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Bruno S. Frey, zvg.

Vorverurteilungen

Shitstorms weisen mehr Parallelen zu Lynchmobs auf als zu (Straf-)Prozessen.

Der britische Nobelpreisträger Tim Hunt hielt im Juni 2015 an einer Tagung in Seoul eine launige Rede, wie sie an Abenden nach einem anstrengenden Tag üblich sind. Er sagte: «Drei Dinge passieren, wenn Frauen im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich, und wenn du sie kritisierst, fangen sie an zu heulen. Sollten wir getrennte Labore für Männer und Frauen einrichten?» Diese Bemerkungen waren natürlich mit Augenzwinkern gemeint und wurden vom Publikum mit Gelächter und Applaus quittiert, was aus einem Tonbandmitschnitt deutlich wird. Er fügte hinzu: «Spass beiseite… Wissenschaft braucht Frauen, und sie sollten Wissenschaft betreiben trotz aller Hindernisse.»

Eine Journalismusdozentin sah das Ganze weniger entspannt und twitterte über Hunts angeblichen Sexismus, was sofort einen gigantischen Shitstorm auslöste. Die Konsequenzen für ihn waren katastrophal. Während er auf der Rückreise im Flugzeug sass, wurde er vom University College (UCL) entlassen. Er verlor auch seine Positionen im Europäischen Forschungsrat und der Royal Society. In kürzester Zeit war Hunts Karriere zerstört.

Bei derart verlaufenden Shitstorms werden drei fundamentale Regeln unseres Rechts massiv verletzt:

  1. Eine Person ist unschuldig, solange nicht gerichtlich das Gegenteil bewiesen ist.
  2. Ein Beschuldigter muss nicht beweisen, dass er etwas nicht getan hat.
  3. Verfehlungen werden nach einiger Zeit aus den Gerichtsakten gelöscht.

Bei Shitstorms gelten diese drei Grundregeln nicht mehr, was enorme Konsequenzen für den Beschuldigten, aber auch für das Rechtsempfinden grosser Bevölkerungsgruppen hat. Shitstorms weisen mehr Parallelen zu Lynchmobs auf als zu aufgeklärten (Straf-)Prozessen. Und was lässt sich dagegen tun? Die traurige Antwort ist: fast nichts. Eine rasante Verbreitung eines Shitstorms im Netz lässt sich nicht verhindern. Gerichte könnten zwar einschreiten, der Schaden ist jedoch zu dem Zeitpunkt längst entstanden. Freiwillige Vereinbarungen von Social-Media-Plattformen könnten Shitstorms eindämmen oder aus einem zu äufnenden Fonds negativ Betroffene monetär teilweise kompensieren. Den grössten Hebel bei der Prävention haben wir als Nutzer selbst: Wer eine öffentliche Verurteilung tippt, sollte lieber einmal zu oft als einmal zu wenig darüber schlafen, bevor er sie tatsächlich absendet. Es geht um nichts weniger als Menschenleben. Und so viel Reflexion kann man mündigen (und vor allem: einflussreichen) Mitbürgern auch online zumuten.

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