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«Wir sind zu einer sehr risikoscheuen Gesellschaft geworden»
Sara Hürlimann (l.) und Claudia Franziska Brühwiler, fotografiert von Selina Seiler.

«Wir sind zu einer sehr risikoscheuen Gesellschaft geworden»

Die Staatswissenschafterin Claudia Franziska Brühwiler sorgt sich um die Dynamik der Schweiz. Die Unternehmerin Sara Hürlimann sieht ein Problem in der grassierenden Neiddebatte. Gemeinsam ist den beiden die Faszination für Ayn Rand.

Das vollständige Gespräch ist auch als Podcast verfügbar.

«Ich habe an meine Ideen immer geglaubt und sie konsequent umgesetzt. Es war so klar, so einfach. Jeder hätte es machen können.» Das sagte Aldi-Süd-Gründer Karl Albrecht kurz vor seinem Tod. Ist es wirklich so einfach, Unternehmer zu werden?

Sara Hürlimann: Wenn man eine klare Idee hat, ja, absolut. Aber man muss natürlich einen sturen Kopf haben, an sich und an die Idee glauben. Man darf ein Nein nicht einfach hinnehmen.

 

Du hast zahnarztzentrum.ch zusammen mit deinem Ehemann gegründet. Habt ihr euch zuerst kennengelernt und dann das Unternehmen aufgebaut?

Hürlimann: Wir haben uns in St. Gallen kennen­gelernt. Ich war Zahnärztin, er Student. Später arbeitete er als Unternehmensberater und ich war als Oralchirurgin in einer grösseren Einrichtung in der Romandie tätig. Ich habe dann festgestellt, dass es in der Schweiz viele Lücken im Service für Zahn­medizin gibt. Daraufhin haben wir uns entschieden, das zusammen zu machen. Wir haben nicht viel nachgedacht, sondern fanden die Idee einfach unglaublich gut.

 

Beim Unternehmertum braucht es aber mehr als nur eine gute Idee – denn das haben viele –, sondern die erfolgreiche Umsetzung derselben.

Hürlimann: Es ist wie mit allem im Leben: Man braucht ein bisschen Glück. Wir waren die Ersten in der Deutschschweiz, die grosse, täglich geöffnete Zahnarztkliniken eröffnet haben. Wir wollten nicht nur für die Patienten gut sein, sondern auch für die Mitarbeiter: Dentalassistentinnen sollten wissen, wohin sie gehen. Wer fleissig ist und fähig, soll Aufstiegsmöglichkeiten erhalten und ein Team leiten. Das ist alles kein Hexenwerk. Am Anfang habe ich auch selbst als Zahnärztin und Chirurgin ge­arbeitet – aber eben so, wie ich es mir als Patientin wünschen würde.

 

Was für eine Rolle spielen Unternehmer für dich, Claudia?

Claudia Brühwiler: Verschiedene. Wir bilden an der HSG Unternehmerinnen und Unternehmer aus. Ausserdem muss ich selbst unternehmerisch handeln, um ein neues, innovatives Institut aufzubauen und Geld zu beschaffen – für eine Schreibtisch­täterin eine sehr ungewöhnliche Rolle. Dann tritt der Unternehmer natürlich auch als Mitglied der Gesellschaft und als Motor unserer Wirtschaft in mein ­Leben. Das ist dann eine eher abstrakte Beziehung zum Unternehmertum.

 

Du beschäftigst dich unter anderem mit der politischen Kultur in den USA. Wie unterscheidet sich das Unternehmerbild in den USA von dem in Europa?

Brühwiler: Die amerikanische Kultur hat grundsätzlich ein anderes Verhältnis zu Individualismus, Erfolg, Misserfolg und Leistung. Unternehmertum und Individualismus gehen dort oft Hand in Hand. Das Bild des Unternehmers ist ein dynamisches und die Bereitschaft in der Gesellschaft, selbst unternehmerisch tätig zu werden, ist grösser.

Claudia Franziska Brühwiler, fotografiert von Selina Seiler.

 

Und in Europa?

Brühwiler: Hier stehen starke Individuen, die ihre Ideen verfolgen und glauben, dass es ganz einfach sei, sie zu verwirklichen, einer Gesellschaft gegenüber, die behauptet, dass es schrecklich kompliziert sei. Daraus ergibt sich auch ein anderes Bild von Unternehmern: Wir sind zu einer sehr risikoscheuen Gesellschaft geworden, die sich mit Individualismus schwertut und ein schwieriges Verhältnis zu Höchstleistungen hat. Dass Höchstleistungen und herausragende Individuen gefeiert werden, ist uns eher fremd. Wir fürchten auch das Scheitern. In den USA hat man damit weniger Probleme.

 

Sara, fühlst du dich als Unternehmerin von der Gesellschaft in der Schweiz wertgeschätzt?

Hürlimann: Ich werde sehr geschätzt, aber auch in Frage gestellt. Viele fragen sich, warum ein Unternehmer so viel verdienen kann. Man vergisst dabei die grossen Risiken, die ein Unternehmer oft am Anfang auf sich nimmt. Diese Kritik im Nachhinein zu äussern, wenn alles gut gelaufen ist und das Unternehmen funktioniert und gross ist, ist natürlich leicht.

