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«Das Gespenst der Hoffnungslosigkeit ist mein Gespenst»

Trauerrede auf Jürg Federspiel

«Das Gespenst der Hoffnungslosigkeit ist mein Gespenst»

Wer erinnert sich noch an den 11. Januar? Im Schneewirbel von New York taucht ein Schiff auf. Es wurde, wie es heisst, «erst bemerkt, als es die Bannmeile verletzt hatte». Und da «war noch anderes, das befremdete». Aus dem Bericht des Offiziers der Immigrationsbehörde: «Der Anblick war so leblos wie ein Scherenschnitt. Die Segel waren zerfetzt und ein Mast gebrochen. … Der Schnee fiel erbärmlich, mit Erbarmen also, und als der letzte Mann das Schiff verlassen hatte, lag das Weiss vom Himmel wie ein handhohes Leichentuch auf dem Deck der Leibnitz.» So steht’s im Kapitel «Eins» der «Ballade von der Typhoid Mary» (1982).

Im Werk von Jürg Federspiel fand dieser schwärzeste Tag am 11. Januar 1868 statt. Im wirklichen Leben war es der 11. Januar 2007. Als der fahle Poet, unser Freund, dieser liebenswürdige traurige Mensch zuletzt in Basel gesehen worden war. «Selig und mehr denn selig ist der Mann, der seinen Tod erkennt, der weiss um die Stunde seines Todes», schrieb 1530 der Basler Stadtarzt und Professor Hohenheim, genannt Paracelsus.

«Selig der Mann, der sich erwählet seinen Tod.» In den Worten Paracelsus’ ist die Selbsttötung vielleicht nicht ausgeschlossen, als eine äusserste Möglichkeit. Im Kontext war aber diese Lösung nicht gemeint, von einem Arzt gewiss nicht empfohlen. Näher liegt eine Mahnung. Es geht um bewusstes Sterben im Sinne von: «Philosophieren heisst Sterbenlernen.» So haben es Platon, Cicero und die Stoiker gelehrt.

Jürg Federspiel hat uns verlassen. Wir sind zurückgeblieben. Nicht um ihn müssen wir uns kümmern, nicht um seine «ertrunkenen Augen», wie es in einem seiner fatalen Gedichte ausgedrückt ist. Eher schon um die Fragen in unseren eigenen Augen. Allen sagt es der Dichter, einigen der Freund, der Bruder, der einstmals Angetraute, der Vater:

«Du wartest auf meine Fragen:

Sie sind in Deinen Augen zu sehen.

Augen, nur Augen, in deren wartende

Tiefe ich falle und schweige.»

Wir sind es, die ihm nachschauen. Für unsere Augen, in die das Schweigen Jürg Federspiels einfällt, gilt nicht, was für die Augen des Dichters Wirklichkeit geworden ist:

«Die Augen können auch ohne dich sehn.»

Die meisten von uns, wohl alle, haben aufgeatmet, als der Strom beim Kraftwerk von Weil am Rhein den Leichnam endlich freigegeben hat. Keine Selbstverständlichkeit. Schaurige Flussmythen erzählen von Orten und Stätten, wo Verschwundene nie wieder zum Vorschein gekommen sind. Die sogenannten verfluchten Plätze. Mit dieser Möglichkeit, liebe Mittrauernde, hätten wir uns abfinden müssen. Der Mann, dem wir die letzte Ehre geben, hat uns verlassen wie einer, der nicht zurückschaut.

Sehen lernen? Sterben lernen? Sehen, bis man es nicht mehr erträgt und deshalb lieber stirbt. Was hat Federspiel nicht alles gesehen: in den Müllhalden von New York, in Vietnam, auf Schlachtfeldern des alten Europa, von denen der Ruhm längst Abschied genommen hat. Fortgeworfene Kinderwagen, die hoch oben in den Bäumen hängen, «überall verbrannte Puppen, die – so erzählt man – bei Regenwetter weinen und die blauen Plastikaugen verdrehen, wenn man an den Ästen schüttelt. Puppenglieder liegen herum, zertrümmerte Verkehrsschilder, verrostete Fässer mit stinkendem Wasser, unsterbliches Plastik-Material … Ich spüre mein Herz klopfen. Vietnam ist allgegenwärtig und vergessen. Es gibt nichts Ungenaueres als Einzelheiten, auch in der Geschichte. Seit uns irgendein Etwas Alles vom Angesicht der Welt wegwischen kann, erkenne ich keinen Unterschied mehr zwischen Natürlichem und Unnatürlichem.» («Wahn und Müll», 1983).

