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«Wir werden weiterhin den Kopf schütteln»

Die Schweiz erhält Aufmerksamkeit von Deutschland. Nur nicht dort, wo sie es gerne hätte: zu viel Beachtung in der Steuerfrage, zu wenig bei der Verteilung des Fluglärms. Für Christian Blickenstorfer, den ehemaligen Schweizer Botschafter in Berlin, hilft nur eines: persönliche Kontakte!

«Wir werden weiterhin den Kopf schütteln»

Herr Blickenstorfer, als Nation kann man sich seine Nachbarn nicht aussuchen. Sie waren bis vor kurzem Schweizer Botschafter in Berlin. Wie gut kennen sich Schweizer und Deutsche eigentlich?
Nachbarn haben es an sich, zu glauben, dass sie sich gut kennen. Aber nach vier Jahren als Botschafter in Berlin muss ich sagen: die Deutschen kennen die Schweizer nicht besonders gut – und vice versa.

Könnte man sagen: die Schweiz, vor allem die Deutschschweiz, schaut ständig nach Norden, während Deutschland der Schweiz mit einer Haltung der wohlwollenden Nichtbeachtung begegnet?
Da ist was dran. Es kommt natürlich auf den Gegenstand an. Beim Steuerthema beispielsweise erhalten wir jeweils sehr viel Beachtung! (lacht) Das negative Klischeebild der Schweiz als Rosinenpickerin ist nicht neidfrei. Gleichzeitig muss man aber verstehen: «Steuergerechtigkeit», was immer das im Detail genau heisst, ist in Deutschland ein sehr hoher Wert. Das geht so weit, dass man aus unserer Sicht illegitime Methoden – Stichwort Datenklau – als weniger wichtig einstuft als die Bedeutung dieses Konzepts.

Der ehemalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück meinte nach dem Ankauf der ersten Daten-CD, das sei das Geschäft seines Lebens gewesen. Heiligt für deutsche Politiker beim Thema Steuern der Zweck die Mittel?
Peer Steinbrück kam während den Europameisterschaften 2008 einmal zu den von der Schweizer Botschaft organisierten Übertragungen nicht als Politiker, sondern als Fussballfreund. In der Pause nahm er sich das Mikrophon und analysierte zur Freude der 300 Anwesenden wie ein Sportkommentator die erste Halbzeit. Von Fussball versteht er etwas, von Finanzen übrigens auch. Ich habe ihm damals gesagt, dass er es irgendwann bereuen werde, die von Ihnen erwähnte Aussage öffentlich gemacht zu haben. Denn ein solcher Kauf ist Hehlerei, auch wenn der Staat der Käufer ist, und Hehlerei ist ein Straftatbestand. Meine Aussage hat ihn zum Nachdenken gebracht. Es kam dann aber anders, als ich es erwartet hatte: gemäss einem Gutachten, das Finanzminister Schäuble im Juni zugänglich machte, dürfte der Kauf vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe als rechtens erklärt werden, und damit hätte dann auch Steinbrück seine Legitimation. Wir Schweizer werden aber weiterhin den Kopf schütteln.

Wie soll die Schweiz auf rhetorische Angriffe reagieren? Zurückschnauzen? Kuschen? So tun, als würde sie kuschen, aber ignorieren?
Man sollte solche Äusserungen ignorieren. Zurückschnauzen liegt uns nicht. Der deutsche Politstil ist ein anderer. Kabinettsmitglieder der grossen Koalition haben mir nach dem rhetorischen Rundumschlag von Steinbrück entschuldigend gesagt: der Steinbrück ist einfach so, der fährt uns am Kabinettstisch in gleichem Ton an den Karren. Die ganze Geschichte war ja völlig unnötig. Wir haben nachgegeben. Aber nicht wegen Deutschland, sondern wegen den Amerikanern.

