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In der Mitte des realen Liberalismus

Kritik am Liberalismus ist schön und gut, doch nicht, wenn sie mehr Utopismus enthält, als ihr bekommt. Eine kritische Entgegnung auf einen Beitrag von Slavoj Žižek in unserer letzten Ausgabe.

Vor der Einführung vermeintlich schwieriger Reformen hat ein Politiker einmal gesagt, die anstehende Aufgabe sei zwar leicht, aber nicht einfach. Gemeint war, dass die Reform selbst leichtverständlich und ihre Notwendigkeit ohne weiteres einzusehen sei, dass es aber schwierig werden würde, die Menschen zu motivieren, den steinigen Weg zu gehen.

Dasselbe gilt auch für den Liberalismus. Er ist leichtverständlich (zumindest auf den ersten Blick), doch fällt es vielen Menschen schwer, ihm zu folgen. Ein ernstes Problem tritt hinzu: Missdeutungen. Der Liberalismus – vielleicht gerade weil er scheinbar so leicht zu verstehen ist – sieht sich mit vielerlei Fehlinterpretationen konfrontiert. Mithin ist es gar nicht so einfach, ihn richtig zu deuten. Die Liste der ihn begleitenden Missverständnisse ist lang. Auch der kritische Einwurf von Slavoj Žižek, der in der letzten Ausgabe der «Schweizer Monatshefte» abgedruckt war, enthält zahlreiche Missdeutungen.*

Es beginnt mit der These, für den radikalen Liberalismus sei «der Wunsch, die Menschen einer angeblich universellen, ethischen Maxime zu unterstellen, die Mutter aller Verbrechen». Genau das ist nicht der Fall, wie man beispielsweise in dem 2005 erschienenen Buch «Norms of Liberty» nachlesen kann. Die Autoren Doug Rasmussen und Doug den Uyl zeigen darin plausibel, dass der Liberalismus sehr wohl universelle Maximen einfordert, und zwar in Form allseits verbindlicher Metanormen, die ein tolerantes Miteinander individueller Lebensentwürfe und die damit verbundene Selbstbestimmung eines jeden Individuums gewähren.

Rasmussen und den Uyl deuten den Liberalismus gewissermassen als logische Folge des Bedürfnisses, viele konkurrierende Moralsysteme friedlich nebeneinander existieren zu lassen. Gesteht man jedem Individuum zu, den von ihm subjektiv präferierten Weg zum Glück einzuschlagen, so ist der Liberalismus als ein Handlungsregulativ zu verstehen, das die Bedingung für moralisches Handeln erst ermöglicht. In diesem Sinne ist er keine Morallehre, sondern vielmehr der politische Rahmen, der alle subjektiven Moralsysteme zulässt, sofern diese dem toleranten Miteinander nicht entgegenstehen.

Eine weitere Missdeutung liegt in der Theorie von der Asymmetrie des Tausches. Zunächst einmal ist zu bemerken, dass diese naturgegeben ist und nicht von der Ideologie des Liberalismus vorgeschrieben wird. Streng genommen, ist unter der Annahme von Symmetrie der Tausch ausgeschlossen: wenn zwei dasselbe besitzen, tauschen sie nicht. Das würde wohl auch Žižek zugestehen, dem es allerdings um die daraus vermeintlich ableitbare Konsequenz geht, dass der Markt keine persönliche Beziehung stifte. Während der vom Ethnologen Marcel Mauss analysierte Potlach (das Wort kommt aus der Sprache der Chinook-Indianer und bedeutet «Gabe») aus zwei Schenkakten bestehe, so Žižek, geschähen im Markttausch «die beiden Akte gleichzeitig, ich bezahle und kriege etwas für das Geld». Dies habe zur Folge, «dass keine soziale Schuld, mithin kein soziales Band erzeugt wird». Ein bisschen Hayek-Lektüre hätte Žižek zweifellos gutgetan. Tauschaktionen und Vertrauen für einseitige Vorleistungen entstehen gerade durch sich wiederholende Marktbeziehungen. Hayek hat den Markt deshalb als «Katallaxie» bezeichnet: nicht nur als Ort des Tausches, sondern auch der Umwandlung eines Fremden in einen Freund (das griechische «katallassein» bedeutet sowohl «tauschen» als auch «aussöhnen, versöhnen, vermitteln»).

Im übrigen ist es wenig hilfreich, Schenken und Tauschen zu vertauschen. Der Markttausch besteht nicht aus zwei gleichzeitig erfolgenden Schenkakten. Auf dem Markt geht jede Annahme einer Leistung oder eines Produktes mit der Annahme einer vereinbarten Verpflichtung (zur Gegenleistung) einher, die es einzulösen gilt. Diese Einlösung schuldet der Marktteilnehmer nur seinem Tauschpartner, nicht der Gemeinschaft. Ein «soziales» Band der Schuld entsteht hier ebensowenig wie eine Verpflichtung zur Annahme der angebotenen Leistung oder des angebotenen Produkts. Anders als beim Schenken, beleidige ich den Anbieter nicht, wenn ich seine Offerte ausschlage.

