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Nacht des Monats mit Nadine Wietlisbach

Nacht des Monats mit Nadine Wietlisbach

Sechs lange Leuchtstoffröhren erhellen den weissen Raum. Ausser einem Holzsteg, auf dem wir sitzen, sind da noch zwei Matratzen, dazwischen eine Reihe Kakteen. Auf einer der Matratzen liegt ein weisser Stein, dahinter, an der Wand, hängt eine Art Dreizack aus Gips. Derartige Gegenstände finden nicht von selbst zueinander, weswegen solche Arrangements sich gern «Kunst» nennen. Und wenn Nadine Wietlisbach neben mir schwärmerisch von «Positionen», von «Diskursen», die «angeregt» werden müssen, dann von «Installationen» und schliesslich vom «Füllhorn kleiner Welten» spricht, so handelt es sich todsicher um zeitgenössisch-bildende Kunst.

Wir sind bei «sic! Raum für Kunst» in Luzern, und die heute 30jährige, die ihre Ausbildung zur Bodenlegerin zwar abschloss, dann aber gegen den Willen ihrer Eltern Kunst studierte, leitet ihn seit sieben Jahren. Als sie fertig ist, platzt es aus mir heraus. «Ich wollte immer mal einer Kuratorin sagen, dass mir diese schnöselig aufgeladenen Kunsteuphemismen ganz furchtbar auf die Nerven gehen. Überall die gleichen wichtigtuerischen Floskeln, das gleiche Gefasel von irgendeiner ‹Notwendigkeit›!» Nadine beginnt laut zu lachen. Und ich bin voll in Fahrt. «Ganz besonders schlimm ist es, wenn es dann noch ‹politisch› wird. Sag mir also bitte nicht, dass dieser Holzsteg» – ich klopfe darauf – «irgendeine Art von kapitalistischer Ausbeutung symbolisiert. Oder die Matratzen dort hinten irgendwas mit Sexismus zu schaffen haben.»

Nadine lacht immer noch. Dann fragt sie leise: «Ist dir aufgefallen, was gerade passiert ist?» Ich ziehe eine Augenbraue hoch. «Du hast assoziiert. Was eben noch zwei Matratzen, einige Kakteen und ein Steg war, hast du für dich neu zusammengesetzt. Vielleicht nicht so, wie von mir als Kuratorin intendiert, aber immerhin: Du hast eine ‹Installation› gesehen, die eine Art ‹Diskurs› mit deinen Erfahrungen ‹angeregt› hat, der sich wiederum der möglichen inhaltlichen ‹Positionen› annimmt…» Ich unterbreche: «…und das alles speiste sich aus dem ‹Füllhorn kleiner Welten› in diesem Raum?»

«Richtig», sagt Nadine. Fair enough. Darauf stossen wir an.

«Aber was ist mit der ‹Notwendigkeit›?», frage ich. «Die», sagt Nadine, «leite ich für mich aus meinem Werdegang ab. Ich war 15, seit wenigen Monaten in Ausbildung zur Bodenlegerin und trug gerade eine dieser blauen Arbeiterlatzhosen. In einer Villa am Zürichberg legten wir Parkett, zwischen Werkzeug und Abdeckplanen hockte ich auf dem Boden und riss den alten Belag heraus. Schmutzig. Staubig. Irgendwann schaute ich auf, bemerkte dieses riesige Bild an der Wand. Ich trat davor, betrachtete es, in der einen Hand einen Hammer, in der anderen die eben abgerissenen Fussleisten. Der Sohn der Zürichberg-Familie kam die Treppe herunter und muss sich gewundert haben, wieso die Göre nicht arbeitet. ‹Was ist das für ein Bild?›, fragte ich. ‹Gertsch!›, hat Lacoste zu mir gesagt. ‹Kennst du den nicht?› Ich schüttelte den Kopf. Und murmelte leise: ‹Aber ich werde ihn kennenlernen!›»

Nadine Wietlisbach kennt sich heute mit Franz Gertschs Werk besser aus als mit Holzleim. Sie füllt ihren Pavillon mit Kunstinteressierten verschiedenster Milieus, kuratiert in der ganzen Schweiz, reiste für Pro Helvetia nach Südafrika und unterrichtet nebenbei auch noch – und ja, für sie mag ihr Versprechen von damals ein Ausdruck von Notwendigkeit gewesen sein. Mir will die Generalisierung aber noch immer nicht einleuchten. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht an die Notwendigkeit vieler Notwendigkeiten glaube. «Vielleicht zerbrichst du dir auch zu sehr den Kopf!?», sagt sie und funkelt mich an. «Für Leute, die die Begeisterung am Kleinen und ‹Brotlosen›, wie mein Vater immer sagte, nicht haben, mag das eigenartig klingen. Aber wer diese Schönheit einmal entdeckt hat, will nicht mehr ohne sie sein. Und er will auch nicht, dass andere ohne sie sind. Deshalb zeige ich sie allen.» «Ha!», rufe ich. «Ich habe es doch gesagt: Kunst hat die Rechtfertigung in Form einer wie auch immer gearteten ‹Notwendigkeit› gar nicht nötig!» Nadine nickt. «Ich habe ja auch nie behauptet, dass sie das hat. Du hast behauptet, jemand behaupte das.» Wir diskutieren noch lange weiter. Ungezwungen, offen, stundenlang. Trinken viel Wein. Im «Raum für Kunst» darf ausnahmsweise sogar geraucht werden. Bis Nadine irgendwann aufsteht und sagt: «Herr Wiederstein, es ist schon fast halb zwölf, dieser Pavillon schliesst jetzt.» – «Ist das nun eine Notwendigkeit?»

«Ja. Zumindest, wenn du deinen letzten Zug nach Zürich nicht verpassen willst.»

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