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Kunst im Zeitalter ihrer  maschinellen Produzierbarkeit
Andreas Siess, zvg.

Kunst im Zeitalter ihrer
maschinellen Produzierbarkeit

Heute kann jeder zum Schöpfer seiner eigenen Bilderwelten werden. Da liegt es nahe, dass sich Kunst in etwas Triviales verwandelt. Tatsächlich könnte sie revolutioniert werden.

Das Start-up bedtimestory.ai ist ein typisches Kind seiner Zeit. Es bietet Kinderbücher an, deren Texte und Illustrationen komplett von einer künstlichen Intelligenz (KI) erstellt wurden. Der Clou: Nicht nur die Narrative, sondern auch die Bildwelten sind komplett auf die individuellen Vorlieben des Kunden ausgerichtet. Ob handzahmes Happy End oder gruselige Science-Fiction – der Kunde entscheidet und kann auf Wunsch auch sein Kind (oder sich selbst) als Protagonisten in der Geschichte auftreten lassen.

Technikskepsis und Fortschrittskritik gehen immer leicht von der Hand. Es wäre daher einfach, diese Experimente als kulturlose Dystopien zu brandmarken und mit gerechtem Zorn über die Unterordnung von Kunst unter das Kapital zu schreiben. Man könnte auf das Uncanny Valley zu sprechen kommen, also den Effekt des Unheimlichen, der hervortritt, sobald menschliche Darstellungen knapp an der Grenze des Realismus scheitern – wenn sich also das Gefühl einstellt, dass etwas «nicht ganz richtig ist», man mit dem Finger aber nicht genau darauf zeigen kann. Schenkt man den zahlreichen Kritiken Glauben, die im Hinblick auf den Erfolg von ChatGPT Hochkonjunktur haben, dann scheint also mit der KI im generellen etwas «nicht ganz richtig zu sein». Doch ist KI tatsächlich so problematisch für Kunst und Kultur? Oder liegen die Probleme nicht vielmehr an ganz anderer Stelle?

Eine Bestandsaufnahme: Das Beispiel bedtimestories.ai illustriert, dass es denkbar erscheint, dass in wenigen Jahren die Unterhaltungsindustrie vollkommen durch KI bestimmt sein wird. Die grossen Streaminganbieter werden in Zukunft auch Bewegtbilder anbieten, die spezifisch auf den individuellen Zuschauer zugeschnitten sind. Der Kunde wünscht sich etwa einen Film im visuellen Stil von Wes Anderson, mit einer Story im Duktus von Tarantino und mit John Wayne als Hauptdarsteller? – die KI generiert die Samstagabendunterhaltung. Auch wenn aktuell der Aufwand noch zu hoch für ein tragfähiges Geschäftsmodell erscheint, erste Experimente, die eine Forterzählung der Serie «Seinfeld» realisierten, wurden bereits umgesetzt. Geradezu trivial mutet die Prognose für dezidiert textuelle Medien an: Von Sportberichterstattung bis zum Groschenroman, sobald genügend Trainingsdaten vorhanden sind, stellt die Realisierung kaum noch ein Problem dar.

«Marilyn Diptych» von Andy Warhol, neu interpretiert mit Kim Jong Un als Kind, modifiziert mit der KI-Software Midjourney.

Mehr Menschlichkeit?

