Die Wahl der Geschlechtsidentität untergräbt den Feminismus
Das Verständnis von Geschlecht und Geschlechterrollen hat sich in den letzten Jahrzehnten mehrmals verändert. Wenn nun in der Gesetzgebung der Bezug zur Biologie ganz gekappt wird, bringt das Frauen erhebliche Nachteile.
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Die jüngsten Debatten über die Inklusion von Transmenschen in Grossbritannien und in den USA haben das Recht vor neue Herausforderungen gestellt, die unweigerlich auch für viele andere westliche Länder von Bedeutung sein werden. Die vorgeschlagene Ausweitung der Kategorie «Frau» auf Personen, die sich selbst als Frauen bezeichnen, ohne körperliche Angleichungen vorgenommen zu haben, wird mit verschiedenen Argumenten begründet. Auf der einen Seite umfassen sie Sympathie für Menschen, die sich im falschen Körper gefangen fühlen. Auf der anderen Seite herrscht die Überzeugung, dass Personen bei der Geburt geschlechtlich falsch identifiziert wurden und in Wirklichkeit einem anderen Geschlecht angehören als dem, das ihnen ursprünglich «zugewiesen» wurde, wie es heute im Jargon heisst.
Eine gedankliche Lücke klafft zwischen diesen beiden Ansichten. Die eine akzeptiert, dass Geschlecht biologisch bestimmt sei, während es für das Gesetz gleichwohl angemessen sein kann, eine Person als Angehörige des anderen Geschlechts zu behandeln, sollte sie dies benötigen, um sich als Individuum zu entfalten. Die andere Auffassung wiederum bestreitet, dass Geschlecht biologisch festgelegt sei. Sie meint, dass Geschlecht durch die Art und Weise bestimmt werde, wie man sich fühle – durch das Gehirn und nicht durch den Körper.
Die erste Auffassung liegt den Gesetzen zugrunde, die es Menschen ermöglichen sollen, ihr rechtliches Geschlecht zu ändern. Das 2004 erlassene britische Gesetz zur Anerkennung des Geschlechts (Gender Recognition Act, GRA) erlaubt es beispielsweise, jemanden als eine Person des anderen Geschlechts zu behandeln, wenn diese eine Bescheinigung zur geschlechtlichen Anerkennung (Gender Recognition Certificate, GRC) erhalten hat. Deren Besitz ermöglicht es der Person, ihre Geschlechtsangabe in allen offiziellen Dokumenten – Geburtsurkunde, Führerschein, Reisepass – zu ändern. Um eine Geschlechtsanerkennungsbescheinigung zu erhalten, muss eine Person eine ärztlich diagnostizierte Geschlechtsdysphorie haben, volljährig sein, zwei Jahre lang als das andere Geschlecht gelebt haben und zudem beabsichtigen, dauerhaft in diesem zu bleiben. Eine chirurgische Veränderung des Körpers ist nicht erforderlich. Der GRA schafft eine rechtliche Fiktion, nach der die Person von nun an für viele Zwecke als Angehörige des anderen Geschlechts behandelt wird. Rechtliche Fiktionen gibt es in Bereichen, in denen etwas, von dem man weiss, dass es in Wirklichkeit nicht wahr ist, für die Zwecke des Gesetzes als Wahrheit behandelt wird: zum Beispiel ein Unternehmen als juristische Person.
Für bestimmte Zwecke behalten Personen jedoch die Merkmale ihres Geburtsgeschlechts bei, die sie von Personen unterscheiden, die mit dem erworbenen Geschlecht geboren wurden. Ein offensichtlicher Unterschied ist medizinischer Natur: Die Bedürfnisse einer Transgenderfrau fallen nicht den gynäkologischen oder geburtshilflichen Versorgungsleistungen eines Krankenhauses zu, die eines Transmannes hingegen schon. Das Gesetz erkennt auch einige Situationen an, in denen die Person mit einem GRC nicht dem neuen Geschlecht zugeordnet werden kann.
