
Der autoritäre Konformismus
Am Wandel des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern seit der Coronakrise zeigt sich, dass Konformismus ein besonderer Autoritarismus ist. Durch ihn macht das Individuum die Zwänge, mit denen es rechnet, zu seiner eigenen Sache. Damit einher geht ein grosser Gedächtnisverlust.
Dank Alfred Andersch, der von 1955 an die Abteilung «Radio-Essay» des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart leitete und Arno Schmidt bewunderte, konnte dieser weitgehend unbekannte, zeitweise mittellos lebende Autor seine literaturkritischen Essays einem breiteren Publikum vorstellen. 1957 sprach er einen Text mit dem Titel «Was bedeutet ‹Konformismus› in der Literatur heute?» ein, der erst posthum 1984 in dem Band «Deutsches Elend» im Haffmans-Verlag im Druck erschienen ist. Darin trifft Schmidt eine Unterscheidung zwischen Konformismus und Uniformität, die er an der Differenz zwischen der Literatur in der Bundesrepublik und der DDR veranschaulicht.
Uniformität ist für Schmidt der Ausdruck einer von strikten staatlichen Direktiven gesteuerten Gesellschaft. Wer gegen die künstlerischen Vorgaben der dekretierten Uniformität verstösst, ist raus: Er wird aus den Schriftsteller- und Künstlerverbänden ausgeschlossen, die nur um den Preis der politischen Gleichschaltung eine halbwegs gesicherte berufliche Existenz gewähren, und seine Bücher verfallen politischer Ächtung. Im Windschatten solcher Uniformität, durch taktische Umgehung der Zensur oder freiwilligen Verzicht auf Renommee, kann aber auch manchmal eine Literatur entstehen, die nicht die Sprache der Uniformen spricht, obwohl sie von ihr gezeichnet bleibt: Das ist die Literatur der Dissidenten.
Konformistische Literatur hingegen ist Schmidt zufolge charakteristisch für im Zerfall begriffene bürgerliche Gesellschaften, die dabei sind, ihre eigenen Kodizes preiszugeben, und deren Vertreter vorwiegend in westlichen Staaten anzutreffen sind. Durch machtbewusste Anschmiegsamkeit wittert der Konformist im voraus, welche Schreibweisen künftig mehrheitsfähig sein werden, und imitiert deren Ton, noch bevor er richtig angeklungen ist. Uniformität besteht, zugespitzt gesagt, in der staatlich angeleiteten Unterwerfung unter den Geschmack des Zentralkomitees, Konformismus hingegen in der vorauseilenden Dienstfertigkeit gewissenloser, zynisch gewordener Demokraten, die mit der ihnen formell gewährten Freiheit nichts anderes mehr anzufangen wissen, als sie preiszugeben. In diesem Sinne und im Unterschied zu Andersch hat sich Schmidt nicht als engagierter Schriftsteller, sondern als Nonkonformist, nicht als politischer Autor, sondern als störrischer Privatmann begriffen. Seine Unterscheidung zwischen Konformismus und Uniformität verweist auf die politische Konstellation des Kalten Krieges. Indem er den Konformismus als «selbstgewählte Uniformität in der Restauration» bezeichnet, verharmlost Schmidt nicht die dekretierte Uniformität in den Staaten des Ostblocks, sondern hält fest, dass das Verhältnis von Freiwilligkeit und Zwang sich in beiden politischen Blöcken jener Epoche verschieden ausgeprägt hat. Weil sie aus freien Stücken handeln und politischen Zwängen nicht einfach nur entsprechen wollen, sondern sie bejahend vorwegnehmen, sind Konformisten flexibler und zugleich weniger berechenbar als überzeugte Anhänger der Uniformität. 1984, als Schmidts Text in Buchform erschien, begann sich bereits abzuzeichnen, dass in diesem Unterschied ein Konkurrenzvorteil des Konformismus gegenüber anderen Spielarten des Autoritarismus besteht.
Der «pandemische Imperativ»
Obwohl es sich bei seinem Radioessay um keinen staatstheoretischen Text handelte, legt Schmidts Unterscheidung zwischen Uniformität und Konformismus angesichts der heutigen historischen Konstellation die Frage nahe, mit welchem der beiden Begriffe sich die überraschend mühelose Adaption der meisten westlichen Staaten und ihrer Bevölkerungen an die Massgaben der Corona-Notstandspolitik besser erklären lässt. Regierungspolitisch wurde die Behauptung der Notwendigkeit einer präzedenzlosen Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte mit einer als verfassungsrechtlich unbedenklich ausgegebenen Kombination der Konzepte von Konformismus und Uniformität legitimiert, die als Ausdruck gelebter Demokratie in der Krise beworben wurde. Als Generalformel hierfür diente der Appell an das vorgeblich vernünftige Eigeninteresse, massenmedial kommuniziert in dem Satz: «Schütze dich und andere!» Die individuellen Freiheitsrechte, die immer auch Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat sind, wurden demnach während des gesundheitspolitischen Notstands nicht etwa zugunsten einer Unterwerfung der Bevölkerungen unter eine gesundheitspolitisch begründete Staatsuniformität aufgehoben, sondern lediglich zugunsten eines freiwilligen aufgeklärten Konformismus temporär hintangestellt. Der Virologe Christian Drosten, der die deutsche Bundesregierung während der Pandemiebekämpfung beraten hat, fasste dies in seiner am 8. November 2020 auf Einladung des Literaturarchivs Marbach gehaltenen Schillerrede mit dem von ihm sogenannten «pandemischen Imperativ»…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1105 – April 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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