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Schwierige Literatur mundgerecht gemacht

Können so viele Leser irren? Wenn ein literaturwissenschaftliches Kompendium vier Auflagen erzielt, dann ist dies zunächst einmal alles andere als selbstverständlich. Man wird also davon ausgehen dürfen, dass darin Antworten auf tatsächlich gestellte Fragen gegeben werden. Offenkundig holt der Verfasser, wie man so sagt, seine Leser dort ab, wo sie gern abgeholt werden möchten. Es […]

Können so viele Leser irren? Wenn ein literaturwissenschaftliches Kompendium vier Auflagen erzielt, dann ist dies zunächst einmal alles andere als selbstverständlich. Man wird also davon ausgehen dürfen, dass darin Antworten auf tatsächlich gestellte Fragen gegeben werden. Offenkundig holt der Verfasser, wie man so sagt, seine Leser dort ab, wo sie gern abgeholt werden möchten. Es herrsche, behauptet er dementsprechend, eine profunde Ratlosigkeit angesichts der meist schwerzugänglichen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser Ratlosigkeit wolle er durch sein Handbuch abhelfen. Und so finden sich darin nicht nur zwölf umfassend konzipierte, zentrale Themen und Gattungen ausleuchtende Kapitel, sondern auch zahlreiche Tabellen, in denen die Aussagen prägnant zugespitzt werden, weiterführende Arbeitsaufträge und ein umfangreiches Glossar relevanter Begriffe. Soweit, so nützlich. Dennoch aber bleibt zu fragen, welche Seite hier eigentlich unbedarfter an das Problem der Hermeneutik von Texten herangeht, deren Autoren sich aus unterschiedlichsten Motiven ebendieser Hermeneutik verweigern – die angesprochene Leserschaft oder der Autor selbst.

Können ganze Heerscharen von Germanistikstudenten wirklich so naiv sein zu glauben, per Taschenbuchhandreichung irgendeinen Aufschluss über Hermetiker vom Schlage eines Paul Celan erlangen zu können? Ihnen möchte man raten, mit den Texten schlicht selbst umzugehen, intensiv zu lesen, nachzudenken, kurzum: die Annäherung an ungeheuer fremdartig wirkende Texte als hochkomplexe Herausforderung persönlich anzunehmen. Der Autor hingegen verfolgt ein didaktisches Programm und sieht sich selbst als dessen Vermittler. Zweifellos ist sein Anliegen, die strukturalistische Literatur-interpretation exemplarisch und systematisch darzustellen, ehrenwert, jedoch nicht besonders innovativ. Unter den zahlreichen Möglichkeiten, Literatur zu lesen und zu verstehen, gehört sie lange schon zu den etablierten. Hochgradig ärgerlich sind freilich die von ihm mit diesem Ansatz verknüpften Wertungen. Der übelste aller Feinde scheint dabei die «traditionelle Literatur» zu sein, ist sie doch symptomatisch für das in diesem Band unentwegt implizit als reaktionär befundene bürgerliche Weltbild. Solch arg verengte Tunnelsicht spiegelt sich auch im Urteil über Autoren und deren Werke: Thomas Mann fällt gesinnungsbedingt durchs Raster, und der «Chandos-Brief» Hugo von Hofmannsthals, ein Kerntext der sprachkritischen Moderne, muss von der Brecht-zentrierten Warte des Verfassers her notwendig relativiert werden. Hofmanns-thals subtile «Wendung ins Soziale» will eben so gar nicht in das hier propagierte Schwarzweisschema passen. Im Schlusskapitel werden, überflüssig genug, zehn Kriterien «guter literarischer Texte» definiert. Mit anderen Worten: das Buch endet mit einem reichlich angestaubten Literatur-Katechismus der 68er-Generation: wirklich «gute» Literatur wäre danach allein diejenige, die zur «Gesellschaftskritik» führt. Welch absurde Vorstellung!

Mario Andreotti: «Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik». 4., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 2009

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