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Feminismus ohne Scheuklappen

Feminismus ohne Scheuklappen

Kathleen Stock: Material Girls. Why Reality Matters for Feminism.

 

Der trostlose Zustand der Genderforschung ist bekannt: Ihre theoretische Glanzleistung soll «Intersektionalität» sein, die kaum über das Aufzählen unveräusser­licher Merkmale hinausreicht, während das Räsonieren über Belangloses schamlos als gewichtige Denkleistung ausgegeben wird. Zugleich sprudelt dort der Totalverrat an denjenigen Frauen, Mädchen und sexuellen Minderheiten, die unzumutbaren Verhältnissen ausgesetzt sind, welche sich weder sprachlich wegzaubern noch mit jenem Glitzer besprenkeln lassen, der im Jargon «Empowerment» heisst. Absoluter Tiefpunkt dieser regressiven Tendenzen ist der esoterische Begriff «Geschlechtsidentität», dessen bizarrem Aufstieg gerade live beigewohnt werden kann. Hing die Judith-Butler-Gefolgschaft in den 1990er Jahren noch dem pseudoradikalen Gedanken an, Geschlecht sei nicht etwas, was man habe, sondern etwas, das man mache, heisst es nun aus denselben sowie aus transaktivistischen Kreisen, Geschlecht sei eine Frage subjektiven Fühlens, ein «tiefes inneres Wissen» – womit das gendertheoretische Niveau endgültig auf das von Astrologie und Theosophie abgesunken ist.

Dass diese Anspruchslosigkeit, Denkfaulheit und Wirklichkeitsverweigerung gerade einer systematischen Revision unterzogen wird, ist das Verdienst des genderkritischen Feminismus – namentlich der Philosophinnen Sophie Allen, Jane Clare Jones, Holly Lawford-Smith, Mary Leng, Rebecca Reilly-Cooper und Kathleen Stock. Letztere hat nun mit «Material Girls» eine Studie vorgelegt, deren augenzwinkernder Titel nicht vom Ernst der Lage ablenken sollte. Denn der Fokus auf immaterielle Werte wie «Vielfalt» und «Inklusion» wirkt oftmals gerade nicht sehr konkreter männlicher Dominanz und Gewalt entgegen, wie Stock zeigt, sondern steht seit geraumer Zeit für den systematischen Abbau feministischer Errungenschaften unter progressivem Deckmantel. Räume, die einst nur weiblichen Menschen offenstanden – ob Zufluchtsstätten oder Gefängnisse –, werden stillschweigend in gemischtgeschlechtliche transformiert, weil als Frauen «fühlende» Personen nicht ausgeschlossen werden sollen; Gleiches gilt für Sportteams oder Dating-Apps. Parallel dazu wird an geschlechtsbasierten Gesetzen geschraubt, die durch jahrzehntelange Arbeit errungen worden sind, während Individuen angefeindet werden, die Einspruch gegen diese Entwicklungen erheben – wozu auch Stock selbst zählt.

Zu klären, wie es so weit kommen konnte, ist ein Anliegen ihrer Abhandlung, die trotz des fachlichen Hintergrunds der Autorin in analytischer Philosophie betont allgemeinverständlich ist. Die eingangs genannten Tendenzen bezeichnet sie an einer Stelle treffend als «unbewusste mentale Kapitulation» vor der Wirklichkeit, vor den politischen Gegebenheiten und vor aktivistischen Irrwegen. Neben basaler Aufräumarbeit, was grundlegende Begriffe wie «Geschlecht» und «Frau» angeht, leistet «Material Girls» vor allem einen dringenden Diskussionsbeitrag für bessere Debatten zwischen Hochschulen, Öffentlichkeit und Politik: auf dem Boden der Realität und im Wissen darum, dass das Subjekt des Feminismus Frauen sind.


Kathleen Stock: Material Girls. Why Reality Matters for Feminism. London: Hachette UK, 2021.

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