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Neue Gräben durchziehen das Land

In kaum einem Staat Europas ist die Polarisierung so stark wie in der Schweiz – und sie hat sich in Form von Gruppenidentitäten gefestigt.
Für die Demokratie ist das nicht zwingend schlecht.

Neue Gräben durchziehen das Land
Denise Traber & Delia Zollinger, zvg.

Mit der Entwicklung der Schweiz zu einer postindustriellen Gesellschaft hat sich auch die Parteienlandschaft grundlegend gewandelt. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts stieg das allgemeine Bildungsniveau und damit verbunden die Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt. Diese im europäischen Vergleich frühen Entwicklungen führten zu weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die zunächst die linken Parteien erfassten: Es gab immer weniger klassische Industriebetriebe und darum auch weniger Arbeiter und Arbeiterinnen in der Schweiz. Die traditionelle Wählerschaft der linken Parteien verkleinerte sich. Gleichzeitig vergrösserte sich eine andere Gruppe: die höher gebildete Mittelschicht. Als ab den 1980er-Jahren mit den Bewegungen für den Umweltschutz, globalen Frieden und die Gleichberechtigung der Geschlechter die Grüne Partei erstarkte, waren die wichtigsten Wähler und Wählerinnen der linken Parteien schon nicht mehr die (Fabrik-)Arbeiter, sondern Lehrerinnen, Sozialtherapeuten, Krankenpfleger und immer öfter Menschen mit einem Universitätsstudium. Mit dem steigenden Bildungsniveau der Schweizer Stimmbürgerschaft veränderte sich auch die Zusammen­setzung der «Arbeiterklasse»: Diese Menschen hatten immer öfter eine Migrationsgeschichte – und immer seltener ein Wahlrecht.

Eine zweite fundamentale Veränderung des Schweizer Parteiensystems setzte Anfang der 1990er-Jahre mit der EWR-Abstimmung ein. Eine Mehrheit der Stimmbevölkerung sprach sich gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum aus. Die SVP hatte als einzige Bundesratspartei dagegen gekämpft. Mit dem Aufstieg der neu als rechtsnationale Partei positionierten SVP wurden – viel früher als in anderen europäischen Ländern – Themen wie nationale Identität, Migration und eine Skepsis gegenüber Europa Teil von politischen Debatten. Während sich die traditionellen Mitte-rechts-Parteien zu diesen gesellschaftspolitischen Themen eher zurückhaltend positionierten, etablierte sich die neue SVP längerfristig als Gegenpol zur grün-roten Linken. Die erfolgreiche rechtsnationale Mobilisierung befeuerte die Spaltungen im schweizerischen politischen System, das heute zu den polarisiertesten Europas gehört.

Gespaltenes Land?

Eine wichtige Frage ist allerdings, ob sich die Gegensätze zwischen den Parteien auch in der Schweizer Bevölkerung abbilden. Es ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zentral, in welcher Form ein politischer Austausch möglich ist und dass letztlich politische Entscheidungen – die ja in der Schweiz immer Kompromisse sind – akzeptiert werden.

Die politikwissenschaftliche Forschung unterscheidet zwischen zwei grundlegenden ideologischen Dimensionen, in denen sich politische Einstellungen und die Positionen der Parteien zusammenfassen lassen: die «wirtschaftliche» Dimension, der traditionelle Konflikt zwischen Linken und Rechten über die Rolle des Staates und die neuere «kulturelle» beziehungsweise gesellschaftspolitische Dimension. Diese umfasst Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders, der Einwanderungs- und Integrationspolitik sowie Gleichstellungsfragen.

Empirische Analysen von Umfragedaten zeigen, dass sich in der Schweiz die politischen Einstellungen in diesen beiden Dimensionen in den letzten drei Jahrzehnten nur wenig verändert haben, dass sich also, entgegen der häufig geäusserten Annahme, die ideologische Polarisierung nicht weiter verstärkt hat. Die Unterschiede zwischen der Wählerschaft der linken und rechten Parteien sind sichtbar, jedoch seit den 1990er-Jahren relativ stabil.1 Die grössten Spaltungen zeigen sich in den Einstellungen zu Migration und Europapolitik. Vergleichsweise kleiner sind die Unterschiede in den Einstellungen zur Wirtschaftspolitik. Die ideologische Polarisierung hat sich also in der Schweiz nicht weiter verstärkt. Aber hat sich die Form der Auseinandersetzung verändert?

