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«Wieland bestand auf  öffentlicher Diskussion»
Jan Philipp Reemtsma, fotografiert von Stefanie Ritter.

«Wieland bestand auf
öffentlicher Diskussion»

Jan Philipp Reemtsma hat dem Erfinder der deutschen Literatur und der Zentralfigur der Weimarer Klassik, Christoph Martin Wieland, eine neue Biografie gewidmet. Im Gespräch beantwortet er die Frage, was vom Erbe der Aufklärung bleibt.

Jan Philipp Reemtsmas Name wird in der Schweizer Öffentlichkeit vor allem mit der deutschen Unternehmerfamilie in Verbindung gebracht, in die er 1952 hineingeboren worden ist. Die Herkunft des Literaturwissenschafters verdeckt jedoch oft sein vielfältiges Wirken, zumal er sich insbesondere für das Werk des Schriftstellers Arno Schmidt eingesetzt, mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung eine bedeutsame wissenschaftliche Institution gestiftet und mit der von ihm mitverantworteten Wanderausstellung «Verbrechen der Wehrmacht» eine erhebliche Korrektur des Mythos vorgenommen hat, die einfachen deutschen Soldaten trügen keine Schuld am Vernichtungskrieg in Ost- und Südosteuropa. Wir trafen ihn vor seinem Vortrag im Literaturhaus Zürich zum Gespräch.

 

Herr Reemtsma, wer war Christoph Martin Wieland?

Einer der grossen deutschen Schriftsteller. Zusammen mit Lessing hat er für die Modernisierung der deutschen Sprache und Literatur wohl das meiste getan. Mit ihm beginnt die moderne deutsche Literatur, er ist der Begründer der Weimarer Klassik.

 

Warum gibt es in der deutschen Literaturgeschichte ein «vor» und ein «nach» Wieland?

Im 19. Jahrhundert bildete sich eine bestimmte Weise der Literaturbetrachtung heraus: Im Zuge des zunehmenden Populärwerdens von Geschichtsphilosophie wurde der Literaturentwicklung unterstellt, sie laufe auf ein Ziel zu, das wir heute die Weimarer Klassik nennen. Das wurde lange auf das Paar Goethe/Schiller und dessen zehnjährige Zusammenarbeit reduziert. Alles, was vorher kam, war Vorbereitung, und Wieland galt nun als Vorbereiter, den man nun nicht mehr zu lesen brauchte, da die Vollkommenheit erreicht war. So wurde Wieland zu einem Autor, der nur noch wenigen Germanisten etwas sagte. Hinzu kam, dass er weder Theaterautor noch Lyriker war, weswegen man ihn auf der Bühne nicht sah und er im Schulbuch nicht vorkam – die beiden Grundpfeiler des Bürgertums bediente er nicht. Er war jedoch ein ungeheuer vielseitiger wie komplexer Autor. Ihn zur Kenntnis zu nehmen gehört für jeden dazu, der sich ein gutes und komplexes Bild der Literatur des 18. Jahrhunderts machen will.

 

Wieland verbrachte ab 1752 acht Jahre in der Schweiz. Wie bewerten Sie diese Zeit?

Er hatte bereits als junger Mensch sehr ambitioniert geschrieben und dieses an den bekanntesten Literaturkritiker jener Zeit, der 1750er-Jahre, geschickt: Johann Jakob Bodmer in Zürich. Wieland wollte von ihm anerkannt werden, was einige Zeit gut ging – bis er erkannte, dass er besser war als sein Lehrer. Nach einer Station in Bern kehrte er in seine Heimatstadt Biberach zurück. In der heutigen Universitätsgermanistik der Schweiz hat Wieland deshalb einen ähnlichen Status wie in Deutschland: Man stösst nur selten auf seinen Namen.

 

Wieland verfasste nicht nur Satiren wie den ersten deutschen Fortsetzungsroman «Die Abderiten», sondern war als politischer Schriftsteller auch Zeitzeuge der Französischen Revolution. Romanautoren oder Dramatiker, die zu Kommentatoren ihrer politischen Gegenwart werden, laufen leicht Gefahr, Kunst instrumentell werden zu lassen. Wie schätzen Sie Wielands Verhältnis zu Prosa und Politik ein?