«Viele fragen sich, warum ein Unter­nehmer so viel ­verdienen kann. Man vergisst dabei die grossen Risiken, die ein Unternehmer oft am Anfang auf sich nimmt.» Sara Hürlimann

 

Brühwiler: Würdest du nicht sagen, dass es einen Unterschied in der Wahrnehmung von Managern und echten Unternehmern gibt? Die Unternehmer haben doch eine ganz andere Stellung als die Geschäftsführer, CEOs, Manager; wir neigen dazu, von Unternehmern wie etwa Gottlieb Duttweiler ein idealisiertes, fast vergötterndes Bild zu haben.

Hürlimann: Den Unterschied gibt es sicher. Aus meiner Sicht geht man fast etwas zu hart mit unseren CEOs um, denn sie gehen durchaus berufliche Risiken ein. Treffen sie falsche Entscheidungen, könnte man sie natürlich auch ein wenig härter behandeln. Für mich ist jedenfalls klar, dass ein CEO eine Art Prämie erhalten sollte, die über das normale Gehalt hinausgeht. Die Diskussion über die Höhe der Boni scheint mir derzeit etwas übertrieben zu sein.

Brühwiler: Den Zusammenhang zwischen dem hohen Einkommen und dem Risiko des Unternehmers, der die volle Verantwortung trägt, sehen viele. Sie nehmen es aber der goldenen Fallschirmklasse übel, dass sie am wenigsten leidet, wenn etwas schiefgeht. Es sei denn, die goldene Karriere werde komplett zerstört. Was wiederum kaum Beachtung findet.

Hürlimann: Der CEO, der heute in der Schweiz wie ein Ausgestossener wirkt, hat nur eine Karriere – deren abruptes Ende ist ein grosses Opfer, was in der Diskussion gemeinhin unterschätzt wird. Erregt ein CEO viel mediale Aufmerksamkeit, ist das für ihn eine sehr intensive und zumeist negative persönliche Erfahrung.

 

Was könnte man denn ändern?

Hürlimann: Man muss die CEOs und die Verwaltungsräte stärker zur Verantwortung ziehen, wenn etwas nicht gut läuft. Grundsätzlich aber finde ich es richtig, dass angestellte CEOs gut verdienen. Wie viel «gut» ist, ist schwer zu sagen.

Brühwiler: Ich schliesse mich an, aber ich glaube auch, dass die CEO-Klasse nicht nur mehr Verantwortung tragen sollte, sondern auch etwas mehr Demut gebrauchen könnte. Ich beobachte heute eine Generation, bei der ich das Gefühl habe, dass sie aus einer gewissen Verantwortungskultur herausgefallen sei.

 

Und das führt zu einer negativen Stimmung, die man zunehmend beobachten kann.

Hürlimann: Ich bin ja vor 25 Jahren aus Schweden in die Schweiz gekommen und finde es grundsätzlich fantastisch hier. Aber den Neid in der Bevölkerung, den es in Schweden schon vor 25 Jahren gab, spüre ich auch hier langsam aufkommen. Das wird sich leider auch darauf auswirken, wie frei Unternehmer in Zukunft arbeiten können. Eine Einschränkung des Unternehmertums ist auch für die Bürger nicht positiv.

Sara Hürlimann, fotografiert von Selina Seiler.

 

Wo erkennst du diesen Neid?

Hürlimann: In den Diskussionen in den Medien über «Abzocker». Solche Worte gehören überhaupt nicht in eine solche Diskussion, weil es natürlich nicht um Abzocker geht, sondern um Menschen, die arbeiten. Und diese Arbeit kann man wertschätzen, wie man will. So hat man jedenfalls in den Medien früher nicht über CEOs und Unternehmen gesprochen.

 

In Ayn Rands Buch «Der Streik» ziehen sich die Unternehmer kollektiv aus der Gesellschaft zurück und geben ihre Tätigkeit auf, um gemeinsam an einem Ort zu leben, getrennt von den weniger produktiven Menschen. Franziska, du hast deine Habilitation über dieses Buch geschrieben.

Brühwiler: Ich habe mich schon sehr lange nicht mehr damit beschäftigt (lacht). Als ich es damals zum ersten Mal gelesen habe, fand ich die Vorstellung, dass man einfach weggeht und sich zurückzieht, etwas absurd. Andererseits finde ich es ein spannendes Gedankenexperiment, was dann passieren würde und wie der Staat reagieren würde, wenn ihm das Steuersubstrat entzogen wird.

 

In welcher Beziehung stehst du zu Ayn Rand, Sara?

Hürlimann: Es ist eine alte, fast romantische dreissigjährige Beziehung. Rand hat recht, dass man sich als Individuum wirklich um sich selbst kümmern muss und dass man nur mit anderen zufrieden sein kann, wenn man mit sich selbst zufrieden ist. Und wenn man sich um sich selbst kümmert, macht man auch ein paar Leute um sich herum glücklich und zufrieden.