Geschlecht und Recht
Diejenigen, die argumentieren, dass Transfrauen nicht nur wie Frauen behandelt werden sollten, sondern Frauen seien, wollen «Geschlecht» («sex») und «Geschlechtsumwandlung» («sex change») als eigenständige Konzepte abschaffen und sie durch ein einziges Merkmal ersetzen: «Geschlechtsidentität». Sie haben sich auch dafür eingesetzt, dass die Anforderung einer medizinischen Diagnose von Geschlechtsdysphorie für eine Behandlung abgeschafft wird und dass die Menschen sich geschlechtlich einfach selbst identifizieren können. Diese Vorschläge wurden 2020 von der britischen Regierung abgelehnt. Innerhalb der Gruppe, die sich für solche rechtlichen Änderungen einsetzt, gibt es wiederum verschiedene Denkweisen. Die eine besagt, dass Geschlecht eine Frage der Wahl sei oder sein sollte. Chromosomen und Genitalien seien irrelevant; man sei das Geschlecht, das man zu sein vorgebe. Die andere stimmt zu, dass Chromosomen und Genitalien für die Bestimmung des Geschlechts nicht ausschlaggebend seien, ist aber der Meinung, dass das Geschlecht dennoch angeboren sei: Es sei keine Wahl, sondern werde bei der Geburt festgelegt – allerdings nicht durch die Biologie. Vielmehr sei Geschlecht im Gehirn verankert; man könne demnach unabhängig von seiner körperlichen Konstitution männlich, weiblich oder nichtbinär sein.
In Grossbritannien gibt es heute nur sehr wenige Gesetze, die ausdrücklich zwischen Männern und Frauen unterscheiden. Wenn sie es tun, dann immer aus körperlichen Gründen – zum Beispiel bei bestimmten Sexualdelikten. Noch vor 200 Jahren war die Situation ganz anders: Als Victoria 1837 Königin wurde, waren Frauen vom öffentlichen Leben, von der Hochschulbildung, von den meisten Berufen und vom Wahlrecht ausgeschlossen, und diese Ausschlüsse waren zwar selten ausdrücklich im Gesetz verankert, wurden aber durch die Rechtsprechung bestätigt. Antidiskriminierungsgesetze waren unbekannt. Der Gedanke einer Gleichstellung der Geschlechter wurde nicht einmal in Erwägung gezogen. Während unverheiratete Frauen im Privatrecht die gleichen Rechte wie Männer genossen, ging ihr Eigentum mit der Heirat auf den Ehemann über, der die Verantwortung für alle Rechtsgeschäfte übernahm (eine Doktrin, die im Englischen als «coverture» bezeichnet wird), zum alleinigen Vormund der Kinder wurde und seine Frau ohne rechtliche Sanktionen unterdrücken, ja sogar vergewaltigen und angreifen konnte.
Die Entstehung der Geschlechterordnung
Wir wissen nicht, wann die gesellschaftliche Herrschaft der Männer über Frauen einsetzte und geschlechtsspezifische Unterscheidungen in Gesetz und Praxis überführt wurden, doch angesichts der annähernden Allgegenwärtigkeit dieses Musters in allen Gesellschaften und über alle Epochen hinweg liegt die Vermutung nahe, dass der Grund dafür die Reproduktionsfunktion der Frauen war – und der Wunsch der Männer, diese zu kontrollieren. Während heute nur wenige von uns in der blossen Fortpflanzung den Sinn des Lebens sehen würden, war sie in der Vergangenheit für das gesamte soziale Spektrum von grösster Bedeutung – von aristokratischen Männern, die darauf bestanden, ihren Namen und ihren Besitz durch legitime Nachkommen weiterzugeben, bis hin zu den Arbeitern auf dem Land, die erwarteten, dass ihre Kinder mit ihrer Arbeitskraft zum Familieneinkommen beitrugen: Was auch immer der Grund für geschlechtsspezifische Differenzierung im Gesetz war, sie wurde damit gerechtfertigt, dass Frauen Kinder gebären würden und dass sie bis vor relativ kurzer Zeit in der Menschheitsgeschichte wenig Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit gehabt hätten, so dass sie potentiell den grössten Teil ihres Erwachsenenlebens damit verbringen könnten, die nächste Generation zu gebären und zu versorgen. Mit diesem einen Unterschied wurden die sozialen Rollen von Männern und Frauen festgelegt. Vor der industriellen Revolution arbeiteten Frauen und Männer gemeinsam in Handwerksbetrieben oder auf Bauernhöfen und trugen beide zum Familieneinkommen bei. Mit der Trennung von Heim und Arbeit im Zuge der industriellen Revolution ergriff die aufstrebende Mittelschicht die Chance, ihre Überlegenheit gegenüber den abgehängten Arbeitern zu demonstrieren, indem sie Frauen ihrer eigenen Klasse aus der Arbeitswelt ausschloss, damit sich diese der Gebärfunktion widmen konnten. Männer wurden zu Ernährern, Frauen zu Hausfrauen – Rollen, die in abgewandelten Formen bis heute fortbestehen. Die Erziehung wurde auf die jeweiligen Rollen der Geschlechter zugeschnitten, und in einem Zirkelschluss wurden Fähigkeiten und Charaktereigenschaften ermittelt, die jedes Geschlecht für seine jeweilige Rolle vorbestimmten. Selbst als in den westlichen Ländern in den 1960er-Jahren viele verheiratete Frauen zu arbeiten begannen, blieben sie weiterhin für die Kinderbetreuung und die Hausarbeit zuständig.