Der Mann, von dem wir Abschied nehmen, hat auch vor der Schweiz die Augen nicht verschlossen. «Ich mag dieses Land», sagte er einmal, «seine Gesinnung deprimiert mich zuweilen; ich kann nur mitunter kosmopolitisch denken.» So hat er vor 40 Jahren New York für sich entdeckt. Was da mal an einem 11. September passieren sollte, ist es nicht in der Formel «Museum des Hasses» auf trockenste Art vorweggenommen? «Der Dichter», bekannte der Lyriker Nikolaus Lenau, als er von Wien nach Amerika floh, mit dem geerbten Geld seiner Grossmutter, «der Dichter hört den Katarakt aus der Ferne.» Er nimmt das Schreckliche, das Entsetzliche, das auf uns zukommt, vorweg.

Unter derlei Gesichtspunkten habe ich Mühe, von einem Vermächtnis Jürg Federspiels zu sprechen. Der Ausdruck passt nicht zur Zärtlichkeit und Gewalt seiner Worte. Der Mensch, von dem wir heute Abschied nehmen, hielt sich weder für gut noch gross. In einem vertraulichen Brief von 1984 schrieb er: «Vielleicht bin ich sogar zynisch geworden (swiftisch?), ich weiss es nicht, ich bin kein Freund des Menschen, ich verfüge nicht über Goethesche Grösse, ich bin ein Hassender, auch ein Liebender, und ich vermag nur in blitzschnellen Erlebnissen der Menschheit zu verzeihen, der Menschheit in einer Person, oder natürlich in jedem Kind.»

Federspiel hat in seinem Leben viel geschaut und oft gestaunt. Das Bild und Abbild der Schöpfung hat sich aber dabei nie zu einem Vermächtnis verdichtet, eher schon zu einem Abgrund verdüstert. Was bleibt, ist keine Idee, keine Lehre. Nur eine traurige Stimme, die einem kindlichen Auge Ausdruck verschafft: «Es war Nacht, ich sah aus dem Fenster des vierzehnten Stockwerks. Der Anblick New Yorks mit seinen Zehntausenden von Lichtern ist wahrhaft gewaltig und schön. Ich fragte mich, ob nicht jedes Licht für den Wunsch eines Menschen stehe, König für wenigstens eine Nacht zu sein, in der Dunkelheit millionenfacher Enttäuschung.» («Manhattan und ein Boxer», 1984)

Von allen Schriftstellern der Schweiz ist er der letzte, wirklich der letzte, der uns schulmeistern will. Wer es sich hierzulande wohl sein lassen will, für den bleibt es bekömmlicher, nicht zu sehen, was er sah, nicht zu fühlen, was er litt. Am allerwenigsten besteht Bedarf, sein elendes Sterben in etwas, das irgendwie schön wäre, passend und sinnvoll, umzudeuten.

Von einem Menschen Abschied nehmen heisst, seiner Lebensumstände zu gedenken. Handelt es sich um einen Schriftsteller oder Künstler, neigt man dazu, den Menschen hinter seinem Werk zu verstecken.

Geboren wurde Jürg Fortunat Federspiel am 28. Juni 1931 in Grafstal bei Kemptthal, einer damals waldreichen Gegend. Getauft wurde er in der Michaelskapelle Winterthur, dem Gotteshaus der christkatholischen Denomination. Dieses undogmatische Minderheitsbekenntnis war ein grossväterliches Erbe. Zusammen mit seiner Schwester Pia verlebte der Bürger von Domat-Ems seine Kindheitsjahre in Davos. In den vierziger Jahren zog die Familie zunächst nach Zürich, wo Jürg mit seiner Schwester die Rudolf-Steiner-Schule an der Plattenstrasse besuchte, dann nach Basel, wo er mit mässigem Erfolg die Mittelschule absolvierte. Den aus Klosterschulen ausgestatteten humanistisch-lateinischen Schulsack seiner auch darum bewunderten Kollegen Meienberg und Hürlimann glaubte er schmerzhaft vermissen zu müssen. Schon früh, als Gymnasiast, verlor Federspiel seinen Vater. Das einzige Ereignis in seinem Leben, das er autobiographischer Erwähnung für würdig fand. Dreimal reiste der junge Mann ins Tessin, um seinem todkranken Vater beizustehen. Zweimal kam er gewissermassen zu früh, beim dritten Mal zu spät.