Von einer Atomisierung der Gesellschaft durch den Markt kann also gar keine Rede sein, auch nicht von einem Fehlen des Vertrauens. Allerdings bietet der Markt durchaus die Möglichkeit, anonym zu bleiben. Insofern kann man Žižek zustimmen: «In dieser Perspektive kann Geld als das Mittel definiert werden, das uns ermöglicht, Kontakte mit anderen zu unterhalten, ohne in eine eigentliche Beziehung mit ihnen zu treten.» Diese Zustimmung kann allerdings nur unter dem Vorbehalt erteilt werden, dass mit einer «eigentlichen Beziehung» eine persönliche Beziehung gemeint sein soll. Eine solche gibt es in aller Regel nicht zwischen dem, der heute eine Aktie veräussert, und jenem, der sie morgen erwirbt. Aber es gibt eine andere Beziehung, eine, die von Žižek aussen vor gelassen wird, nämlich die vertragliche. Sie knüpft das sehr konkrete individuelle Band der Schuld im Sinne einer Obligation und verzichtet auf das wenig konkrete «soziale» Band der Schuld. Es ist die sich wiederholende Vertragstreue, die das Band zwischen den Marktakteuren flicht, Vertrauen sät und die Atome unter Wahrung ihrer Individualität zu Gemeinschaften werden lässt.

Vor diesem Hintergrund erweist sich auch ein weiterer Kritikpunkt Žižeks als irreführend. Einen Staat so zu organisieren, dass er sogar «für ein Volk von Teufeln» (Immanuel Kant) funktioniere, ist nicht der utopische Kern des Liberalismus. Dabei handelt es sich vielmehr um das Problem eines jeden Reglements, das versucht, für jeden denkbaren Fall unerwünschter Ergebnisse Verhinderungsvorkehrungen zu treffen. Das ideale politische System im absoluten Sinne mag es zwar nicht geben, doch bestehen Kriterien, die eine Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Alternativen erlauben. Wenn Frieden ein solches Kriterium ist, dann ist spätestens seit Ludwig von Mises der Schlüssel hinreichend bekannt, mit dem der Liberalismus das Tor zu einer friedlicheren Welt öffnet. Bereits die schottische Moralphilosophie (mit David Hume, Adam Ferguson und Adam Smith) hat die Grundidee dargelegt: wer Handel treibt, kämpft nicht. Er muss den Frieden gar nicht wollen, um ihn herbeizuführen. So mirakulös ist die Eintracht gar nicht, die laut Kant «die grosse Künstlerin Natur … durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen» lässt. Allerdings hilft beim Verstehen dieses wenig wundersamen Wunders, das Hayek die spontane Ordnung nennt – eine Ordnung, die nicht beabsichtigt ist, also nicht aus den Plänen der vielen Interakteure (manchmal sogar gegen deren Ziele und Absichten) hervorgeht –, eher die Lektüre von Smith und Hayek als die von Kant oder Hegel.

Wollen wir einmal die strittige These Žižeks beiseite lassen, wonach der freie Tausch am Markt auf eine juristische bzw. staatliche Ordnung als Grundlage angewiesen sei (genau das bestreitet ja der von ihm apostrophierte «radikale Liberalismus»), so ist gewiss unstrittig, dass es für den Markt einen sozialen Unterbau braucht – wenn auch eher im eben skizzierten Sinne gewachsener positiver Externalitäten als im Sinne von Marx. Traditionen, Sitten und Gebräuche, das hat Hayek überzeugend gezeigt, stellen die tauschförderliche Zivilität her. Sie verkörpern die «Regeln der Zivilität», den «gemeinen Anstand», von dem Žižek spricht, doch sie sind nicht das, was der Tausch voraussetzt, sondern sind vielmehr mit ihm entstanden und mit ihm in permanenter Erneuerung begriffen. In dieser Art sind sie in der Tat unsere «zweite Natur» und die «Grundlage des Zusammenlebens».

Diesen kulturellen Unterbau hat der Liberalismus gewiss nicht erzeugt. Wie sollte er auch? Er ist eine Weltanschauung. Nur Akteure erzeugen, und oft mehr und anderes, als sie wollen, und zwar im Sinne der oben genannten spontanen Ordnung. Wir Menschen, wir tauschenden Menschen sind es, die den Unterbau geschaffen haben und unterhalten. Und in der Tat müssen wir aufpassen, «ihn nicht zu zerstören» – nicht weil dies, wie Žižek schreibt, den Liberalismus ad absurdum führen, sondern weil es die Grundlage menschlicher Existenz zerstören würde.

Es gibt viele hilfreiche Massnahmen im Bemühen um die Erhaltung unserer Existenz. Eine davon ist, den realen Liberalismus, das heisst die geistigen Grundlagen einer freien und friedlichen Welt so weit wie möglich und nötig zu verstehen und zu wahren. Ganz und gar nicht hilfreich ist es, vom realen Liberalismus ein entstelltes Bild zu zeichnen und ihm da Utopismus vorzuwerfen, wo ihm dieser aus gutem Grunde fehlt.

* Slavoj Žižek :«Jenseits des liberalen Realismus», Schweizer Monatshefte, Februar/März 2008.

Hardy Bouillon, geboren 1960, unterrichtet als Lehrstuhlvertreter praktische Philosophie an der Universität Duisburg-Essen.

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