Die Brücke
Hier ist nicht Asien, nicht Europa. Nein: hier ist die Brücke dazwischen. Buchstäblich. Gerade stehe ich – unfreiwillig, denn mein Mietwagen ist stehengeblieben – zwischen zwei Kontinenten, auf der Bosporus-Brücke: der Wind in meinen Haaren weht aus Asien herüber, der Teer unter meinen Füssen, klebend an einer monströsen Stahlkonstruktion, stammt aus Europa. Mehr als 64 […]
Hier ist nicht Asien, nicht Europa. Nein: hier ist die Brücke dazwischen. Buchstäblich. Gerade stehe ich – unfreiwillig, denn mein Mietwagen ist stehengeblieben – zwischen zwei Kontinenten, auf der Bosporus-Brücke: der Wind in meinen Haaren weht aus Asien herüber, der Teer unter meinen Füssen, klebend an einer monströsen Stahlkonstruktion, stammt aus Europa. Mehr als 64 Meter unter mir, im Blaugrün des Wassers, verläuft eine uralte Grenze, mein linker Schuh steht in Asien, der rechte in Europa.
Jeder, dem ich erzählte, dass ich nach Istanbul reisen würde, und der selbst schon einmal dort gewesen war, sagte, dass ich mich in die türkische Brückenstadt verlieben würde. «Gerade du!» Gerade ich? Nun: jeder vielreisende Mensch beschäftigt sich irgendwann mit der Frage: «Wo werde ich eines Tages landen? An welchem Ort, auf welchem Kontinent werde ich meine Wurzeln schlagen?» Istanbul gehörte bisher nicht zu diesen potentiellen Wurzelorten. Die Stadt zählt zu den grössten der Welt. Mehr wusste ich nicht über Istanbul. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich vor einer Reise mit Reiseführern auf klugen Informationsaustausch treffen. Aber tatsächlich: Ich habe mich in die Gerüche, in die Farben, in die Geräusche und in die dicken Möwen an den Quais des Bosporus im ersten Augenblick verliebt. Gerade mir, die ich wegen meines orientalischen Aussehens in der Schweiz auf Hochdeutsch und wegen des westlichen Einschlags in China auf Englisch angesprochen werde, wird die Ware auf dem Basar auf Türkisch angeboten. Erst beim zweiten Anlauf wechseln die Verkäufer ins Englische.
Gerade ich? Gerade ich. Während ich auf den Abschleppdienst warte (von welchem Kontinent mag er kommen?), geniesse ich nicht nur einen sehr exklusiven, atemberaubenden Ausblick über die Stadt mit ihren Moscheen und Minaretten, sondern auch über eine aberwitzige Menge aus Schiffen und Kähnen, die sich zu fast jeder Tages- und Nachtzeit wie Könige auf dem Bosporus aufführen. Ich finde: Ja, hier, genau hier, würde ich, gerade ich, meine Wurzeln schlagen wollen. Leider hat noch nie ein Baum auf einer Brücke seine Wurzeln geschlagen. Es bleibt für den Moment also bei einem sehnsüchtigen Blick. Und bei der Frage, welcher Fuss wohl gerade besseren Halt gibt: der linke, asiatische, oder der rechte, europäische?