Trotzdem könnte der Eindruck entstehen, dass die Schweiz kuscht, wenn man bloss den öffentlichen Druck genug erhöht.
Das ist wohl so – leider. Ich habe in Deutschland immer sehr grossen Wert auf die Feststellung gelegt, dass wir eben nicht deutschem Druck nachgegeben haben, als wir auf den OECD-Standard eingeschwenkt sind. Aber gut, das ist ein schwacher Trost. Wir haben die Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und -betrug gegenüber dem Ausland – zu spät – aufgehoben, weil uns die Amerikaner das Messer an den Hals hielten – und bereits zu ritzen anfingen.

Ist die Hoffnung berechtigt, dass künftige deutsche Regierungen der Schweiz mehr Beachtung schenken?
Beachtung muss man sich verdienen! Es gibt schon einen klaren Unterschied zwischen Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble. Nicht in der Sache, aber in Ton und Umgang: Als Süddeutscher kennt Wolfgang Schäuble die Schweiz gut. Er ist beeindruckt von allerlei Dingen, die bei uns funktionieren. Ich habe immer festgestellt, dass sich die Spitzenvertreter der C-Parteien untereinander gut kennen. Als Frau Leuthard kurz nach ihrer Wahl zur Bundesrätin im Herbst 2006 nach Berlin kam, hatten wir überhaupt keine Probleme, in Berlin Gesprächspartner für sie zu finden. Die C-Leute sind international vernetzt. Natürlich ist man der Juniorpartner, aber es ist sehr wichtig, dass man sich untereinander kennt. Und effektiv ist unsere Bedeutung für Deutschland in den letzten Jahren nicht geringer geworden. Aber mit der Öffnung der EU nach Osten sind andere Länder vermehrt in den Fokus der deutschen Politik gerückt. Es bringt den Deutschen aussenpolitisch einen Gewinn, wenn sie in Brüssel mit der Unterstützung dieser Länder operieren können. Und an dieser Stelle haben wir schlichtweg nichts anzubieten.

Das war zu Zeiten der bipolaren Ordnung bis 1989 anders.
Bonn war Bern sicher nicht nur geographisch etwas näher. Seit dem Umzug nach Berlin sieht es nun so aus, als wenn uns Deutschland den Rücken zukehren würde. Nicht, weil die Deutschen etwas gegen uns haben, sondern weil sich der Fokus der bundesrepublikanischen Aussen- und Europapolitik verschoben hat. Und das müssen wir durch vermehrte Kontakte kompensieren.

Warum startet die Schweiz ihre Charmeoffensiven erst, wenn sie mit aussenpolitischen Problemen konfrontiert ist? Eigentlich müsste man in solchen Situationen doch auf langjährige Vorarbeit zurückgreifen können…
Richtig, wobei man auch dann nicht sicher sein kann, dass die Bemühungen fruchten. Zuerst einmal gilt: Länder haben keine Freunde, sondern Interessen. Als ich 2001 als Botschafter nach Washington ging – die Krise mit den nachrichtenlosen Vermögen war überstanden –, erhielt ich vom damaligen Staatssekretär Franz von Däniken den Auftrag, im amerikanischen Kongress eine Gruppe «Freunde der Schweiz» zu schaffen. Wir nahmen die Liste der 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses und schauten, welche Nachnamen eine Schweizer Herkunft haben könnten. Wir hatten sofort 15 Kandidaten für unser Vorhaben. Ich bin zu jedem einzelnen gegangen, und innerhalb von 9 Monaten hatten wir eine offizielle Gruppe beisammen, die formell vom Kongress anerkannt wurde. Solche Aufbauarbeit ist wichtig. Man kann sie nicht erst dann leisten, wenn man schon in der Krise steckt.

Und in ruhigen Zeiten hinzustehen und zu sagen: hallo, hier sind wir – braucht es das auch?
Es fehlt uns an solchem Selbstbewusstsein. Aber ja, es wäre eine gute Idee, auf unsere Erfolge hinzuweisen. Zum Beispiel auf die Schuldenbremse, die in leicht abgeänderter Version auch in Deutschland eingeführt wurde. Es ist wahrscheinlich einer unserer Fehler, dass wir zu zurückhaltend sind. Wir können nicht warten, bis uns die Deutschen interessant finden. Thomas Borer hat seinerzeit eine Veranstaltungsserie mit dem Namen «Deutschland‒Schweiz: Partner im Dialog» ins Leben gerufen. Diese Idee haben wir wiederaufgenommen: Deutsche und Schweizer Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft diskutierten Themen, die in beiden Ländern aktuell sind: Krankenversicherung, direkte Demokratie, Verkehrsfragen.