«Mein Vater eignete sich nicht als Leiche», schrieb Friedrich Dürrenmatt, der wie Federspiel ausser dem Tod des Vaters fast nichts über sein Leben verlauten liess. Noch schlechter aber eignete sich Jürg Federspiel als Leiche. Seinem Sohn wurde dringend abgeraten, die sterblichen Überreste des Vaters noch einmal zu sehen. Dreimal verheiratet und ebensooft wieder geschieden, scheint Jürg Federspiel auch für die Rolle des Ehemanns über nur mässige Eignung verfügt zu haben. Doch er war ein Liebender. Wer ihn kennt, weiss das. Und ist er auch mit seinem letzten grossen literarischen Plan gescheitert, einem Davos-Roman, dem Federspielschen Zauberberg, so ist er doch als Vater nicht gescheitert. Die Beziehung zu Maurus, dem Sohn, war eine unvergleichliche Freundschaft, der gegenüber die anderen guten Freundschaften zurückzutreten haben. Vater – Mutter – Kind: einmal im Leben von Jürg Federspiel hat diese Beziehung stattgefunden. Keine heilige Familie, aber doch etwas, das aus der Sicht des Historikers zur zustimmungsfähigen Seite des Lebens zu zählen ist. In der Zwischenzeit, noch im Januar, ist der Enkel geboren. Fortunat Federspiel.

Ich habe Jürg Federspiel als einen Mann von Charakter kennengelernt. Dies gilt zumal für die Jahre und Jahrzehnte nach 1968. Damals wurde es unter Schriftstellern abermals Mode, die Welt und seinesgleichen in Lager einzuteilen. Jenseits auch nur eines Hauches von Hurrapatriotismus waren es Hugo Loetscher und Jürg Federspiel, die sich bei der hochideologisch motivierten Spaltungsbewegung zwischen dem damaligen Schweizer Schriftstellerverband und der «Gruppe Olten» nicht ins Bockshorn und zu Grabenkämpfen jagen liessen. Die im besten Sinne des Wortes vornehme Haltung Jürg Federspiels kann da nicht hoch genug eingeschätzt werden. War er doch mit zwei der radikalsten Autoren der damaligen Zeit, Walter Matthias Diggelmann und Niklaus Meienberg, in tiefer Freundschaft verbunden. Das bedeutete für ihn nicht, sich deswegen auch den Feindbildern oder sonstigen fragwürdigen Verstrickungen der Freunde anzuschliessen. Dieser hohe Grad von Unabhängigkeit, den man nicht nur seinen Gegnern, auch seinen Freunden schuldet, machte Jürg Federspiel zu einem Freigeist seiner Epoche. Kollegialität und Freundschaft sind das eine. Klüngelwirtschaft und blosse Lagersolidarität das andere. Jürg Federspiel stand sein Leben lang für die erstgenannten Werte. Um sein Freund zu sein, musste man nicht automatisch auf der richtigen Seite der Barrikade stehen. Das galt auch für die Freundschaft mit Frauen.

Der späte Jürg Federspiel ist, wie kaum ein zweiter Autor seines Ranges, im deutschsprachigen und schweizerischen Literaturbetrieb noch zu Lebzeiten aus den Traktanden gefallen. Selbst sein Meisterwerk, «Die Ballade von der Typhoid Mary», erwies sich nicht als der Welterfolg, als der es wegen einer positiven Nennung auf der Bestenliste der New York Times allgemein gehandelt wird. Weder kam es zur gewünschten Verfilmung, noch ist das Thema «Typhoid Mary» in Amerika nachhaltig genug mit dem Namen Federspiel verbunden. Der Schweizer mit der Leidenschaft für die Mythen der Stadt New York kam zu früh. Unterdessen haben sich US-Autoren des Themas bemächtigt. Hätte es 1981 ein eingeführter Autor der amerikanischen Ostküste geschrieben, es wäre fast selbstverständlich gewesen, ihn für den Nobelpreis vorzuschlagen. «Typhoid Mary», beim Erscheinen wegen sogenannt pornographischer Stellen in der Schweiz zurückhaltend aufgenommen, zum Teil schlicht verrissen, hat sich als einer der besten und ganz gewiss lesbarsten deutschsprachigen Romane der letzten 50 Jahre herausgestellt.

