Die erfolgreich depolitisierte Rechtschreibreform
Die Diskussion muss wieder politisch werden
Die Reformer waren erfolgreich, weil sie ihre politischen Motive verschleiert haben. Diese lassen sich bis in die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ausmachen: Schreibfähigkeit soll kein Mittel sozialer Distinktion sein, nicht als Instrument der Auslese dienen. Die Rechtschreibung galt als Bildungsbarriere, die Angehörige der unteren Schichten unverhältnismäßig stark behindere. Simple Regeln sollten der Demokratisierung der Bildungschancen dienen. Diesem Ziel lag die Annahme zugrunde, die Orthographie folge nicht sprachinternen Gesetzen, sondern sei künstlich kompliziert gemacht worden, damit sie nicht jeder beherrschen kann – Rechtschreibung als Machterhaltungsinstrument der herrschenden Klasse.
Mit diesen Motiven hätten die Reformer die Zustimmung der Politiker niemals erreicht. Also depolitisierten («versachlichten») sie die Debatte. Sie stimmten sich international ab, hatten ein fertiges Konzept, das die Politik nur noch umzusetzen brauchte. Und sie waren bereit, jeden Einschnitt in ihr Reformpaket hinzunehmen, damit ein erster Schritt getan würde. Für die Politik hatte die Reform eine Alibifunktion. Man konnte seine Bereitschaft zur Modernisierung beweisen. Strukturelle Reformen im Bildungswesen sind schwieriger, und dafür gibt es keine fertigen Konzepte.
Die Gegner der Neuregelung sollten einsehen, daß die ewige Diskussion um die Brauchbarkeit der neuen Regeln ungeeignet ist, Politiker zum Handeln zu bewegen. Nicht einmal die Reformer halten ihr Werk uneingeschränkt für gut, nur ist das eben nicht der Punkt. Die Diskussion muß zunächst eine politische werden, erst danach eine sprachwissenschaftliche. Die Überbewertung von orthographischer Kompetenz in der Gesellschaft nimmt mit der Neuregelung eher zu – was vermeintlich einfacher geworden ist, muß auch wieder jeder können. Es gilt nachzuweisen, daß die Reform keinen Beitrag zur Vereinfachung des Schriftsprachenerwerbs leistet. Dabei ist bedeutsam, daß sich die Neuregelung von sprachinternen Entwicklungstendenzen entfernt hat und somit neue Probleme hervorruft.
Selbstbewußte und kompetente Schreiber können mit oder ohne neue Regeln alles ausdrücken, weil sie Schreibnormen gegenüber nicht hörig sind. Anders sieht es für die Schule aus. Jeder muß die gleiche Chance erhalten, sich Bildung (und dazu gehört die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken und korrekt zu schreiben) anzueignen. Die Wege zur Bildung, nicht die Bildungsgüter als solche, sind daher zu reformieren. Langfristig brauchen wir eine Schreibnorm, die sich den Entwicklungstendenzen der Sprache wieder annähert, eine bessere Vermittlung der Norm – und einen anderen Umgang mit ihr.
Die Politik hat sich zum Werkzeug machen lassen, ohne die Intentionen der Reformer zu teilen. Das gilt es zu korrigieren – und das geht nur mit einer konsequenten Politisierung der Debatte. Dabei ist die Frage zu stellen, welche Rolle Sprach- und Schreibvermögen künftig in der Gesellschaft spielen soll. Die Latte niedriger zu hängen, statt die Sprungkraft zu trainieren, ist keine akzeptable Lösung – weder für den Olympiateilnehmer noch für den Gelegenheitssportler.
Heide Kuhlmann, geboren 1971, koordiniert seit Oktober 2003 die Sonderprojekte der Zeitschrift «PC-Welt», IDG Magazine Verlag, München. Zum Thema «Rechtschreibreform» publi-zierte sie unter dem Titel: «Orthographie und Politik. Zur Genese eines irrationalen Diskurses» (http://www.heide kuhlmann.de/ma_frame.html). (h.kuhlmann@gmx.net)