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Die Ersten

Freudig stürmen sie in die Fluten; einer fuchtelt mit dem Schwert herum, ein anderer mit dem Streitkolben Vishnus. Sie tragen nur einen Schurz um die Lende, Leib oder Gesicht sind mit Asche beschmiert. Ein älterer Mann mit weissem Bart hat sich die safrangelbe Blütenkette um den Hals gelegt. Die Stimmung erreicht gerade ihren Höhepunkt. Eine […]

Die Ersten
Photo: Kevin Frayer (Keystone).

Freudig stürmen sie in die Fluten; einer fuchtelt mit dem Schwert herum, ein anderer mit dem Streitkolben Vishnus. Sie tragen nur einen Schurz um die Lende, Leib oder Gesicht sind mit Asche beschmiert. Ein älterer Mann mit weissem Bart hat sich die safrangelbe Blütenkette um den Hals gelegt. Die Stimmung erreicht gerade ihren Höhepunkt. Eine grosse, geradezu kindliche Freude hat sich der Männer bemächtigt. Jahrelang haben sie in Armut und Nacktheit auf diesen Augenblick gewartet, hunderte Kilometer sind sie gewandert,
die Nacht haben sie am Ufer ausgeharrt, im Gebet, im Halbschlaf, wachsam, um den günstigen Startplatz zu verteidigen. Im Morgengrauen endlich, als Jupiter ins Sternbild des Wassermanns tritt, laufen sie los, um sich ins heilige Wasser zu stürzen. Sie sind nicht die einzigen. Drei Millionen Gläubige baden an dem ersten Festtag im schmutzigen Eiswasser bei Allahabad, wo sich die Flüsse Ganges, Yamuna und der unsichtbare, mystische Strom Sarasvati vereinen. Über 90 Millionen Pilger werden in den nächsten Wochen zu diesem Wallfahrtsfest erwartet. Beim «Maha Kumbh Mela», dem «grossen Fest des Kruges», lassen betende Hindus das Flusswasser durch die Hände rinnen. Man trinkt einige Schlucke und giesst sich das heilige Nass über den Kopf. So wird man jenes Tropfens des heiligen Nektars Amrita teilhaftig, den Indra einst im Kampf gegen die Dämonen hier verschüttet hatte. Das Wasser reinigt nicht nur von den Sünden, es soll Heilung bringen, Freiheit von den Ketten der Wiedergeburt, in denen sich stets nur das alte Elend fortsetzt.

Von überall her kommen die frommen Pilger: aus den Städten und Dörfern, aus der Abgeschiedenheit der Walderemitagen, aus den Höhlen des Himalayas. Einsiedler sind darunter, Asketen, Bettelmönche, Virtuosen der Meditation und Selbstkasteiung, spirituelle Lehrer und ihre Schüler, aber auch viele Familien, Mütter mit Kindern, Beamte, Händler, Bauern, Hirten, Angehörige aller Kasten. Am heiligen Ort vereinen sie sich zur Festmasse der Gläubigen. Sie kommen nicht, um gemeinsam zu klagen oder ihren Gott oder Propheten zu betrauern. Nicht die Prozession der Gram vereinigt sie oder die Aussicht auf Unsterblichkeit, sondern die Nähe des letzten Lebensziels, die Erlösung von der Welt und von sich selbst.

Verkörpert sehen die Besucher diese Hoffnung in den vielen heiligen Männern, die in Stellvertretung der Gläubigen ihre Begierden geopfert haben. Ihnen zu begegnen, sie von Angesicht zu Angesicht zu schauen, ihren Worten zu lauschen und sie um Rat zu fragen, ist eine seltene Erfahrung. Männer sind darunter, die stundenlang kopfüber an Bäumen hängen, auf Dornen und Nägeln ruhen oder sich lebendig eingraben lassen, so dass nur noch der Kopf aus der Erde hervorschaut. Die lebendige Farbe des Lebens haben die Asketen unter Asche verborgen, in Nachahmung ihres Leitgotts Shiva, des wilden Herrn der Tänzer, des Dämonenbezwingers und Zerstörers der Zeit. Manche tragen Shivas Dreizack mit sich. Ältere haben ihr meterlanges Haar zu einer Pyramide gehäuft. In der von jeder Schere unberührten Wildnis wohnt unermessliche Lebensenergie. Die Erlösungswege aus der Welt führen entweder über das Wissen, die Gotteshingabe, die meditative Selbstvergessenheit oder mitten hinein in die heilige Flut, auf dass sie vom Tropfen der Ewigkeit benetzt werden.

Die allermeisten Pilger wollen nur dabei gewesen sein. Doch einige Heilige wollen die ersten sein. Obwohl Zeitpunkt und Reihenfolge für das Massenbad seit langem feststehen, streiten manche Gruppen von Sadhus um das Privileg des ersten Bads. Am Ufer drängeln sie sich nach vorn, mit Ellbogen und Waffen. Das Photo zeigt die jungen Sieger dieses Wettlaufs ums Heil. Ein einziger Tropfen göttlicher Nektar ist wahrlich ein knappes Gut. Obwohl sie nur den Wind als Kleidung tragen, sind sie gerüstet für den Kampf um die Erlösung. Was wie die ekstatische Freude über die nahe Erlösung erscheint, ist vielleicht nur der profane Triumph über den ersten Platz im Gedränge. Vor Millionen Gläubigen sind sie ins kalte Wasser gesprungen.

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