Wider den politischen Heimatschutz
Wer es in der Politik nach oben geschafft hat, kann es sich bequem machen. Konkurrenz im eigenen Land gibt es kaum. Quicklebendig werden Politiker erst, wenn sie sich auf einem internationalen Markt für gute Politik behaupten müssen. Doch wie soll dieser aussehen?
Politikversagen ist systemisch: die Politik weicht oft stark von den Präferenzen der Bürger ab, weil Politiker auch eigene Interessen verfolgen; weil sich kleine Gruppen mit spezifischen Interessen besser organisieren können als grosse gesellschaftliche Gruppen wie Konsumenten und Steuerzahler; und weil die Kosten öffentlicher Leistungen oft nicht von den Nutzern getragen werden müssen. Das gilt trotz guter institutioneller Voraussetzungen auch für die Schweiz. Noch gewichtiger ist Politikversagen jedoch in vielen anderen europäischen Ländern und vor allem in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Eine der wirklich grossen Fragen für die Forschung ist also: wie kann Politikversagen vermindert und die gemachte Politik – im Sinne der Bevölkerung – verbessert werden?
Die Qualität der Politik eines Landes hängt weniger davon ab, welche Parteien oder Politiker gerade an der Macht sind, als vielmehr von den politischen Institutionen. Sie prägen die Anreize der politischen Handlungsträger, im Sinne der Bevölkerung zu handeln, und haben direkten Einfluss auf Asymmetrien zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Welche politischen Institutionen aus dieser Sicht besonders fruchtbar sind, ist wohlbekannt: freie demokratische Wahlen, direkte Demokratie, Dezentralisierung mit echter lokaler Eigenverantwortung und entsprechenden fiskalischen Kompetenzen, automatische Kontrollmechanismen wie Schuldenbremsen, Wettbewerb zwischen der Regierung und unabhängigen volksgewählten Kontroll- und Kritikgremien sowie funktional statt territorial orientierte staatliche Körperschaften.1 Politikversagen zu kurieren verlangt also zumeist, dass Entscheidungskompetenzen dezentralisiert und näher hin zu den Bürgern verlagert werden, wobei Zusammenarbeit und Koordination zwischen Gebietskörperschaften und Ländern zuweilen auch ein kleineres oder grösseres Minimum an Zentralisierung bedingen.
Diese einfachen Rezepte sind weltweit bekannt. Weshalb werden sie nicht umgesetzt? Einerseits laufen sie den Interessen einflussreicher Politiker zuwider, deren Spielraum durch mehr Dezentralisierung und Volkseinfluss nur eingeschränkt würde. Zudem drohen die empfohlenen demokratischen Institutionen gerade auch durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Politikkoordination ausgehöhlt zu werden.
Viele Menschen sehen die Lösung des Dilemmas in einer Weltregierung. Ein monopolistisches Ungetüm also, das selbst zu Machtmissbrauch neigen würde und gerade keine Anreize hätte, die erforderlichen Reformen umzusetzen. Hier wird deshalb ein anderer Ansatz vertreten, der eine viel fruchtbarere Form der Globalisierung der Politik und das eigentliche Gegenteil einer Weltregierung bringt: wir sollten einen «internationalen Markt für gute Politik» schaffen.
Ursache heutigen Politikversagens
Was Anbieter dazu bringt, im Interesse von Nachfragern zu handeln, ist aus dem wirtschaftlichen Bereich wohlbekannt: Märkte müssen geöffnet, Produktionsprozesse dereguliert und Preise freigegeben werden. Im Gegensatz dazu herrschen im politischen Bereich Protektionismus, Überregulierung und Preisvorschriften:
Protektionismus. Kandidaten für nationale und lokale Ämter müssen Inländer sein und zumeist in ihren Wahlkreisen und Gebietskörperschaften wohnen. So werden die einheimischen Bewerber vor der Konkurrenz durch auswärtige Politiker geschützt. Auswärtige Bewerber müssten zuerst ihre bisherigen Ämter aufgeben und umziehen, bevor sie kandidieren dürfen. Was so viel Marktschutz bedeutet, zeigt eine Analogieüberlegung: Wie erginge es wohl privaten Unternehmungen, die nur noch oberste Kader und Verwaltungsräte anstellen dürften, die schon bei ihrer Bewerbung vor Ort wohnen?
Überregulierung. Wählbar sind nur natürliche Personen, die in der Regel ausschliesslich von politischen Parteien aufgestellt werden dürfen. Das Wahlverbot für juristische Personen wie Politikberatungs-, Menschenrechts- und Umweltorganisationen zwingt viele Wähler, ihnen unbekannte Menschen zu wählen, die kaum wirksam auf das Parteiprogramm verpflichtet werden können.