Brühwiler: Du sprichst einen wichtigen Punkt an: Ayn Rand schliesst nicht aus, dass man «Gutes» tut. Das missverstehen viele, weil Rand den Begriff Altruismus so stark abgelehnt hat. Altruismus bedeutet für sie Selbstaufgabe. Stattdessen, so Rand, müssen wir rationale Egoisten sein.

 

Rand schreibt: «Der Unternehmer hält den Intellektuellen für unpraktisch, der Intellektuelle hält den Unternehmer für unmoralisch. Doch im Geheimen glaubt jeder von ihnen, dass der andere eine mysteriöse Fähigkeit besitze, die ihm fehle, dass der andere der wahre Herr der Realität sei.»

Hürlimann: Es ist schön, immer das Gute im anderen zu sehen und zu denken, der andere könne etwas, was ich nicht kann.

Brühwiler: Im ersten Teil des Zitats sind die beiden nicht nett zueinander. Der eine ist unpraktisch und der andere unmoralisch. Ich kenne durchaus intellektuelle Kreise, die das so sehen würden, aber das sind oft Leute, die noch nie mit Unternehmern zu tun hatten. Ich stelle fest, dass viele, die Unternehmer geworden sind, eine Fähigkeit haben, die mir fehlt. Unternehmer haben das gewisse Etwas: Sie erkennen Chancen und haben den Drive, sie zu ergreifen. Ich dagegen gehöre immer zu denen, die alles ein bisschen zu kompliziert sehen. Mich interessiert, woher diese Fähigkeit kommt. Woher hast du sie, Sara?

Hürlimann: Sie kommt vielleicht von meinem Vater, der auch Unternehmer war. Ich habe eine ex­trem hohe Wertschätzung für die sogenannten Intellektuellen, die sich wirklich Zeit nehmen, um nachzudenken und zu lesen. Und ich bin auch ein bisschen neidisch auf sie.

 

Unternehmer beschäftigen sich also mit sehr praktischen Problemen in der realen Welt, während die Intellektuellen oft in geistige Höhen verschwinden und das Praktische in der Lebensrealität vergessen. Ist das nicht einer der grossen Unterschiede?

Brühwiler: Ohne Denken kein Unternehmertum. Es braucht eine gewisse Fähigkeit, um Chancen zu sehen, um Marktlücken zu bemerken, um Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. Gleichzeitig ist «intellektuell» ein schwammiger Begriff. Wer fällt darunter? Naturwissenschafter sind für mich auch Intellektuelle. Und die sind oft näher an der erfahrbaren Realität als die Geisteswissenschaften. Mein eigenes Gebiet ist völlig von der Realität informiert – man bezieht sich darin immer wieder auf das, was in der Welt tatsächlich passiert. Der Unternehmer sucht aber generell nach Lösungen für Probleme, für Lücken, die er kennt. Demgegenüber stolpert der Intellektuelle vielleicht eher hin und wieder auf Ideen, verwirklicht diese dann aber nicht oder befasst sich nicht wirklich mit ihrer Umsetzung. Philosophen entwerfen grosse Gesellschaftsentwürfe und vieles mehr; aber das alles umzusetzen – mein Gott, das können eigentlich nur andere.

Hürlimann: Ich bin dankbar dafür, dass es beide Sorten gibt. Es wäre ein trauriges Armutszeugnis, wenn es keine intellektuellen und nur praktische Menschen gäbe – und auch umgekehrt.

«Philosophen entwerfen grosse Gesellschafts­entwürfe und vieles mehr; aber das alles umzusetzen – mein Gott, das können ­eigentlich

nur andere.» Claudia Franziska Brühwiler

 

Schwächeln die Stärken der Schweiz gerade?

Hürlimann: Ich schwelge nicht in Niedergangsfantasien. Die Frage ist immer, was man will. Uns fehlt manchmal eine Diskussion darüber, was eigentlich unsere Vision der Schweiz sein sollte und welchen Preis wir dafür zu zahlen bereit sind. Wenn man beispielsweise das Bevölkerungswachstum bremsen möchte – ist man bereit, den Preis dafür zu zahlen? Letztlich ist Politik nie eine rein faktenbasierte Entscheidung. Vielmehr trifft man Wertentscheide, die allerdings in Kenntnis der Faktenlage getroffen werden sollten.

 

In der Schweiz ist man pragmatisch. Wir pflegen eine lebendige Verfassung, und es wird viel diskutiert.

Brühwiler: Ja, doch meistens nicht über die Vision der Schweiz als Ganzes. Meistens werden ein paar Parameter und Kennzahlen festgelegt, aber nicht das Warum und Wozu. Und dann kommt plötzlich ein Volksentscheid, bei dem man merkt, dass es Vorstellungen vom guten Leben gibt, die nicht mit dem bisherigen nationalen Kurs übereinstimmen.

 

Dann geht es ein bisschen anders weiter und man wurstelt sich durch.

Brühwiler: Das ist der inkrementelle, pragmatische Ansatz, der bisher ganz gut funktioniert hat. Aber die Frage ist: Wie weit kommt man damit? Unternehmerisch visionär ist er nicht.

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