Ich nehme nicht an, dass in diesen Dialogen eine Lösung für Fluglärmstreit gefunden wurde.
Nein (lacht). Das wird eines der grössten Probleme bleiben, die die Nachbarschaft belasten. Als ich 2006 in Berlin angetreten bin, habe ich schnell gemerkt, dass das Problem weder in Stuttgart noch in Waldshut oder Zürich gelöst werden kann. Es muss in Berlin gelöst werden – und zwar allenfalls auch gegen den Willen der Stuttgarter. Denn es ist so: die Süddeutschen können nur verlieren. Deshalb versucht der Bundestagsabgeordnete Siegfried Kauder mit einer – nichtverbindlichen – Resolution im Bundestag zu erwirken, dass man die Verhandlungen weiterhin auf der Grundlage von Berechnungen der Anzahl Flüge statt des Lärmes führen solle. Das ist Unsinn. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich auf die Ermittlung der Lärmbelastung festgelegt und nach ihrem Besuch gesagt, wenn sie das nächste Mal in die Schweiz komme, wolle sie nicht mehr über den Flughafen sprechen müssen.

Im Fluglärmstreit ist die Schweiz Demandeur. Muss sie etwas anbieten, also opfern, um zu bekommen, was sie will?
In einer von Staatssekretär Michael Ambühl geleiteten Gruppe wurden die gesamten Verkehrsprobleme angeschaut: Schiene, Strasse, Luft. Daraufhin hat man für den Besuch der Kanzlerin im Frühjahr 2008 ein Paket geschnürt. Sie hat es mit der Begründung abgelehnt, dass es nicht zielführend sei, Fluglärm mit Bahnen und Strassen zu verknüpfen. Aber gleichzeitig wurde angedeutet, dass man dann schon noch mit Wünschen kommen werde – womöglich um den Ärger in Baden-Württemberg zu dämpfen.

Was wären solch konkrete Wünsche?
Es gibt Themen, die man bei einer grundlegenden Auslegeordnung als Zucker auf den Kuchen streuen könnte. Zum Beispiel einen S-Bahn-Anschluss in Waldshut. Oder eine Beteiligung an der Hochrhein-Bahn. Ein Wunsch, den wir nicht erfüllen können, ist die A 98, die bei Schaffhausen durch das Rafzerfeld führen würde…

…die alte Verknüpfungs-Strategie.
Das Verknüpfungsdenken ist vor allem bei Leuten verankert, die mit den EU-Institutionen gearbeitet haben. Ich habe immer meine Zweifel gehabt, ob das mit Deutschland funktioniert. Denn während Kreuzkonzessionen im multilateralen Bereich üblich sind, muss das in bilateralen Verhältnissen nicht gleich funktionieren. Die Amerikaner sind zum Beispiel gar nicht empfänglich für Paketlösungen.

Im Falle der Abgeltungssteuer scheint zumindest auf einem Feld eine Lösung gefunden worden zu sein. Das Abkommen verspricht eine dauerhafte Lösung. Im Gegenzug hat man 2 Milliarden zugesichert und jährlich bis zu 500 Ansprüche auf Auskünfte ohne Nennung von Banken. Ganz ehrlich: sind das nicht zu viele Konzessionen, die da gemacht wurden?
Ich denke nicht. Angesichts des Geldes, das hier lagert, ist es nicht viel, was verlangt wird. Die Anfragen sind natürlich ein wenig störend, aber man muss sehen, dass das Abkommen für die Deutschen einen grossen Schritt darstellt. Ich habe immer gehofft, dass wir ein Abkommen abschliessen können, solange Schäuble im Amt ist. Darüber hinaus haben natürlich die Konjunktur und die Finanzschwierigkeiten eine Rolle gespielt, denn mit der Abgeltungssteuer fliesst Geld in die deutsche Staatskasse. Und dieses Geld wird dringend gebraucht. Jetzt liegt es an der deutschen Regierung, im Bundestag und vor allem im Bundesrat das Abkommen so zu verkaufen, dass es nicht als Amnestie erscheint. Denn der vorliegende Deal ist in Deutschland sehr umstritten. In der Öffentlichkeit liessen sich vor allem jene vernehmen, die aus Prinzip dagegen sind. Schwarz-Gelb hat im Bundesrat keine Mehrheit und ist auf Unterstützung Dritter angewiesen. Aber ich denke, dass das Abkommen vom deutschen Parlament ratifiziert wird.