Preisvorschriften. Die expliziten staatlichen Entschädigungen für die Inhaber politischer Ämter sind gesetzlich festgelegt. Oft sind sie so tief, dass die Politiker auf implizite Entschädigungen durch Interessengruppen angewiesen sind. Doch die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verfügen über unterschiedliche Ressourcen und Fähigkeiten, solche implizite Entschädigungen anzubieten. Zudem finden ortsansässige Politiker leichter Zugang zu den Kanälen von impliziten Entschädigungen – etwa bei der Einzonung ihres Landes oder Auftragsvergaben an ihnen nahestehende Firmen – als auswärtige Politiker, die keine materiellen Bindungen in der betreffenden politischen Körperschaft besitzen. Tiefe explizite Politikerlöhne schrecken deshalb auswärtige Konkurrenz ab.
Das Reformprogramm: ein Federstrich
Das Reformprogramm ist denkbar einfach. Es besteht darin, die bisherigen nachteiligen Regulierungen aufzuheben. Am wichtigsten ist, dass neu Auswärtige und Ausländer alle politischen Ämter bekleiden dürfen. Sie müssen für die neuen Ämter kandidieren können, ohne vorher ihren Wohnsitz zu verlegen, so dass aktive Politiker aus einer Körperschaft in anderen Körperschaften kandidieren können, ohne ihre bisherigen Ämter aufzugeben. Diese Reform verlangt keinerlei Investitionen oder aufwendige Neuordnungen von Verwaltungseinheiten. Eigentlich verlangt sie nur einen Federstrich durch die Nationalitäts- und Wohnsitzvorgaben.
Die Anreize und Möglichkeiten auswärtiger sowie einheimischer Politiker, überhaupt in den politischen Markt eines Landes einzutreten, können gestärkt werden, indem auch juristische Personen direkt für politische Ämter kandidieren dürfen und die expliziten staatlichen Entschädigungen von Politikern so gestaltet sind, dass die Ämter auch ohne implizite Entschädigungen attraktiv sind und somit auch auswärtige Kandidaten anziehen.
Dank dieser Dynamik entsteht ein offener Markt für gute Politik, in dem auswärtige und einheimische Politikanbieter gleichberechtigt konkurrieren, erfolgreiche Politikanbieter in andere Gebietskörperschaften expandieren, die gewählten juristischen Personen für die gewonnenen Mandate natürliche Personen delegieren und austauschen oder auch internationale Politikberatungs-, Menschenrechts- und Umweltorganisationen direkt als Politikanbieter auftreten können.
Die Deregulierung der Politik setzt nicht auf Revolution, sondern auf Evolution. Sie schafft nur neue Möglichkeiten. Selbstverständlich dürfen natürliche Personen und Inländer weiterhin kandidieren. Die bisherige Verfassung bleibt in Kraft und ist auch für auswärtige Politikanbieter verbindlich.
Wer profitiert? Die Bürger!
Würde ein internationaler Markt für gute Politik geschaffen, profitierten Bürger in vielfältiger Weise.
Erstens nähmen die Anreize der Politikanbieter zu, Massnahmen durchzusetzen, die bisher nicht in ihrem Interesse lagen, konkret: die eingangs empfohlenen institutionellen Reformen zu unterstützen, ernsthaft für einen sparsamen Umgang mit den knappen finanziellen Mitteln einzutreten und die Steuern zu senken. In einem offenen Markt können sie zum einen eine Reputation für bürgerorientierte Politik aufbauen, die es ihnen erlaubt, auch in anderen Gebietskörperschaften oder Ländern erfolgreich zu kandidieren. Zum anderen hätten sie die Möglichkeit, durch einen Ortswechsel den für sie allfällig unangenehmen Konsequenzen ihrer bürgerorientierten Reformen auszuweichen. So können sie Ausgaben- und Besteuerungskompetenzen dezentralisieren, direkte Demokratie einführen oder radikale Sparmassnahmen durchsetzen, ohne dann selbst unter der Macht- und Budgetbeschränkung für Politiker leiden zu müssen.
Zweitens wird der politische Wettbewerb intensiviert. Die Kandidatenauswahl und der Wettbewerbsdruck wachsen und treiben einheimische Anbieter zu besseren Leistungen an. Während heute der Marktneueintritt den aufwendigen Aufbau neuer lokaler Parteistrukturen verlangt, können in einem deregulierten Markt auswärtige politische Anbieter in neue Märkte expandieren. Dies fördert den Wissenstransfer und senkt die Reaktionszeiten. Neue gesellschaftliche Probleme und unbefriedigte Wählerbedürfnisse können schneller aufgegriffen werden.