Hinter Identitäten stehen Interessen

Auch wenn die ideologische Polarisierung konsolidiert scheint, ist die Wahrnehmung verbreitet, politische Gegensätze würden immer häufiger mit Identitäten verknüpft und emotional aufgeladen. Jüngere Umfragedaten zu sozialen Gruppenidentitäten in der Schweiz zeigen, dass sich Anhängerinnen und Anhänger verschiedener Parteien in ihrem Selbstbild unterscheiden.2 Bei den Kernwählerschaften der Polparteien sind soziokulturell definierte Identitäten überdurchschnittlich ausgeprägt, so zum Beispiel die Identifizierung als «bodenständige, heimatverbundene» Schweizer und Schweizerinnen auf der rechten Seite und als «weltoffen» und «feministisch» auf der linken. Bei Mitte-rechts-Wählerinnen sind historisch wichtige Identitäten wie Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse und zur christlichen Religion immer noch wichtig. Die damit verbundenen Konflikte, die das Schweizer Parteiensystem im 20. Jahrhundert entscheidend prägten, polarisieren jedoch heute weniger.

Wie neu sind denn nun starke, ausgeprägte Identitätsgegensätze? Aus unserer Sicht greifen vorschnelle, oft ­politisch motivierte Diagnosen, Akteure betrieben nur noch «blosse Identitätspolitik», zu kurz. Der Vergleich des aktuellen Kontexts mit den Konfliktlinien, die das Schweizer Parteiensystem historisch prägten, erlaubt eine differenziertere Einordnung.

Ähnlich wie historisch in den Konflikten zwischen Arbeit und Kapital oder um das Verhältnis von Kirche und Staat zeigt die empirische Forschung, dass heutige Identitätsgegensätze mit realen Interessenunterschieden in Verbindung stehen: Die einen fordern etwa gleichen Lohn für gleiche Arbeit oder das Neudenken von Familienmodellen, während andere an traditionellen Arbeits-, Lebens- und Gemeinschaftsformen festhalten wollen. Diese Bruchlinien sind in der Sozialstruktur der postindustriellen Gesellschaft verankert und werden erfolgreich von den Parteien mobilisiert. Wenn Wählerinnen und Wähler klare Vorstellungen von «uns» und «den anderen» entwickeln, zeigt das, dass diese Konflikte politisch Ausdruck gefunden haben und dass sie demokratisch ausgetragen werden. Es geht um etwas in der Schweizer Politik. Die Leute können zwischen klar definierten Optionen wählen. Und ähnlich wie die «Katholikin» in der Vergangenheit CVP wählte oder der «Arbeiter» sozialdemokratisch, haben es die idealtypische «weltoffene Feministin» oder der «bodenständige Schweizer» heute einfacher, sich politisch zu beteiligen und entsprechend eine In­teressenvertretung zu finden als jemand, der sich nicht verorten kann.

In diesem Sinne ist die Schweiz ein Paradebeispiel einer politischen Landschaft, die sich einerseits grundlegend gewandelt, aber andererseits auch bereits wieder so weit gefestigt hat, dass viele Leute sich darin orientieren können. Das ist keineswegs schlecht in einem Land, in dem politische Teilnahme anspruchsvoll und die Wahlbeteiligung tief ist.

Auf Kompromisse ausgelegt

Wie problematisch sind starke, ausgeprägte Identitätsgegensätze für die Demokratie? Die Polarisierung kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, wenn Gruppen oder ganze Lager sich gegenseitig dermassen feindlich gegenüberstehen, dass «Gewinnen» zum Selbstzweck wird und inhaltliche Diskussionen verunmöglicht werden. Die sogenannte affektive Polarisierung, also die emotions- oder identitätsbasierte Polarisierung,3 hat sich insbesondere im US-amerikanischen Zweiparteiensystem in den letzten Jahren verstärkt,4 was zu einer Blockade der demokratischen Entscheidungsfindung geführt und womöglich auch die Institutionen geschwächt hat.

Für eine These, dass die affektive Polarisierung die Demokratie in der Schweiz schwächen könnte, gibt es jedoch aktuell keine klare empirische Grundlage. Erstens besteht dieses Konzept aus zwei Komponenten: die starke Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe verbunden mit einem starken Selbstbild und die Ablehnung einer anderen Gruppe – und zwar in einem Ausmass, das gesellschaftliche Auseinandersetzungen verunmöglicht. Bei uns wird zwar emotional politisiert und debattiert, aber dabei werden weiterhin zentrale politische Anliegen verfolgt und Werte vertreten. Darauf, dass sich der Konflikt auf die zweite Komponente reduzieren würde, deutet wenig hin. Die wenigen Langzeitstudien mit Schweizer Umfrage­daten messen die affektive Polarisierung zudem nur indirekt (über Nähe zu und Abgrenzung von Parteien statt ­deren Wählerschaften), enthalten nur Daten bis 2011 und deuten insbesondere für die letzten Jahre auf keinen eindeutigen Polarisierungstrend hin.5

Zweitens sind die politischen Institutionen der Schweiz auf Kompromissfähigkeit ausgelegt. Das System der Konkordanz und die Korrekturmöglichkeiten über die direkte Demokratie werden von der Schweizer Bevölkerung hochgeschätzt. Politische Entscheidungen werden deshalb auch akzeptiert, wenn man zur Verliererseite gehört – weil wir wissen, dass wir bei der nächsten Abstimmung wieder gewinnen können. Die Demokratie ist also in der Schweiz nicht per se in Gefahr, wenn die Gemüter hochkochen.

