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Die Entstehung des Staates

Wer in den Besitz von lebenswichtigen Ressourcen gelangen will, kann dies auf zwei Arten tun: durch friedlichen Tausch oder durch gewaltsame Aneignung. Die erste ist das «wirtschaftliche», die zweite das «politische Mittel».

«Es gibt zwei grundsätzlich entgegengesetzte Mittel, mit denen der überall durch den gleichen Trieb der Lebensfürsorge in Bewegung gesetzte Mensch die nötigen Befriedigungsmittel erlangen kann: Arbeit und Raub, eigne Arbeit und gewaltsame Aneignung fremder Arbeit. ‹Raub! Gewaltsame Aneignung!› Uns Zeitgenossen einer entwickelten, gerade auf der Unverletzlichkeit des Eigentums aufgebauten Kultur klingen beide Worte nach Verbrechen und Zuchthaus; und wir werden diese Klangfarbe auch dann nicht los, wenn wir uns davon überzeugen, dass Land- und Seeraub unter primitiven Lebensverhältnissen geradeso wie das Kriegshandwerk – das ja sehr lange auch nur organisierter Massenraub ist – die weitaus angesehensten Gewerbe darstellen. Ich habe aus diesem Grunde und auch deshalb, um für die weitere Untersuchung kurze, klare, scharf gegeneinander klingende Termini für diesen sehr wichtigen Gegensatz zu haben, vorgeschlagen, die eigne Arbeit und den äquivalenten Tausch eigner gegen fremde Arbeit das «ökonomische Mittel», und die unentgoltene Aneignung fremder Arbeit das «politische Mittel» der Bedürfnisbefriedigung zu nennen.

Das ist nicht etwa ein neuer Gedanke: von jeher haben die Geschichtsphilosophen den Gegensatz empfunden und zu formulieren versucht. Aber keine dieser Formeln zeigt den Gedanken völlig zu Ende durchgedacht. Nirgend kommt es klar zur Erkenntnis und Darstellung, dass der Gegensatz nur in den Mitteln besteht, mit denen der gleiche Zweck, der Erwerb ökonomischer Genussgüter, erreicht werden soll. Und gerade darauf kommt es an. Man kann es an einem Denker vom Range Karl Marx’ beobachten, zu welcher Verwirrung es führen muss, wenn man ökonomischen Zweck und ökonomisches Mittel nicht streng auseinanderhält. Alle Irrtümer, die die grossartige Theorie zuletzt so weit von der Wahrheit abführten, wurzeln im tiefsten in jenem Mangel an scharfer Unterscheidung zwischen Zweck und Mittel der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung, der ihn dazu führte, die Sklaverei als eine «ökonomische Kategorie» und die Gewalt als eine «ökonomische Potenz» zu bezeichnen: Halbwahrheiten, die gefährlicher sind als Ganzunwahrheiten, weil sie schwerer entdeckt werden und Fehlschlüsse kaum vermeidbar machen.

Unsere scharfe Scheidung zwischen den beiden Mitteln zum gleichen Zweck wird uns dazu verhelfen, jener Verwirrung auszuweichen. Sie wird uns der Schlüssel sein zum Verständnis der Entstehung, des Wesens und der Bestimmung des Staates; und, weil alle Weltgeschichte bis heute nichts anderes als Staatengeschichte war, zum Verständnis der Weltgeschichte. Alle Weltgeschichte bis heute, bis empor zu uns und unserer stolzen Kultur, hat und wird haben, bis wir uns zur Freibürgerschaft durchgekämpft haben, nur einen Inhalt: den Kampf zwischen dem ökonomischen und dem politischen Mittel.»

Franz Oppenheimer, «Der Staat. Eine soziologische Studie», Frankfurt a.M. 1907. In: Bd. 2 des Archivs für Sozial- und Kulturgeschichte. Berlin: Libertad Verlag, 1990, S. 19–20.

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