Auch wenn derzeit ChatGPT in aller Munde ist, lohnt es sich, die Perspektive zunächst etwas zu weiten. Der Boom der KI, wie wir ihn heute in der Populärkultur erleben, nahm mit den generierten Bildern, die DALL-E produzierte, seinen Anfang. Diese KI und ihre «Konkurrenten», wie etwa Midjourney oder Stable Diffusion, sind für die Allgemeinheit nun schon ein gutes halbes Jahr zugänglich. Und auch «damals» prognostizierten die Kritiker zwar nicht den Untergang des Abendlandes, aber doch mindestens die Trivialisierung der bildenden Kunst als Kulturgut. Nach dem Abbrand des anfänglichen Strohfeuers, in dem die «digitale Avantgarde» kurz herumexperimentierte, entsteht jedoch derzeit nicht der Eindruck, dass die neuen Möglichkeiten der KI zu einer unmittelbaren Wende in der Medienlandschaft führten. Nach wie vor ist unser medialer Alltag angefüllt mit Bilderwelten von trostlosen, seelenlosen und belanglosen Stockfotografien, die mittlerweile zu einem Ornament, zu einem Hintergrundrauschen geworden sind. Sie sind derart omnipräsent, dass sie zu Memes, zu Tropen geworden sind, die keiner mehr sieht, weil keiner sie mehr sehen will. Wäre es also nicht sinnvoll, die immer gleichen Models aus den immer gleichen Perspektiven und aus den immer gleich gut ausgeleuchteten und politisch korrekten Szenarios zu befreien? Wie viel nahbarer wäre die User Experience, wenn statt der ewig lächelnden Frau mit perfekten Zähnen und Headset zukünftig ein individuelles Motiv die telefonische Kontaktmöglichkeit auf der Webseite des örtlichen mittelständischen Unternehmens bebildern würde? Einige grosse Bildagenturen sehen das offenbar ähnlich und erweitern bereits ihr Angebot. KI könnte also ironischerweise dafür sorgen, dass mehr «Quirkiness», mehr Eigenständigkeit und mehr Menschlichkeit in die ästhetische Landschaft eingeführt würde, die uns tagtäglich umgibt.

Blut und Eingeweide

Was bedeutet dies für die Kunst im Zeitalter ihrer maschinellen Produzierbarkeit? Als man dem Sänger und Songwriter Nick Cave einen KI-generierten Song «im Stil von Nick Cave» präsentierte, urteilte dieser in seiner typischen Direktheit mit «This song sucks». Songwriting sei ein «blood and guts business», denn echte Kunst entstehe, so Cave auf seinem Blog 1, durch das Leiden und das zutiefst menschliche Ringen um die Kreation von Kunst. Im Gegensatz zum menschlichen Künstler würden aber weder Algorithmen noch Daten leiden. Ist hier also die Grenze zu ziehen? KI schafft zwar Entertainment und Ornament, aber wirkliche Kunst hat frei von KI zu bleiben – 100prozentig biologisch sozusagen?

Interessanterweise trifft KI gerade jene Professionen besonders, die bisher von der Automatisierung weitgehend verschont geblieben sind: «Kopfarbeiter» wie Journalisten, Rechtsanwälte, Künstler, Autoren und insbesondere Programmierer. GitHub, eine der grössten und wichtigsten Plattformen für kollaboratives Arbeiten an Codes, führte Mitte 2021 «GitHub Copilot» ein, eine KI, die automatisiert und mit beeindruckender Qualität selbständig Programmcode schreiben kann. Auch wenn noch zahlreiche Kinderkrankheiten und nicht zuletzt Rechtsfragen zu adressieren sind: Die Tage des Code-Proleta­riats, das standardisierte Vorgänge abarbeitet und in algorithmische Funktionen überführt, sind gezählt. Diese Entwicklung sorgt aber mitnichten dafür, dass es zukünftig keine Programmierer mehr geben wird, sondern dass sich ihr Berufsbild signifikant ändern wird. Wir erleben eine Art «Industrialisierung der Kopfarbeit», in der einerseits auf der Konzeptions- und Planungsseite und andererseits auf der Seite der Qualitätssicherung Know-how nachgefragt werden wird, während der mittlere, ausführende Teil des Arbeitsprozesses mittels KI automatisiert werden kann.

«Die Schule von Athen» von Raffael, neu interpretiert mit Katzen, modifiziert mit der KI-Software Midjourney.

Für die Kunst ist insbesondere das «blood and guts business», also die «Input»-Seite, relevant: Bei der Code-Arbeit hat sich hier der Begriff des Prompt Engineerings durchgesetzt, mithin also die feingranulare Ausformulierung – man könnte hier auch von «Komponieren» sprechen – der Fragestellung an die KI, um ein gewünschtes Ergebnis zu erhalten.