«Das Ausmass an Gewalt, Belästigung
und Missbrauch von Frauen durch Männer
ist nach wie vor hoch. Diese Verletzlichkeit hat nichts mit
Identität, wohl aber mit weiblichen Körpern zu tun.»
Dass Männer und Frauen im britischen Recht heute weitgehend gleichgestellt sind, ist den Bemühungen früher Frauenrechtlerinnen zu verdanken, die versuchten, die Zwangsläufigkeit aufzubrechen, die einen geschlechtlichen Körper gesellschaftlichen Geschlechternormen unterwarf. Indem sie die Schichten geschlechtsspezifischer Normen und Sozialisierung identifizierten und diese Normen von ihrer Verbindung mit bestimmten Körpern trennten, versuchten Feministinnen, die Beschränkungen des Zugangs von Frauen zu Rechten, die Männer genossen, sowie die Mechanismen, die Männern Rechte und Macht über Frauen verliehen, zu beseitigen. Dank der Kampagnen der Feministinnen der Ersten Frauenbewegung wurden die Beschränkungen für den Zugang zu höherer Bildung und zu Berufen mit dem Sex Disqualification (Removal) Act von 1919 aufgehoben. Mehr als ein halbes Jahrhundert später kämpften die Feministinnen der Neuen Frauenbewegung wiederum gegen die Hindernisse, die Frauen auf ihre biologische Rolle als Mütter und ihre soziale Rolle als Hausfrauen zurückwarfen, was 1975 zur Verabschiedung des Sex Discrimination Act und zur Einführung des Schwangerschafts- und Mutterschaftsschutzes führte.
Ausbruch aus den Geschlechterrollen
Im englischen Recht – wie auch im Sprachgebrauch generell – wurde lange das Wort «sex» zur Beschreibung der Kategorien «männlich» und «weiblich» verwendet. Der Begriff «gender» hingegen tauchte in der englischen Gesetzgebung oder in allgemeiner Verwendung nur in bezug auf Sprache auf. In den 1970er-Jahren führten ihn dann die Feministinnen der Zweiten Frauenbewegung ein, um damit die sozialen Merkmale und Rollen zu bezeichnen, die mit Männern und Frauen assoziiert werden, weil sie erkannten, dass der Kampf der Ersten Frauenbewegung um die Jahrhundertwende, die sozialen Aspekte des Frauseins von den biologischen zu trennen, lange noch nicht abgeschlossen war. Die Soziologin Ann Oakley schreibt 1972 in ihrer Studie «Sex, Gender and Society»: «Sofort nach der Geburt wird nicht nur das Geschlecht (‹sex›) eines Neugeborenen klassifiziert, sondern ihm auch eine Geschlechterrolle (‹gender›) zugeschrieben.» Aus dieser Zuschreibung ergab sich der lebenslange Prozess der «Sozialisierung» in die entsprechende männliche oder weibliche Rolle bis zum Punkt, an dem es schwierig zu unterscheiden war, was angeboren und was erlernt war. Die Feministinnen jener Ära waren sich auch der Macht der Benennung eines Problems bewusst: Sie führten die Begriffe «Sexismus» und «sexuelle Belästigung» in die englische Sprache ein – und damit die Möglichkeit, die Erfahrungen von Frauen zu beschreiben und ihnen Gehör zu verschaffen. Sie benannten also Geschlechterrollen als Problem und setzten sich dafür ein, solche loszuwerden – um Männern wie Frauen sämtliche Rollen und Seinsweisen zu eröffnen und die naturalisierten Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit zu zerstören.
