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Der nicht photographierende Photograph

Der Künstler Luciano Rigolini

Der nicht photographierende Photograph

Es mag als seltsam angesehen werden, dass Luciano Rigolini ein Photograph ist, der nicht selbst photographiert. Zwar hat er es früher einmal getan – erfolgreich, daran lag es also nicht –, doch dann hat er irgendwann beschlossen, damit aufzuhören und trotzdem Photograph zu bleiben. Nun ist es nicht so, dass er andere für sich photographieren liesse. Jedenfalls nicht in dem Sinn, dass er Schüler, Assistenten oder Kollegen mit einem Auftrag losschicken würde. Nein. So nicht. Stattdessen sucht und sammelt er Photographien, die meist schon vor langer Zeit aufgenommen worden sind, von Menschen, deren Namen unbekannt sind und die vermutlich schon lange nicht mehr leben.

Luciano Rigolini entdeckt seine Photographien auf Flohmärkten, er recherchiert sie in Archiven, und er ersteigert sie auf Auktionen. Ihre Zahl scheint grenzenlos, schliesslich ist die Kunst des Photographierens bald 200 Jahre alt. Also ist Luciano Rigolini ein Sammler? Sicher auch. Von den vielen tausend Photographien, die er zusammengetragen hat, wählt er einige wenige aus, restauriert, digitalisiert und vergrössert sie in aufwendiger Detailarbeit und mit Hilfe neuester Technik. Etwa zerknitterte Schnappschüsse, wenige Zentimeter breit und hoch, von miserabler Qualität, wie man sie aus den Familienalben der Gross- oder Urgrosseltern kennt. Oder diese matten Aufnahmen von Kristallen aus der frühen Röntgenspektroskopie, die in alten wissenschaftlichen Publikationen abgedruckt sind. Oder die Dokumentationen der Details von Maschinen, die früher einmal in einschlägigen Ausbildungsunterlagen der Ingenieure ihren Platz hatten und an denen der ranzige Geruch alten Schmieröls für immer hängengeblieben zu sein scheint. Also ist Luciano Rigolini ein Restaurator? So kann man es wohl auch sehen. Doch in einem nächsten Schritt stellt er die restaurierten, digitalisierten und vergrösserten Fundstücke während langer Arbeitstage zu Serien zusammen, etwa zu «What You See»1, die letztes Jahr in Winterthur, in der Fotostiftung Schweiz, zu sehen war. Also ist Luciano Rigolini ein freier Kurator? Wenn es denn sein muss. Doch er selbst versteht sich als Photograph, der nicht photographiert.

Es regnet im Tessiner Bleniotal. Es regnet so ausdauernd, dass der spartanische Geländewagen, dem man sich ohne Zögern auch nach einer Mondlandung anvertrauen würde, nicht mehr dicht hält und das Wasser sich auf den Ablagen bei den Sitzen zu sammeln beginnt. Der Regen fällt so dicht, dass die zweifellos schroffen Felsen, pittoresken Dörfer und lieblichen Wälder, die es hier geben muss, vom Alpen-panorama ganz zu schweigen, nun aussehen, als seien sie selbst nichts anderes als unscharfe und kontrastarme Photographien, die grosszügig aquarelliert worden sind. Grünlich dort, wo der Wald zu vermuten ist, bräunlich und rötlich, wo die Dörfer sein müssten, und hin und wieder eine Andeutung von Blau, wo sich der Himmel befinden sollte. Freie Sicht auf die Alpen gibt es hier möglicherweise auch bei Sonnenschein nicht, wer weiss das schon so genau. Vielleicht hört es hier ja nie auf zu regnen.