In Wielands Zeit gab es politische Agitationsstücke, die wir aus der Gegenwart kennen, gar nicht. Als Romanautor griff er zwar politische Themen auf, seine Bedeutung als politischer Schriftsteller bestand insbesondere darin, die deutsche Interpretation der Französischen Revolution geprägt zu haben. Wer etwas wissen wollte, informierte sich in Wielands Zeitschrift «Der Teutsche Merkur». Er selbst wollte sein Publikum dazu bringen, eine eigene Position zu finden, weswegen seine Kommentare als Zwiegespräche abgefasst waren, in denen zwei Leute im Dissens zusammentrafen und im Dissens auseinandergehen, aber im Gespräch klüger werden. Das war seine Idee von Aufklärung, nicht das Predigen politischer Positionen.

 

Wer liest heute, in Zeiten von «leichter Sprache» und kulturbetrieblich veredeltem Ressentiment gegen «alte weisse Männer», eigentlich deutsche Klassiker?

Diejenigen, die sich für komplexe und nicht ganz einfache Literatur interessieren, sind immer eine Minderheit. Und diejenigen, die heute in gewisse Bücher gucken und «Das ist mir zu schwierig» sagen, sind diejenigen, die früher gar nichts gelesen haben. Viel ändert sich da nicht. Im Falle meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Wieland schreibe ich schlichtweg über das, was mich interessiert. Es ist ein Angebot, und es gibt ein Publikum dafür.

«Diejenigen, die sich für komplexe und nicht ganz einfache Literatur

interessieren, sind ­immer eine Minderheit.»

Sie schreiben, es sei verlockend, in der Geschichte eine Richterin zu sehen. Heute wird rückwirkend erheblich über Geschichte gerichtet. Für jüngere Generationen etwa ist der Ausspruch, «auf der richtigen Seite der Geschichte» stehen zu wollen, geradezu sinnstiftend.

Die Idee, dass die Geschichte eine Richterin sei, die dar­über urteilt, ob etwas gut oder richtig, lesens- oder erhaltenswert sei, ist 19. Jahrhundert. Wir haben in fast allen Künsten das Phänomen, dass Musiker oder Maler, deren Werk wir heute für unerlässlich halten, zwischendurch einmal völlig vernachlässigt worden sind – Bach und Vermeer sind prominente Beispiele. Die Tatsache, dass irgendwas einmal aus der Aufmerksamkeit herausgefallen ist, ist kein Grund, zu meinen, es sei mit Recht geschehen.

 

Haben Sie eine Meinung zu Cancel Culture?

Das ist ein Schlagwort, bei dem man immer schauen muss, wer es im Munde führt. Es gibt so viele Beispiele dafür, welche Vortragenden oder Musiker mit welchen Begründungen ausgeladen werden, weil Leute, die diesen Anspruch erheben, etwas sei unzumutbar, mit ellenbogenhafter Wichtigkeit vorgehen. Andererseits ist die Aufregung, die darum gemacht wird, auch nicht immer adäquat. Ich bin nicht mehr an der Universität. Aber ich würde zu gerne einmal eine Vorlesung ohne Triggerwarnung halten – zu Shakespeare etwa, weil das ein Stoff ist, den man mit Triggerwarnungen nur so spicken könnte.

«Ich würde zu gerne einmal eine Vorlesung ohne

Triggerwarnung halten – zu Shakespeare etwa, weil das ein Stoff ist, den man mit Triggerwarnungen nur so spicken könnte.»

Wieland doch auch, siehe den erotischen Subton in seinen Werken.

Richtig. Aus heutiger Perspektive gäbe es einige Stellen, die als zweifelhaft gelten dürften.

Christoph Martin Wieland, Gemälde von Gerhard von Kügelgen, 1808, ­Universitätsbibliothek Tartu.

 

Sie nennen Wielands weniger beachteten, vierbändigen Briefroman «Aristipp und einige seiner Zeitgenossen», der zwischen 1800 und 1802 erschien und dem Sie bereits vor 30 Jahren eine Monografie gewidmet haben, eine Antwort auf Kants Frage, «was Aufklärung sei». Was bedeutet Aufklärung denn im Deutschland des 21. Jahrhunderts?