Im Zuge der Entwicklung der feministischen Theorien wurde der Begriff «gender» dann erweitert, um das Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu beschreiben – eine Machtbeziehung, in der Männer das dominante Geschlecht und Frauen das untergeordnete sind. Infolge dieses neuen Verständnisses lösten in den 1990er-Jahren die Gender Studies die «Women’s Studies»-Kurse ab, wobei das Ziel nun darin bestand, die Dynamik zwischen den Geschlechtern zu erforschen und nicht nur die Erfahrungen der Frauen zu beschreiben.
Die nachfolgende Veränderung bestand darin, dass der Begriff «gender» als Synonym für «sex» in dem Sinne verwendet wurde, wie er von früheren Feministinnen – und vom Gesetz – verstanden worden war: Das heisst, er bezog sich auf den Zustand, männlich oder weiblich zu sein, und nicht auf die spezifischen sozialen Aspekte, ein Mann oder eine Frau zu sein. Dieser Sprachgebrauch wurde von Einrichtungen übernommen, die die Ungleichheit und Unterordnung von Frauen bekämpfen wollten, und führte dazu, dass das Wort «gender» in vielen Formularen und in Begriffen wie «gender pay gap» das Wort «sex» ersetzte. Die Vermengung von «sex» und «gender» schuf die Möglichkeit, «sex» ganz abzuschaffen – und damit auch die Vorstellung, dass es eine biologische Grundlage für Geschlechtsunterschiede gibt. Wenn Geschlecht nur ein soziales und kulturelles Konstrukt ist, wie postmoderne Akademiker behaupteten, dann hat der Körper keine Bedeutung mehr.
Für den Schutz von Geschlecht und Körper
Was also bei den jüngsten geschlechterpolitischen Debatten in weiten Teilen der westlichen Welt auf dem Spiel steht, sind nicht nur die Menschenrechte für eine kleine Gruppe von Menschen, die das Gefühl haben, im falschen Körper geboren worden zu sein. Es geht um die Definition dessen, was eine Frau ist. Das Ersetzen des Konzepts «Geschlecht» durch den jüngst populär gewordenen Terminus «Geschlechtsidentität» verwischt die Verbindung zwischen der Unterdrückung von Frauen und ihren Körpern und lässt uns ohne einen Begriff für einen erwachsenen weiblichen Menschen zurück. Ohne ein entsprechendes Wort droht das Konzept selbst zu verschwinden. Aus diesem Grund müssen wir die rechtlich geschützte Kategorie Geschlecht («sex») beibehalten, um weibliche Personen zu schützen.
Frauen sind noch nicht überall gleichgestellt; sie werden routinemässig bei Berufungen, Schulungen oder Beförderungen übergangen, weil sie eine Auszeit nehmen, in Teilzeit gehen oder Kinder bekommen könnten; es besteht ein erhebliches geschlechtsspezifisches Lohngefälle, und sie werden immer noch willkürlich entlassen oder zurückgestuft, wenn sie schwanger werden. Von Frauen wird nach wie vor erwartet, dass sie den Löwenanteil der Kinderbetreuung und – siehe die Covidpandemie – der häuslichen Schulbetreuung übernehmen, was sich wiederum auf ihre Fähigkeit auswirkt, einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen. Frauen sind nicht einmal sicher: Das Ausmass an Gewalt, Belästigung und Missbrauch von Frauen durch Männer ist nach wie vor hoch. Diese Ungleichheit und diese Verletzlichkeit haben nichts mit Identität, wohl aber mit weiblichen Körpern zu tun.
In einer Welt, in der lange Zeit einzig die Erfahrungen von Männern als nacherzählenswert und erinnerungswürdig galten, haben Feministinnen gegen viele Widerstände gekämpft, dass die Gesellschaft die Erfahrungen von Frauen und deren Geschichte anerkennt. «Geschlecht» aus dem Schutz des Gesetzes zu nehmen und mit «Geschlechtsidentität» zu ersetzen, scheint nur ein weiteres Beispiel für solchen Widerstand zu sein. Folglich gilt es, politisch wachsam zu sein.