynamik eigen, die keine Grenzen kennt. Dies bedeutet insbesondere im Hinblick auf die gesamte Gesellschaft und ihre Subsysteme, dass der Markt dazu tendiert, seine eigenen Funktionsweisen auch auf andere Bereiche auszudehnen, beispielsweise die Politik, die Kultur oder das Soziale. Jedem Bereich entspricht seine eigene Handlungslogik, so dass etwa Politik oder soziales Zusammenleben nicht ausschliesslich nach finanziellen oder Gesichtspunkten der Gewinnmaximierung funktionieren können. Dies gilt in besonderem Mass auch für die Kultur. Denn während in Wirtschaft und Politik relativ rasch Entscheidungen getroffen werden müssen, fällt es der Kultur zu, Entscheidungen auf den Grund zu gehen, sie hinauszuzögern und die bei einer Entscheidung unter den Tisch gefallenen Argumente immer wieder hervorzuholen und auf ihre Relevanz zu prüfen. Während also Schnelligkeit ein wichtiges Merkmal der Politik und des Marktes ist, ist Langsamkeit ein charakteristisches Merkmal des Kulturbereichs. In Übereinstimmung mit dem Neurowissenschafter Damasio lässt sich generell festhalten: nur im Zusammenspiel der beiden Bereiche «Kognition» und «Bewertung» ist Überleben gesichert. Damit der Markt weiterhin mit seiner ihm eigen Marktlogik überleben kann, ist es notwendig, dass es marktfreie Bereiche gibt.

Viertens: Der Markt ist kein Instrument, mit dem sich Gerechtigkeit herstellen lässt. Wegen des Prinzips der Gewinnmaximierung ist Gerechtigkeit keine Kategorie des Marktes. Das wusste bereits Adam Smith, der theoretische Begründer des Marktdenkens, der einige Kapitel seiner grossen Studie über den «Reichtum der Nationen» einer Theorie der öffentlichen Güter gewidmet hat. Öffentliche Güter sind solche, die auch Adam Smith nicht dem Markt unterwerfen wollte, weil es um Dinge geht, die jeder einzelne Mensch unabhängig von seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit braucht.

Zwischen den Funktionsarten von Kultur einerseits und Markt bzw. Politik andererseits gibt es Berührungspunkte und Überschneidungen. Es gibt Kunst- und Kulturmärkte im Bereich des Films, der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik. Auch diese speziellen Märkte werden von der Marktlogik gefährdet, weil diese die Vielfalt der Angebote und der kulturellen Ausdrucksformen vernichtet. Von Anhängern des Wirtschaftsliberalismus in Grossbritannien und in den USA wird zwar diese These bestritten. Sie lässt sich jedoch empirisch belegen. Im Zusammenhang mit der UNO-Konvention zur kulturellen Vielfalt gibt es etwa Studien, die zeigen, dass das zentrale Entwicklungsgesetz des Marktes, nämlich der Trend zur Monopolbildung, der kulturellen Vielfalt schadet.

Der niederländische Politikwissenschafter Joost Smiers hat in einer aufwendigen empirischen Studie («Arts under Pressure», 2003) viel Material zusammengetragen, das zeigt, wie verheerend die uneingeschränkte Einführung von Markt in Kulturbereiche sich für die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen auswirkt. Dazu zwei Beispiele. Der Filmbereich stürzte in der Türkei völlig ein, als die Regierung alle Schutz- und Fördermassnahmen einstellte. Während früher in der Türkei jährlich etwa 600 Filme produziert worden waren, waren es nach der Marktöffnung nur gerade noch 30. Ähnliches liess sich für den Buchmarkt in Mexiko feststellen, der zusammenbach, als man Schutzmechanismen wie Buchpreisbindung und reduzierte Steuersätze aufgab. Damit sind nicht nur wirtschaftliche Bereiche zerstört worden; man hat gleichzeitig auch den mexikanischen Schriftstellern bzw. den türkischen Filmschaffenden ihre Existenzgrundlage entzogen. In beiden Fällen ist in den betroffenen Ländern eine grosse Fülle von Reflexionsmöglichkeiten vielfältiger Lebenswirklichkeit zum Verschwinden gebracht worden.

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