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Nacht des Monats bei der Vernissage zu «Schnitz und drunder»

Nacht des Monats bei der Vernissage zu «Schnitz und drunder»
Der Tisch, fotografiert von Serena Jung.

Wenn ich meine Eltern besuche, kann es passieren, dass beide in der Küche stehen und jeder sein eigenes Süppchen kocht. Wortwörtlich: bei meiner Mutter ist es eine «Habersuppe», bei Vater eine koreanische Brühe mit Algen und Tofu. Sie seien nun mal in dem Alter, in dem der Hunger nach dem Geschmack der Kindheit verlange, und deshalb brauche es zwei Suppen. Das Nostalgieargument schlägt jeden Einwand, also verlasse ich das elterliche Heim stets mehr als gut genährt. Als ich der Medienkünstlerin Andrea Gsell an einem Frühlingsabend davon erzähle, verzieht sie keine Miene, sondern schliesst nahtlos daran an. Für das Projekt «Schnitz und drunder» habe sie Mitglieder aus drei Familien – alle zwischen 18 und 101 Jahre alt – zu ihren Ess- und Tischgewohnheiten befragt, wobei immer wieder besondere Geschmackserinnerungen aufgetaucht seien. Ältere Leute etwa erinnerten sich besonders häufig an den Gaumenschmaus von Erbsen, die sie nach dem Krieg direkt von der Staude assen.

«île flottante», die «treibende Insel», nennen sich Andrea Gsell und Nica Giuliani, ebenfalls Medienkünstlerin, seit zehn Jahren. Ich treffe die beiden und Stephan Brunner, Musiker und Elektroniker, mit dem sie für das Kunstprojekt «Schnitz und drunder. Ein Tisch erzählt» zusammengearbeitet haben, im Zürcher «Kafi für dich». Den Star des Abends, einen interaktiven Tisch, übersehe ich natürlich viel zu lange. Ist er das? Ein Nicken. Und als ich die Frage nachschiebe, was denn «Schnitz und drunder» eigentlich für ein Menu sei, da prasseln die Antworten von allen drei Seiten gleichzeitig auf mich ein. Einigen können sie sich dann auf ein Nordwestschweizer Gericht mit drei Komponenten: Frucht (Äpfel oder Birnen), Kohlenhydraten (Kartoffeln) und Fett (Rahm, Speck). Um Essbräuche gehe es ihnen und damit auch um ein Stück Schweizer Kulturgeschichte. An diesem Abend findet die sechste Vernissage des Tisches statt, mit dem sie zu einer kleinen Schweizerreise angetreten sind – aber nicht nur deshalb sieht er ein wenig mitgenommen aus.

An den Gebrauchsspuren wie Hicken, Kratzern oder dem Flecken eines Weinglases sind «kapazitive Sensoren» angebracht. Was diese genau sind, verstehe ich auch nach der dritten Erklärung noch nicht. Aber was sie auslösen, das kann ich über Kopfhörer erfahren: Ich streiche mit der Hand über die Tischplatte, und bei jeder der sieben Spuren, die es erst zu ertasten gilt, setzt eine andere Stimme ein, die davon erzählt, wie es früher bei ihr am Esstisch zu und her ging.

«Schlöörfed denn ned so!» Das durfte man bei Tisch nicht, sonst durfte man aber «allerlei». Zum Weinfleck gehört eine Dame mit Trudi Gersterschem Erzähltalent, die bald zu meiner Lieblingsstimme avanciert. Also bleibe ich lange sitzen, und während sich vor meinem inneren Auge ein Sonntagsfrühstück unter Bäumen, einsame Mittagessen im Familienbetrieb und «Cafés complets» – Kaffee, Konfitüre und Butter – auftun, werden der Tisch und ich mit ihm von immer mehr Menschen umzingelt. Über mein Haupt hinweg wandern Bébés vom einen Paar Arme in das nächste, noch nicht Geborene winden sich unter Bauchfellen und die Angehörigen der restlichen Generationen wechseln sich auf den drei nicht von mir belegten Stühlen ab. Irgendwann gebe ich meine Kopfhörer dann doch frei und setze mich an den Nebentisch, an dem immer mal wieder eine der «Inseln» vorbeikommt – ganz flottant/e.

Zürich sei eigentlich als letzte Station der Tischtour vorgesehen gewesen, doch hätten sich bereits weitere Interessenten gemeldet, die das Wunderding zeigen möchten. Dabei sei ihr klar: Verkaufen könnte sie den Tisch nie und nimmer, sagt Andrea, zu sinnlich sei die Beziehung zu ihm geworden.

Zusammen mit den Grossvätern, Patentanten und Freunden von Cousinen verabschiede ich mich vom zurückbleibenden Tisch. Beim Vorbeigehen streiche ich unbemerkt noch einmal über den Weinfleck, bevor ich dieselbe Bewegung auf meinem Mobiltelefon wiederhole. Darauf Nachricht von Mutter aus dem Urlaub: Spaghetti mit Artischockensauce und Fisch, danach vielleicht noch Crostata ai frutti di bosco. Was der Vater isst, erwähnt sie nicht.

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