Jürg Federspiel ist ein grosser Autor und Mensch, der in höchster Sensibilität, in äusserster subjektiver Verletztheit das Gespenst unserer Epoche gesehen hat: «Ein Gespenst geht um, und das Gespenst heisst Hoffnungslosigkeit.» So schreibt er im letzten, 45. Kapitel der «Ballade von der Typhoid Mary». Die Formulierung ist, mit Ausnahme des Wortes «Hoffnungslosigkeit», dem wichtigsten Hoffnungstext des 19. Jahrhunderts entnommen, dem «Kommunistischen Manifest» von Karl Marx und Friedrich Engels. Jürg Federspiel steht als repräsentativer Autor für das zu Ende gegangene 20. Jahrhundert. Für den Abschied von den grossen Hoffnungen auf das innerweltliche Paradies.

Von den Klassikern des Marxismus hat Federspiel trotzdem mehr gelernt, als man denken könnte. Nichts hasste er mehr als Selbstmitleid, als blosses Dahinsuhlen in subjektiver Verlorenheit. «Selbstmitleid», so gibt er seiner Überzeugung Ausdruck, sei «eine Erkrankung der Seele, für die man selber die Schuld trägt.» Das war mit ein Grund, warum Jürg Federspiel kein Buch stärker kritisiert hat als «Mars» von Fritz Zorn. Das war genau gesehen keine persönliche Abrechnung mit dem an Krebs erkrankten Musterschüler von der Zürcher Goldküste. Es war ein Appell Federspiels an sich selbst, ein Appell gegen die «Seelenpest Gleichgültigkeit»: sofern das eigene Leiden alles andere, was auf Erden vielleicht noch viel schlimmer gewesen ist und noch ist, zu vergleichgültigen droht.

Jürg Federspiel: «Das Gespenst der Hoffnungslosigkeit ist mein Gespenst; ich habe also kein Recht, es meinen Nachkommen zu vererben.» Oder anders gesagt: die subjektive Verlorenheit kann weder das angemessene Wort noch das letzte Wort eines Schriftstellers an sein Publikum sein. Ein letzter innerer Schmerz müsse verschwiegen werden, vermerkte in einem ähnlichen Zusammenhang Reinhold Schneider in seinem Buch «Winter in Wien», in dem er von der Welt Abschied nahm. Nun ist auch Jürg Federspiel gegangen.

Seit wir Jürg Federspiel verloren haben, hat nicht nur Fortunat, sein Enkel, das Licht der Welt erblickt. Das lange erwartete, schon vor bald 20 Jahren erstmals konzipierte Kinderbuch «Mike O’Hara und die Alligatoren von New York» ist endlich erschienen. Dieses Kinderbuch, gezeichnet von Petra Rappo, stellt einen letzten absoluten Ernstfall im Phantasiekosmos Jürg Federspiels dar. New York, die mythische Stadt. Die ungeheuren Berge von Müll, die sie produziert, werden durch Müllfiguren symbolisiert. Sie zeigen dem Knaben Mike, beim Spielen heruntergepurzelt in die Unterwelt der Kanalisation, den Weg zu den weissen Alligatoren. Diesen Tieren, alle einst aus der Badewanne heruntergespült in eine unterirdische Welt des Drecks, weist der Knabe die Freiheit. Das Schlussbild zeigt auf schwarzem Meer ein weisses Traumschiff mit den Alligatoren von New York auf dem Heimweg nach Florida. «Als das Schiff ablegte, standen Mike O’Hara und sein Onkel und ihre Plunderfreunde noch lange am Pier und winkten und winkten, bis das Schiff mit den dreihundert Alligatoren nicht mehr zu sehen war.»

Pirmin Meier, geboren 1947, ist Gymnasiallehrer, Lyriker, Essayist und Verfasser preisgekrönter Biographien über Paracelsus, Nikolaus von Flüe, Micheli du Crest, Heinrich Hössli, Heinrich Federer, Eduard Spörri und andere. Er lebt in Beromünster.

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