Es obliegt also der Ausgestaltung dieses Inputs, was die KI schliesslich produziert. KI ist demnach ein Werkzeug und das Prompt Engineering die Kunst – denn: Ein Prompt kann schlichtweg Bekanntes replizieren oder auch genuin Neues produzieren. Wenn also Kunst, wie es Nick Cave annimmt, aus dem Kampf mit der Artikulation entsteht, dann kann auch im Zusammenspiel von Subjekt und KI Kunst entstehen – denn auch bei einer KI muss die Emotion in einen Prompt überführt werden. Mithin verlegt KI den Kampf um Artikulation schlichtweg tiefer in das Innenleben des Künstlers, verkürzt also den Weg zwischen Message und Medium. Der Künstler als Prompt Engineer, die KI als sein Katalysator – wenn echte Songs, wie es Nick Cave ausdrückt, aus Emotionen entstehen, warum sollten dann nur jene Menschen diese Emotionen artikulieren dürfen, die das notwendige musikalische Handwerkszeug dazu besitzen?

Ähnlich zu einem Musikinstrument bildet die KI einen Resonanzraum, der mit dem Eigensinn des Subjekts interagiert. Nick Caves Gitarre kann also genutzt werden, um endlos triviale Tonfolgen zu trällern; sie kann in den Händen eines Künstlers jedoch auch Neues, Aufregendes produzieren. KI kann also tatsächlich «Copilot» sein, könnte also tatsächlich jedermann, unabhängig von seinem handwerklichen Können, zum Künstler machen. Voraussetzung ist nur, dass er etwas zu sagen hat. Andernfalls produziert die KI eben Triviales.

«Ähnlich zu einem Musikinstrument bildet die KI einen Resonanzraum, der mit dem Eigensinn des Subjekts interagiert.»

Von den Konzernen ablösen

Die eigentliche Frage ist demnach nicht, ob KI zum Ende aller Kunst führen werde. Künstler machen Kunst, weil sie etwas artikulieren wollen, und hören nicht auf, Kunst zu produzieren, weil es andere Mittel gibt, um diese Kunst herzustellen. Das «blood and guts business» entsteht nicht im Ringen mit der Medientechnik, sondern zuvorderst im Ringen mit sich selbst.

«Das letzte Abendmahl» von Leonardo da Vinci, neu interpretiert mit Hip-Hop-Musikern, modifiziert mit der KI-Software Midjourney.

Die Frage ist eher, wie sich dieses mächtige Werkzeug, das zweifelsohne signifikanten Einfluss auf unsere Kultur haben wird, aus dem Umfeld der (amerikanischen) Konzerne befreien lässt. Dabei ist nicht nur der generelle Zugang zu diesen Werkzeugen relevant – es zeichnet sich bereits ab, dass Microsoft ChatGPT nicht nur in seine Suchmaschine Bing integrieren wird, sondern dass auch in Word, Excel und PowerPoint demnächst KI anzutreffen sein wird. Neben dieser Zugänglichkeit besitzt insbesondere die Auswahl der Trainingsdaten der KI massgeblichen Einfluss auf das System. Die KI ist dabei immanent intransparent: Es ist weder trivial ersichtlich, mit welchen Daten sie trainiert wurde, noch welche Antworten vom Hersteller möglicherweise zensiert werden. Obwohl ChatGPT im Moment noch in der Erprobungs- und Entwicklungsphase steckt, sind diese Fragestellungen bereits jetzt virulent.

Wir werden uns also Gedanken machen müssen, wie wir mit der Möglichkeit dieser impliziten (Vor-)Zensur umgehen wollen. Im Hinblick auf die gegenwärtigen Kosten für Training und Betrieb ist dringend über eine Lösung nachzudenken, die dezidiert als Open Source entwickelt wurde und so klar artikuliert, mit welchen Daten sie trainiert wurde. Daraus ergeben sich unzählige Anschlussfragestellungen – beispielsweise zum Urheberrecht –, die bisher bestenfalls hinhaltend beantwortet wurden und die durch den kometenhaften Aufstieg von ChatGPT in besonderem Masse exponiert werden. Wir sollten uns um Antworten bemühen, bevor die KI in unseren privaten Computern Fakten schafft.


Full Disclosure: Selbst dieser Text ist ein Experiment. Er wurde mit Hilfe einer KI kollaborativ erarbeitet.

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