Blick durch die gesellschaftspolitische Brille

Inhaltlich bleibt die kulturelle, gesellschaftspolitische Dimension, an deren Enden die SVP und die linken Parteien stehen, zentral für die politische Auseinandersetzung vor den Wahlen im Herbst. Auch klassisch verteilungspolitische Themen wie die Altersvorsorge oder die Gesundheitskosten, welche die Bevölkerung stark beschäftigen, werden zunehmend durch eine gesellschaftspolitische Brille politisiert: wenn zum Beispiel die Linke Renten als Frauenthema thematisiert oder wenn von rechts die Beschränkung der Zuwanderung zum Schutz der Sozialwerke beschworen wird.

Ausgeprägte Identitäten stabilisieren aktuell die wichtigsten politischen Konfliktlinien. Die politische Polarisierung ist in der Schweiz stark ausgeprägt, darauf deuten sowohl Umfragedaten zu thematischen Einstellungen wie auch zu sozialen Gruppenidentitäten hin. Das kann man als normale Folge sehr weitreichender Transformationsprozesse betrachten, wie sie das Schweizer Parteiensystem über die letzten dreissig Jahre erfahren hat. Die Aktivierung von Gruppenidentitäten gehört zudem seit jeher zum Wahlkampf: Politische Akteure wollen ganz gezielt bestimmte soziale Gruppen ansprechen, anregen und an die Urne bringen. Für die politische Entscheidungsfindung ist es derweil wichtig anzuerkennen, dass «wir/sie»-Dynamiken eben nicht losgelöst sind von konkreten Anliegen. Letztere können wiederum Gegenstand von inhaltlichen Diskussionen und Kompromissen auf politischer Ebene sein.

Für die Wahlen im Oktober bedeutet die heute gefestigte Polarisierung, dass eher kleine Verschiebungen zu erwarten sind und diese vor allem innerhalb der politischen Lager stattfinden werden. Die kurzfristigere Themenkonjunktur mag – wie auch bei den letzten Wahlen – entscheidend sein dafür, ob die «weltoffene Feministin» grün oder sozialdemokratisch wählt oder ob sie überhaupt an die Urne geht. Aber sie wird kaum SVP wählen und auch mit tieferer Wahrscheinlichkeit die FDP oder die Mitte. Die politische Polarisierung ist zwar keine neue Erscheinung der letzten Jahre, sie prägt den Wahlkampf in diesem Herbst aber wieder entscheidend mit.

  1. Denise Traber, Lukas F. Stoetzer und Tanja Burri: «Group-Based Public Opinion Polarization in Multi-Party Systems». In: West European Politics 46(4), 2023, S. 652–677, sowie Delia Zollinger und Denise Traber: «The Ideological Space in Swiss Politics: Voters, Parties, and Realignment». In: Patrick Emmenegger et al. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Swiss

  2. Simon Bornschier, Silja Häusermann, Delia Zollinger und Céline Colombo: «How ‹Us› and ‹Them› Relates to Voting Behavior – Social Structure, Social Identities, and Electoral Choice». In: Comparative Political Studies 54(12), 2021, S. 2087–2122, sowie Delia Zollinger: ­«Cleavage Identities in Voters› Own Words: Harnessing Open-Ended ­Survey Responses». In: American Journal of Political Science, 2022.

  3. Shanto Iyengar, Gaurav Sood und Yphtach Lelkes: «Affect, Not Ideology. A Social Identity Perspective on Polarization». In: Public Opinion Quarterly 76(3), 2012, S. 405–431.

  4. Shanto Iyengar et al.: «The Origins and Consequences of Affective Polarization in the United States». In: Annual Review of Political Science 22(1), 2019, S. 129–146.

  5. Noam Gidron, James Adams und Will Horne: «American Affective Polarization in Comparative Perspective». Cambridge Elements, 2020, sowie Levi Boxell, Matthew Gentzkow und Jesse M. Shapiro: «Cross-Country Trends in Affective Polarization». In: NBER Working Paper Series, 2021, sowie Markus Wagner: «Affective Polarization in Multiparty Systems». In: Electoral Studies 69, 2021, 102–199.

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