Drittens nehmen die Anreize der Politiker zu, in ihrem Spezialgebiet grosse Sachkompetenz zu erwerben. In geschlossenen Märkten können erfolgreiche Politiker nur auf die nächsthöhere politische Ebene streben. So werden Bürgermeister oft in nationale Parlamente gewählt, wo dann aber ganz andere Kompetenzen zählen. In offenen Märkten hingegen können erfolgreiche Bürgermeister kleinerer Städte in grösseren Städten und dann in Grossstädten im In- und Ausland kandidieren. Deshalb lohnt es sich für sie viel mehr, den «Beruf» des Bürgermeisters wirklich zu erlernen und in berufsspezifisches Humankapital zu investieren. Das zeigt sich auch im weltweit einzigartigen offenen Markt für Bürgermeister in Deutschland und insbesondere Baden-Württemberg. Dort kann jeder Deutsche ohne lokalen Wohnsitz als Bürgermeister kandidieren. Der Wahlerfolg auswärtiger Kandidaten ist überwältigend. Ihre Chancen steigern sie nicht nur mit guter Arbeit in anderen Gemeinden, sondern auch indem sie spezialisierte Bürgermeisterschulen und -lehrgänge besuchen.
Viertens lohnt es sich in offenen politischen Märkten viel weniger als in geschlossenen, politische Gegner vorsätzlich durch negative Wahlkampagnen, Rufmord oder gar Anschläge auf Leib und Leben zu schädigen. Denn freigewordene Plätze würden schnell durch neue auswärtige Kandidaten wiederbesetzt. In offenen Märkten profilieren sich die Kandidaten deshalb vor allem durch eigene gute Leistungen.
Fünftens werden die Unterschiede im Einfluss der verschiedenen Interessengruppen kleiner. Schwach organisierte Gruppen leiden darunter, dass sie ihren Mitgliedern weniger gute Informationen über das Verhalten der Kandidaten liefern können und weniger Ressourcen aufbringen können, um die Kandidaten zu beeinflussen. Beides wird in offenen Märkten unwichtiger. Für die Bürger wird es einfacher sein, die zukünftige Politik eines Kandidaten zu prognostizieren, weil sie seine bisherige politische Arbeit beobachten können und die Kandidaten stärkere Anreize haben, sich an ihre Wahlversprechen zu halten. Die Asymmetrie hinsichtlich verfügbarer Ressourcen nimmt ab, weil die Bürger die Vergabe der expliziten Entschädigungen mit ihrer Stimme direkt beeinflussen können und zudem diese expliziten Entschädigungen bisherige implizite Bezahlungen verdrängen. In einem offenen Markt, der hohe explizite Entschädigungen bietet, lohnt es sich für die Politikanbieter, sich auf die Maximierung dieser expliziten Entschädigungen zu spezialisieren und eine Reputation für Unabhängigkeit aufzubauen. Auch steigen mit höheren expliziten Entschädigungen die Kosten eines Amtsverlustes und damit die Anreize der Politiker, die Präferenzen der Bürger zu berücksichtigen. Letztlich stärkt die Intensivierung des politischen Wettbewerbs auch die Anreize der Politikanbieter, die ungebührliche Annahme impliziter Entschädigungen durch andere aufzudecken.
Sechstens können Politikanbieter dank Direktkandidatur und Delegationsmöglichkeiten zentraler organisiert sein. So können sie glaubwürdigere Politikangebote machen als herkömmliche Parteien, die zumeist stark dezentralisiert und deshalb auch sehr heterogen sind.
Siebtens wird die Qualität und Ernsthaftigkeit des politischen Diskurses gefördert. Solange die Wahlversprechen unglaubwürdig sind, verhalten sich die Wähler an der Urne oberflächlich und übermässig emotional. Erst wenn die Alternativen konkret und glaubwürdig sind, entsteht eine ernsthafte, sachliche Diskussion über die Politikwirkungen, und erst dann verhalten sich die Wähler zielgerichtet und vernünftig.
Unbegründete Vorbehalte
Die vorgeschlagene Marktöffnung ist auf alle staatlichen Ämter anwendbar, also auf die Legislative, Exekutive und Judikative, auf alle staatlichen Ebenen von den Gemeinden bis zur Zentralregierung und auch auf unabhängige Institutionen wie die Zentralbanken. Internationale Anbieter dürften sich insbesondere auf den Ausbau der demokratischen Institutionen spezialisieren. Während es sich für Politiker in geschlossenen Märkten oft lohnt, demokratische Institutionen zu missbrauchen und zu ihren Gunsten umzugestalten, haben international aktive Politikanbieter dank dem Reputationsmechanismus allen Grund, sie nachhaltig zu stärken.