Die Strategie basiert auf der Formel «Geldfluss gegen Ruhe».
Im weitesten Sinne ja.

Ist denn die Hoffnung gerechtfertigt, dass die Abgeltungssteuer den automatischen Informationsaustausch dauerhaft verhindern kann?
Die EU-Kommission hat keine Freude an der Abgeltungssteuer. EU-Botschafter Michael Reiterer hat mir immer gesagt: das werdet ihr nie hinkriegen, die Deutschen dürfen solch ein Abkommen gar nicht abschliessen. Ich sagte: ich gehe davon aus, dass die Deutschen selber gut genug wissen, was sie dürfen und was nicht. Aber es ist eine Gratwanderung. Die EU-Kommission hat nicht alle Kompetenzen, die sie gerne beansprucht. Sie hat zwar versucht, sich diese Kompetenzen anzueignen, ist aber bei den Deutschen, Österreichern und Luxemburgern auf Widerstand gestossen. Und mit dem Abkommen mit Grossbritannien verstärkt sich nun sogar die Front.

Die Schweizer Strategie besteht darin, möglichst schnell möglichst viele Abkommen zu schliessen…
…und zwar mit den wichtigen Ländern! Also mit Deutschland, England und vielleicht sogar mit Frankreich. Und dann wird es für die EU-Kommission schwierig, den Informationsaustausch durchzusetzen.

Apropos Ruhe: Sie scheinen keinen Drang danach zu verspüren und haben nach Ihrer Pensionierung mit «SwissDiplomats – ZurichNetwork» einen Verein und Thinktank mitbegründet, der Diplomaten aus dem Raum Zürich eine Plattform gibt. Haben Sie als pensionierter Diplomat etwa Nachholbedarf, Ihre Privatmeinung kundzutun?
Nein, erstens habe ich nie darunter gelitten, meine persönliche Meinung nicht unzensuriert in die Öffentlichkeit tragen zu können, und zweitens müsste ich dafür keinen Club gründen. Ich erhalte immer wieder Anfragen von Vereinen und Medien, die sagen: jetzt sind Sie ja nicht mehr Botschafter, jetzt können Sie ganz offen Kritik üben. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Kritik mässig vorgetragen werden sollte. Es geht uns Diplomaten ja nicht darum, eine eigene Aussenpolitik zu machen.

Sondern?
Erfahrene Diplomaten haben ein grosses Reservoir an Wissen und Erfahrung. Das geht verloren, wenn es nicht genutzt wird. Wir drängen uns niemandem auf, aber wir bieten unsere Stimme an. Als der Diplomat, Minister, Max Schweizer angeregt hat, einen Verein zu gründen, fragte ich ihn: braucht es den wirklich? Nach einigen Überlegungen kamen wir zum Schluss: ja. Zürich ist eine gute Basis für ein Netzwerk, die Greater Zurich Area ist eine Tatsache. Es meldeten umgehend sich Aktive, die noch in Europa, Amerika oder Südasien sind, aber bereits Interesse bekundeten, später aktiv mitzuwirken. Das ist genau, was wir wollen. Ein anderes Aktionsfeld ist die Förderung des Nachwuchses. Deshalb hat mich so gefreut, dass bei der Gründung junge Gesichter anzutreffen waren. Wir könnten folglich helfen, die richtigen Leute für die richtigen Stellen zu finden. Denn ich bin überzeugt: wir brauchen weiterhin einen Aussendienst mit exzellenten Leuten.

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