Während der Fahrt hinauf ins Tal erzählt der Photograph, der in seinem zweiten Beruf, als Produzent beim Kultursender Arte, Innovationen im Dokumentarfilm vorantreibt, dass ein Film wie eine Erzählung, eine Photographie wie ein Gemälde sei. Also etwa einem Braque, einem Feininger oder einem Mondrian gleichen könne. Gerade eine Photographie, die zu dokumentarischen Zwecken aufgenommen worden sei. Inzwischen sammelt sich erstes Wasser auf den Fussmatten, und durch die Fenster ist nichts als dunkelgrauer Hintergrund mit etwas helleren senkrechten, unterbrochenen Linien zu sehen. Luciano Rigolini erzählt weiter, dass ihn bei den Photos, die er sammle, nicht der ursprünglich intendierte Bildinhalt interessiere. Also nicht die landschaftliche oder architektonische Sehenswürdigkeit, nicht der spezielle Gegenstand oder der besondere Moment, weswegen irgendjemand einmal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt habe. Luciano Rigolini interessieren allein Strukturen und Formen. Das, was übrig bleibt, wenn man die Inhalte in den Hintergrund treten lässt und es keine Bezüge mehr zu dem gibt, was normalerweise als Wirklichkeit bezeichnet wird.

Angekommen in den weitläufigen Räumen des Ateliers in der stillgelegten Schokoladefabrik Cima Norma in Torre wird es auch dann nicht hell, nachdem die Rolläden der zahlreichen Fenster hochgezogen sind. Auch scheinen einige nicht dicht zu sein, Wasser rinnt. Auf dem grossen Tisch mitten im Raum liegen Schwarzweissphotographien7–9 – circa zwei Meter breit und einen Meter fünfzig hoch – und zeigen… nun, Strukturen und Formen: Diagonalen, Winkel, Repetitionen, Parallelführungen, gerade Linien, gebogene Linien, Flächen, Rundungen.

Für kurze Zeit hört es auf zu regnen. Der Wind treibt die Wolken das Tal hinauf, im Schlepptau makellos blauen Himmel. In der Sonne glitzern Steindächer, Nadelbäume, Felsnasen, der Kirchturm im Tal. Dann atmet der Boden Nebelschwaden, wenige Momente später sieht man nur noch… nun, angedeutete Strukturen und Formen. Luciano Rigolini und das Bleniotal scheinen Verbündete zu sein. Der Regen setzt wieder ein.

Photographien, so sagt er, sind keine einfache Abbildung der Wirklichkeit. Das kann so verstanden werden, dass es die Wirklichkeit immer nur im Plural gibt. Und eine dieser Wirklichkeiten könnte zeit-, ort- und kontextlos sein. Das wäre dann die Wirklichkeit der Strukturen und Formen. Nur so lässt sich erklären, warum diese, wie Luciano Rigolini sagt, auf den alten Photographien unveränderlich und für die Ewigkeit vorhanden sind, hat man nur den Blick dafür.

Luciano Rigolini besitzt diesen Blick und präsentiert seine Fundstücke dieser Wirklichkeit so, dass auch Dritte einen Zugang zu ihr finden können. Ob der Fokus auf Strukturen und Formen die reale, wahre, letztlich gültige Wirklichkeit zeigt, ist eine andere Frage. Luciano Rigolini würde sie vermutlich bejahen.

Jeder der photographiert, ob Profi oder Laie, fängt einen möglichen Blick auf die Welt ein. Er wählt ihn aus, bannt ihn auf Papier, präsentiert das Ergebnis Dritten. Jedes Photo, ob dokumentarisch intendiert oder nicht, ist eine Wirklichkeitsbehauptung. Auswählen, auf Papier präsentieren, behaupten. Nichts anderes macht auch Luciano Rigolini. So gesehen ist er ein Photograph, obwohl er selbst nicht photographiert.

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Luciano Rigolini wurde 1950 in Tesserete im Tessin geboren. Von 1971 bis 1995 war er Kameramann, Regisseur und Dokumentarfilmer für das Schweizer Fernsehen. Seit 1995 ist er Produzent beim Kultursender Arte in Paris, verantwortlich für den kreativen Dokumentarfilm.

Parallel dazu arbeitet er als Photograph, anfangs noch selbst auf den Auflöser drückend (Bilder: 2–6), dies jedoch inzwischen bleibenlassend (Bilder: 1, 7–9)

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