Natürlich gibt es gegen den Vorschlag naheliegende Einwände. Unsere gemeinsame Forschung hat jedoch gezeigt, dass solche unbegründet sind.2 So gibt es vielerlei und gute Evidenz, dass die Bürger sehr wohl Ausländer wählen, sobald es ihnen vorteilhaft erscheint. Ein Beispiel sind die Institutionen der EU: in allen Beitrittsländern hat sich die Bevölkerung dafür entschieden, dass in Zukunft nicht mehr ihre eigenen, sondern mehrheitlich ausländische Politiker «aus Brüssel» das wichtigste Wort haben.
Ein besonders interessantes Beispiel ist auch das Zeitalter der Podesta im Italien des 12. und 13. Jahrhunderts. Da haben die damals unabhängigen Stadtstaaten ganz systematisch das Regierungshaupt – den Podesta – aus anderen Staaten rekrutiert, um so die schrecklichen internen Machtkämpfe zu vermeiden. Das System erwies sich als überaus erfolgreich und legte die Grundlage für ein unvergleichliches Aufblühen Italiens während dieser Zeit. Auch der Einwand, schon in der Wirtschaft würden internationale Firmen regelmässig die Gesetze brechen und in der Politik wäre es nicht anders, ist verkehrt: verglichen mit den inländischen Firmen in Entwicklungsländern halten sich internationale Firmen viel besser an gute internationale Standards, genau weil sie um den Verlust ihrer Reputation fürchten.
Wenn offene politische Märkte so gute Resultate bringen, stellt sich die Frage, warum sie sich bisher so selten entwickelt haben. Erstens ist es natürlich nicht im Interesse vieler bisheriger Politiker, den politischen Wettbewerb zu stärken. Zweitens lohnt sich für ein einzelnes Land die einseitige Marktöffnung wenig. Denn es geht ja nicht darum, einfach ausländische Politiker zu importieren. Vielmehr müssen die eigenen Politiker und Parteien in anderen politischen Einheiten kandidieren können, so dass sich ihre Anreize ändern. Deshalb wäre es sinnvoll, das System gegenseitig in einem internationalen Abkommen zu vereinbaren. Naheliegend wäre als Anfang eine Öffnung der heute in den meisten Bereichen völlig durchregulierten Binnenmärkte in föderalistischen Ländern wie der Schweiz, den USA oder Kanada, und insbesondere eine Öffnung innerhalb der EU. Dort wäre der «freie Politikerverkehr» lediglich die konsequente Fortsetzung der vier wirtschaftlichen Freiheiten.
Schliesslich wäre es auch vorstellbar, dass dereinst die UNO oder die USA bei internationalen Einsätzen wie etwa in Kosovo, Afghanistan oder im Irak nicht nur ausländische Zwangsverwalter einsetzen oder Wahlen mit ausschliesslich inländischer Beteiligung befehlen, sondern die Deregulierung der Politik durchsetzen und der geschundenen Bevölkerung erlauben, glaubwürdige auswärtige Politiker zu wählen.
Trotz der genannten Hindernisse sind wir zuversichtlich, dass sich bis in vielleicht dreissig Jahren ein voll funktionsfähiger internationaler Markt für gute Politik entwickelt, der den heutigen protektionistischen nationalen Politikmärkten und einer Weltregierung weit überlegen ist. Nationalitäts- und Wohnsitzvorgaben streichen, juristische Personen zulassen sowie die Politiker offen und anständig bezahlen: das ist ein denkbar einfaches, unaufwendiges und risikoloses Reformprogramm.
1 Zur Debatte über FOCJs siehe:
Bruno S. Frey: Nonzentrale Welt. In: Schweizer Monat 989, 2011. S. 62.
Lukas Rühli: Der Gegenvorschlag zur Utopie ist eine Utopie.
In: Schweizer Monat 991, 2011. S. 14.
2 Reiner Eichenberger / Michael Funk: The deregulation of the political
process: Towards an international market for good politics. In: Geoffrey Brennan / Giuseppe Eusepi (Hrsg.): The Economics of Ethics and the Ethics of Economics:
Values, Markets and the State. Cheltenham: Elgar, 2009. S. 131–144. Der Artikel ist verfügbar auf www.unifr.ch/finwiss