Es ändert sich nicht so viel an den Antworten, die auf diese Frage zu geben sind. Kants wichtige Antwort lautete: Selbst denken. Ähnlich würde sich auch Wieland äussern. «Aristipp» entwickelt ein Modell einer gleichwertigen Diskussionsgemeinschaft. Für Wieland war das Zentrum der Aufklärung stets die Pressefreiheit, genauer: die Freiheit der Druckerpresse. Auf den Einwand, es würde doch allerhand Unsinn gedruckt werden, entgegnete er: Ja schon, aber wie sähe eine Instanz aus, die hierüber entscheidet? Sie wäre unweigerlich eine Zensurbehörde – wer bestellt sie, wie wird man sie wieder los, wer verhindert ihren Missbrauch, und was wäre Missbrauch hier eigentlich? Wieland bestand auf öffentlicher Diskussion, und die muss ausgetragen werden. «Aristipp» ist ein Kleinmodell einer Diskussionskultur, die von Offenheit und Gleichberechtigung geprägt ist. Es handelt sich um einen Diskurs, der keinen Ziel- und Endpunkt des Konsenses hat, sondern immer weiter geht. Das ist die Idee von Aufklärung, die dahintersteckt.

 

Hat Deutschland überhaupt noch eine Diskussionskultur?

Natürlich. Selbstverständlich gibt es immer Dinge, über die man sich ärgern kann und die man verbessern würde, wenn man die Möglichkeit dazu hätte. Aber im Gegensatz zu manchen Maulereien von rechts oder links kann jeder sagen, was er will. Das impliziert auch, dass man in Kauf zu nehmen hat, dass ein Haufen Dummköpfe sagen kann, was sie wollen. So entstehen ungeheuer viele Diskussionen, die langweilig und zu gar nichts nütze sind, aber das ist eben so. Ich würde es auch nicht aushalten, jeden Abend eine der politischen Talkshows im deutschen Fernsehen anzusehen, die sicher etwas vom politischen Klima des Landes vermitteln. Aber darauf schaue ich höchstens wie ein Ethnologe. Und nicht wie ein Diskussionsteilnehmer.

 

In Deutschland hat man mittlerweile den Eindruck, die Presse sei nicht die vierte Gewalt, sondern eine Gefälligkeit dem Staat gegenüber. Wie sehen Sie das?

Die gegenwärtige Koalition wird in jeder deutschen Tageszeitung permanent vorgeführt – das ist doch keine Regierungspresse. Aber ob es auch gute Argumente sind, ist eine andere Frage. Die Noten, die die Regierung medial bekommt, sind jedenfalls schlecht, und ich finde nicht, dass es dafür eine andere Lautstärke braucht.

 

Wie stehen Sie zum häufig zu vernehmenden Anspruch oder Vermarktungstrick, die Lektüre alter Werke verspreche «Aktualität»?

Ob es Goethe, Schiller, Herder, Wieland oder auch Büchner ist: Ihre Lektüre hilft nicht, in der Gegenwart politisch urteilsfähiger zu sein. Dazu ist Literatur nicht da, und so funktioniert sie auch nicht. Wenn man Literatur mit dieser Hoffnung liest, wird man enttäuscht werden. Wenn man aber ein einigermassen zureichend komplexes Bild der Wirklichkeit haben möchte – und das meint auch ein Verständnis der Geschichte, die zu uns hingeführt hat –, muss man diese Autoren lesen. Dadurch wird man klüger und dadurch urteilsfähiger, auch für die Gegenwart, denn wer durch die Brillen anderer Leute zu schauen vermag, wird intellektuell wie emotionell kompetenter.

«Ob es Goethe, Schiller, Herder, Wieland oder auch Büchner ist:

Ihre Lektüre hilft nicht, in der Gegenwart politisch urteilsfähiger zu sein. Dazu ist Literatur nicht da, und so funktioniert sie auch nicht.»

Könnten Sie aus Wielands vielfältigem Gesamtwerk einen Titel empfehlen?

Als Einstiegslektüre für alle, die in Sachen 18. Jahrhundert nicht vorgebildet sind, wäre das die erwähnte «Geschichte der Abderiten», in der es unter anderem um Kleinstaaten geht. Unsere politische Wirklichkeit ist darin wiederzuerkennen.

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