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Schuld und Scham

Man tut etwas, von dem man weiss, dass es schieflaufen könnte, macht es trotzdem, es läuft tatsächlich schief – ja, und dann?

Das Scheitern ist zurzeit sehr in Mode. Tech-Unternehmer feiern ihr eigenes Versagen an sogenannten «Fuck-up-Nights», junge Start-up-Gründer werden ermuntert, Fehler als Chance zu sehen, und Menschen, die nach einem Sturz stark wieder aufstehen, werden enthusiastisch beklatscht. Doch das betrifft nur ein Scheitern, das schliesslich doch in eine Erfindung, eine positive Überraschung oder ins Glück mündete. Scheitern, das kapitalisiert oder konstruktiv genutzt wird. Was aber ist mit Fehlentscheiden, die schwerwiegende und irreversible Konsequenzen haben?

Da ist zum Beispiel der Mann, der zu Drogen griff – und bis heute, 28 Jahre später, nicht mehr loslassen kann.

Da ist der Vater mit den zwei Söhnen, die nichts voneinander wissen, weil der eine als Kuckuckskind in einer anderen Familie bei einem anderen Vater aufwächst.

Und da ist der Mann, der einer Sekte beitrat – und 20 Jahre seines Lebens blieb.

Es ist nicht einfach, Menschen zu finden, die über ihre Fehlbarkeiten sprechen. Das weiss ich, seit ich an einem Buch über das Fehlermachen, über die Risiken und Nebenwirkungen des Lebens, schreibe.

Vorsichtige Zwischenbilanz der bisherigen Suche nach Frauen und Männern, die mir ihre Geschichte erzählen: der Weg zu schwerwiegenden Fehlentscheiden ist manchmal erstaunlich banal. «Grobe Fehler werden oft, wie dicke Seile, aus einer Vielzahl dünner Fäden gemacht», schrieb Victor Hugo in «Les misérables». Am Anfang stehen häufig Motive, die urmenschlich sind: Neugierde, Risikofreude, Hunger nach Abenteuer, Langeweile, Gier, Trauer, Unvorsicht.

«Warum haben Sie Heroin genommen?» – «Die Trennung von meiner Freundin, der Jahrtausendwechsel, es war alles zu viel.»

«Warum haben Sie Ihrer Frau nicht von Ihrer schwangeren Affäre erzählt?» – «Ich hatte Angst, dass ich alles verliere.»

«Warum sind Sie einem Kult beigetreten, von dem alle wissen, dass er als Sekte gilt?» – «Weil ich viele Fragen zum Leben hatte und dort Antworten fand.»

Interessant ist in diesen Gesprächen weniger der Fehler an sich, sondern vielmehr, was danach kommt: Wann kommt der Punkt, an dem man entscheidet, Verantwortung zu übernehmen – und wie macht man das, «Verantwortung übernehmen»? Wo immer Psychologen oder Soziologinnen Katastrophen untersucht haben, von Flugzeugabstürzen über Unfälle in Kernkraftwerken bis zum Milliardenbetrug, stellen sie dasselbe fest: Jemand weiss immer Bescheid. Trotzdem unternehmen viele erst mal nichts. Therapeuten, die mit Straftätern arbeiten, wissen, was am Anfang jeder Rehabilitation steht: das Eingeständnis, Fehler gemacht zu haben. Der Verzicht auf Ausreden. Erst dann kann es weitergehen.

Jene Menschen, die mir ihre Geschichte erzählten, sind meist bereits auf diesem Weg – sonst würden sie nicht reden. Sie haben nachgedacht, sich hinterfragt, und in manchen Fällen noch mehr: Schulden abbezahlt, Gefängnisstrafen abgesessen, um Verzeihung gebeten. Viele stehen sogar an einem Punkt, an dem sie in ihrem Fehler durchaus einen Sinn sehen und sagen: Sie hätten daraus gelernt. Fast wie die – jungen Menschen, die auf der Bühne so fröhlich das Scheitern eines Projekts inszenieren: Fehler gemacht, erkannt, Problem gelöst, weiter geht’s! Aber eben nur fast: Betroffene nagen noch lange an ihren Schuldgefühlen und ihrer Scham, die an einem Tag schwächer, am anderen wieder stärker sind.

Denn auch wenn die Start-up-Kultur das Scheitern feiert – ganz so einfach ist es für viele Menschen nicht. Es spricht daraus eine gar unbeschwerte Sichtweise. Es gibt Folgen, die nie wieder gutzumachen sind. Es gibt Entscheide, die ein Leben lang schmerzen.

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