Ideal und idealisiert – die Schweizer Berufslehre
Auf den Arbeitsmärkten Südeuropas sind die Folgen der Staatsschuldenkrise längst nicht verdaut, Arbeitslosigkeit bleibt das übermächtige Malaise am Mittelmeer. Besonders spüren es junge Generationen. Man braucht gar nicht erst nach Spanien zu blicken, auch in Italien ist fast die Hälfte der nicht in Ausbildung befindlichen Jugendlichen bis 24 Jahre unfreiwillig ohne Job. In Frankreich ist […]
Auf den Arbeitsmärkten Südeuropas sind die Folgen der Staatsschuldenkrise längst nicht verdaut, Arbeitslosigkeit bleibt das übermächtige Malaise am Mittelmeer. Besonders spüren es junge Generationen. Man braucht gar nicht erst nach Spanien zu blicken, auch in Italien ist fast die Hälfte der nicht in Ausbildung befindlichen Jugendlichen bis 24 Jahre unfreiwillig ohne Job. In Frankreich ist es ein Viertel.
Dagegen muten die Schweizer Verhältnisse paradiesisch an. Nicht nur die allgemeine Arbeitslosigkeit, auch die Jugendarbeitslosigkeit liegt tief. Neben der Regulierungsdichte wurzelt der frappante Unterschied vor allem im Bildungswesen: Die bewunderte duale Berufsbildung ist mit dem Arbeitsmarkt verwoben und gilt als integrativ, vor allem für schwächere Jugendliche. Diese Sozialisierungskraft der Berufslehre ist letztlich der Grund, warum die Einwanderungswellen aus dem Balkan nicht zu Banlieues à la française führten. Die Lehre glänzt aber auch am oberen Ende der Leistungsskala, sie bildet auch in den Augen schulisch begabter Jugendlicher eine solide Karrierebasis. Die Einführung der Berufsmaturität und der Fachhochschulen war ein richtiger und wichtiger Schritt, um das nötige Prestige zu erhalten. Daneben trägt die Berufslehre entscheidend dazu bei, dass die Schweiz trotz Tertiarisierung eine starke industrielle Basis bewahren konnte.
Der berechtigte Stolz und die Bewunderung im Ausland verleiten aber zu einer gewissen Idealisierung. Störungsmeldungen gibt es nämlich sehr wohl. So hat sich in den letzten 20 Jahren eine Schere zwischen dem Lehrstellen- und dem Arbeitsmarkt geöffnet. Im Verhältnis zum Anteil auf dem Arbeitsmarkt werden im Dienstleistungssektor zu wenige Lehrstellen angeboten. Deutlich zeigt sich dies im Finanzmarkt, in den modernen Dienstleistungen oder in der Kreativbranche, teilweise sind aber auch die anspruchsvollen Industrieberufe davon betroffen. In der Folge wechselt die Hälfte der Absolventen den Beruf, nicht wenige schon direkt nach der Lehre. Es ist dem flexiblen Arbeitsmarkt zu verdanken, dass diese Wechsel geräuschlos vonstatten gehen. Anders gesagt: Ein (zu hoch angesetzter) Mindestlohn wäre für die jugendlichen Berufswechsler eine Fallgrube.
Die Berufslehre ist auch ein Geschäft, denn sie rechnet sich für die Betriebe meist schon während der Lehrzeit. Das ist nichts Anstössiges, im Gegenteil: es zeigt, dass die Jugendlichen schon früh produktiv werden. Das (staatlich geförderte) Renditedenken vieler Lehrfirmen engt aber gleichzeitig den Spielraum für Reformen ein. Jeder Ausbau des schulischen Teils – zum Beispiel zugunsten einer Fremdsprache – stösst auf Opposition, denn dies reduziert die Lehrlingsrendite. Aus selbigem Grund verweigern noch immer Betriebe ihren Lernenden die Berufsmaturität. Auch die an sich gebotene Anpassung und Verbreiterung der Berufsfelder – wir zählen rund 220 verschiedene Lehrberufe – prallt am kurzfristigen Renditeerfordernis ab.
An einem internationalen Kongress zur Berufsbildung in Bern begann ein berühmter amerikanischer Bildungsökonom die Eröffnungsrede mit den Worten, er persönlich könne nicht verstehen, warum es drei Jahre brauche, um einen Bäcker auszubilden, in den USA würden dafür drei Monate reichen. Die Schweizer Teilnehmer zeigten sich ob dieser flapsigen Bemerkung sichtlich verärgert, was der Professor seinerseits mit Unverständnis quittierte. Die Episode beherrschte die Pausengespräche während der ganzen Veranstaltung. Dies zeigt zweierlei: erstens ist es in der Schweiz schwierig, offen über die Berufslehre zu debattieren. Zweitens: die Wahrnehmung von Bildungssystemen ist stark kulturell gebunden. Kulturen lassen sich auf die Schnelle nicht verändern. Dies setzt dem angedachten Export der Berufslehre in Problemländer Grenzen. Besser wäre es wahrscheinlich, junge Ausländer in der Schweiz auszubilden. Dazu bräuchte es aber eine höher angesiedelte Variante der heutigen Lehre, denn im typischen Eintrittsalter von 16 Jahren ist man noch nicht mobil, und junge Südeuropäer gehen meist länger zur Schule.
Die Berufslehre ist ein tragender Pfeiler des Bildungssystems. Ihre künftige Tragfähigkeit hängt davon ab, ob sie ideal bleiben kann, ohne idealisiert zu werden.