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Baur und Bindschädler

Amrain, Zentrum der Welt «Toteninsel», «Borodino», «Die Ballade vom Schneien» und «Land der Winde»: mit diesen 1979 bis 1990 erschienenen vier schlanken Romanen vor allem verbindet sich Gerhard Meiers später Ruhm. Aus Anlass seines 90. Geburtstags am 20. Juni letzten Jahres hat Suhrkamp sie in einer schmuck ausgestatteten Kassette neu vorgelegt. Welche Faszination von dem […]

Amrain, Zentrum der Welt

«Toteninsel», «Borodino», «Die Ballade vom Schneien» und «Land der Winde»: mit diesen 1979 bis 1990 erschienenen vier schlanken Romanen vor allem verbindet sich Gerhard Meiers später Ruhm. Aus Anlass seines 90. Geburtstags am 20. Juni letzten Jahres hat Suhrkamp sie in einer schmuck ausgestatteten Kassette neu vorgelegt. Welche Faszination von dem Doyen der Schweizer Literatur auszugehen vermag, spiegeln die Nachworte von Peter Handke, Michel Mettler und Peter Weber, dreier Kollegen also, sowie das des Literaturwissenschafters Werner Morlang.

Die Handlung der Tetralogie ist nicht der Rede wert. Alles konzentriert sich auf die Bummeleien zweier Herren gesetzteren Alters, wobei in den ersten beiden Büchern Bindschädler meist der schweigsame Zuhörer Baurs ist, während er in der «Ballade vom Schneien» bei dem sterbenden Weggefährten wacht, dessen Grab er im Schlussband aufsucht. Stets kreisen diese Rundgänge im tieferen Sinn um Erlebnisse, Vorstellungen und Ansichten der beiden. Ebenso eigensinnig wie versponnen, hellwach wie zuweilen skurril begeben sie sich auf die Suche nach einer abwesenden Zeit, die erst in der Sprache zu sich kommt. Proust, sagt Baur, sei der «intelligenteste Schriftsteller», denn er habe «die unangestrengteste Prosa geschrieben». Auch Meier ist ein intelligenter Schriftsteller.

Nichts wäre unangemessener, als ihn zum quasiexotischen Provinzler zu stempeln, für den sein Dorf das «Zentrum der Welt» bleibt, Amrain, wie in den Romanen der Name für Meiers Geburts- und Lebensort Niederbipp lautet. Zu lernen, was Weltoffenheit eigentlich bedeutet, wäre vielmehr von ihm, dem erklärten Liebhaber des Kleinräumigen, der zugleich ein Himmelsfreund ist. Immer scheint dieser «Augenmensch» mehr wahrzunehmen als wir es vermögen. Mit unerhörter Eindringlichkeit und Konzentration erfasst sein Blick noch die feinsten Abstufungen von Farben, Licht und Schatten in der Atmosphäre. Einer wie er kann daher auch mit Grund noch davon sprechen, dass «Kunst etwas Bewegendes, Betroffenmachendes» sei, sind es doch Bilder und Musikstücke, Werke aus Literatur und Film, die seinen Protagonisten Erfahrungen vermitteln, ohne die das Leben schal bliebe.

Im Kern ist Meiers Schreiben kontemplativ, mithin zeitkritisch. «Einer Epoche», deren Allmachtswahn «in Konkurrenz zur Natur zu treten versucht», setzt er Inhalte entgegen, die in formalen Strukturen ihr Echo finden. Darin zumal besteht Baurs und Bindschädlers Weisheit, dass eine menschengemässe Existenz sich ihrer natürlichen Rhythmen bewusst bleibt, dass wir sie als Summe von nicht nur biologischen «Wiederholungen» begreifen sollten, in die man sich einzuüben hat. Auch die Einheit mit den Toten zählt dazu, die hier manchmal zu reden beginnen. All dies steht quer zu den vorherrschenden Modernisierungs-, Rationalisierungs- und Optimierungsprogrammen dieser Jahre, zur von Erlebnisgesellschaft und Spannungskultur unterfütterten Züchtung des «nützlichen Menschen» (wie, Konrad Lorenz zitierend, einmal gesagt wird). Des Autors Skepsis an jener Aufklärung, die sich mit der Dürftigkeit eines «materialistischen Allerwelts-Weltbilds» begnügt, geht mit dem Plädoyer für «das Unbegreifliche», das «Geheimnis dieser Welt» einher und ist entschieden antitotalitär grundiert.

Weder nostalgisch noch auftrumpfend (und erst recht nicht auf irgendwelche «Debatten» schielend) entfaltet Meier schon vor drei Jahrzehnten sein Zentralthema des «Vakuums an Spiritualität». Einfache biblische Frömmigkeit und das Bewusstsein kosmischen Bezogenseins gehen hier ineinander. Da finden sich denn auch einmal seitenlange Wiedergaben des Schöpfungsberichts der Genesis, von Psalm 104 oder der Bergpredigt, als gehörten sie ganz selbstverständlich in den eigenen Text – und das tun sie ja auch. Der Mensch, heisst es, ist bloss «diesseitig … gar nicht fassbar».

Meier stellt das dar, wozu wir nicht mehr fähig sind. Er führt uns einen verlorenen Zustand vor. Dafür, dass wir ihn verloren haben, wird der Preis wahrscheinlich ein hoher sein. Nicht so sehr getröstet, als in tiefem Ernst lassen uns diese Bücher zurück. Ihr stiller ist zugleich ein beängstigender Autor, wie er uns not tut.

vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Münster

Gerhard Meier: «Baur und Bindschädler». Amrainer Tetralogie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.

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