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Kulturkampf um die Deutungshoheit
Ulrike Ackermann, zvg.

Kulturkampf um die Deutungshoheit

Karl Popper begriff, dass Wissenschaft und Verantwortung nicht zu trennen sind. Das gilt besonders für die Gegenwart.

Ulrike Ackermann kommentiert «Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers» von Karl Popper.


 

Karl Poppers eindringliches Postulat von 1968 für eine moralische Selbstverpflichtung des einzelnen Wissenschafters in seiner Suche nach Wahrheit hat nichts an Stichhaltigkeit verloren. Dies schliesst die Wertschätzung der überlieferten Grundsätze der eigenen Disziplin sowie auch «die Notwendigkeit, diese Grundsätze immer wieder kritisch zu überprüfen», ein. Auf eine Einsicht in die «Begrenztheit und Fehlbarkeit unseres Wissens» und die «Grenzenlosigkeit unseres Nichtwissens» muss immer wieder aufs neue gepocht werden, als leitendes Arbeitsethos jedes Wissenschafters.

Auch Poppers Warnung vor intellektuellen Moden und dem Konformitätsdruck des Zeitgeistes sollte uns kräftig in den Ohren klingeln. Dafür sind die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften besonders anfällig. Die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Dynamiken bzw. Debatten und deren wissenschaftlicher Analyse und Verarbeitung bleiben allzu oft unreflektiert. Vor allem, wenn Wissenschafterinnen und Wissenschafter die Welt nach ihrem Bilde und ihren Überzeugungen transformieren wollen. Seit einigen Jahren beobachten wir denn auch eine zunehmende Ideologisierung und moralische Aufladung, die Fragestellungen, Themen und Argumente in der akademischen Forschung verengen. Diese Politisierung verhindert eine rationale und ergebnisoffene Suche nach Erkenntnis, die aber gerade den Kern der Freiheit der Wissenschaft in der Tradition der Aufklärung ausmacht. Cancel Culture und Political Correctness gefährden inzwischen massiv die Wissenschaftsfreiheit. Seit Jahren tobt ein Kulturkampf um die Deutungshoheit. Es geht dabei zugleich um Anteile an Ressourcen und Machtpositionen im wissenschaftlichen Betrieb mit Folgen, die weit in die Gesellschaft und Politik hineinreichen.

Popper wies auf einen neuralgischen Punkt hin, nämlich «das Pro­blem der ungewollten Folgen unserer Handlungen – Folgen, die nicht nur unbeabsichtigt, sondern oft auch nur schwer vorauszusehen sind». Darin sah er das «grundsätzliche Problem des Sozialwissenschafters», zu dessen besonderen Verpflichtungen zähle, «die ungewollten Folgen seiner Tätigkeit so weit als möglich vorauszusehen». Dies haben ausgerechnet viele Sozialwissenschafter in den USA schwerwiegend versäumt, wo sich eine linke Identitätspolitik breitgemacht hat, die schon fast totalitäre Züge trägt.

Es begann mit den Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren. Völlig zu Recht schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten, auf historische und aktuelle Diskriminierungen aufmerksam zu machen und gegen Sexismus und Rassismus aufzubegehren. Doch aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communities entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen. Die linke Identitätspolitik ist die Spätfolge eines philosophisch und soziologisch propagierten Multikulturalismus, Kommunitarismus und Elementen des französischen Poststrukturalismus und einer daraus abgeleiteten Politik der Differenz. Die praktische Umsetzung dieses Ansatzes an den nordamerikanischen und später auch europäischen Hochschulen war die «Affirmative Action», die proaktiv Benachteiligte fördern wollte. Zuerst wurde ihre Selbstorganisation unterstützt, dann etablierte sich zunehmend eine Forschung über kollektive Identitäten, die sich aus Geschlecht, Ethnie oder Religion ableiten. Inzwischen ist diese Politik weitgehend durchgesetzt. Im Zentrum steht das Kollektiv, seine leidvolle Unterdrückungsgeschichte und seine vorgebliche kulturelle Essenz. Es läuft der Wertschätzung des Individuums, jenseits von Geschlecht, Ethnie oder Religion, sukzessive den Rang ab – ein Paradigmenwechsel, der es in sich hat und weit über den Diversitäts- und Opferdiskurs an den Hochschulen hinausreicht. Er hat längst Eingang in die Gesellschaft und Politik gefunden und produziert eine gesellschaftliche Dynamik, die spaltet und polarisiert. Seien wir optimistisch und setzen mit Popper auf die Selbstaufklärungspotenziale verantwortungsbewusster Wissenschafter und Wissenschafterinnen: Es ist ja nie zu spät, Irrwege zu erkennen und zu revidieren.

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