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Von Scheinmangel und Rezession

Je höher der Wohlstand, desto grösser die gefühlte Armut – kann das sein? Ja, es kann, wie die aktuelle Debatte um gegenleistungslose Grundeinkommen zeigt. Der Philosoph Peter Sloterdijk versteht die Welt nicht mehr.

Kommt ein urbaner Schriftsteller auf Lesereise mit einem neuen, vieldiskutierten Buch in die ländliche Idylle, darf er mit dem Wohlwollen des Publikums rechnen. Schliesslich bietet sich den lokalen Kulturhonoratioren nicht alle Tage Gelegenheit zum Gruppenfoto mit einer internationalen Feuilletongrösse. So geschehen jüngst in der reformierten Kirche von Heiden hoch über dem Bodensee, wohin die Kulturlandsgemeinde, eine Art Nachfolgeveranstaltung der in Ausserrhoden abgeschafften politischen Landsgemeinde, Peter Sloterdijk zu einem Vortrag eingeladen hatte. Der Philosoph stellte sein neues Werk vor und sprach – aus aktuellem Anlass – über das Wesen des beliebig vermehrbaren Geldes. Die Veranstalter hatten dem deutschen Denker sogar die Zusage abgetrotzt, dem Publikum Red und Antwort zu stehen, was sich für eine Landsgemeinde gehört, im Fall Sloterdijks aber Seltenheitswert hat. Die Zuhörer hingen an seinen Lippen. Allein sie missverstanden sein Plädoyer für einen neuen artistischen Humanismus, und spätestens dann war’s mit dem Spass vorbei.

Es war die simple Frage, was er als Humanist von einem gegenleistungslosen Grundeinkommen halte, die den Zorn des Philosophen provozierte. Erstens, so Sloterdijk, möchte der Mensch nicht beschenkt werden, sondern schenken. Das Grundeinkommen wäre also unmenschlich, weil es den Beschenkten daran hindere, zu seiner Bestimmung zu finden. Und ganz abgesehen davon, so Sloterdijk zweitens, kapiere er die Frage nicht, sei doch das implizite Grundeinkommen in westlichen Sozialstaaten längst verwirklicht. Diese Staaten ermöglichten allen ein Leben, ohne dass sie dafür zu bezahlen brauchten – was natürlicherweise zur Folge habe, dass auch immer weniger etwas dafür bezahlen möchten. Mit dieser Replik hatte in dieser christlich-sozialen Runde offensichtlich niemand gerechnet. Ein Raunen ging durch die Reihen.

Dabei hätte es genügt, den letzten Band seiner «Sphären»-Trilogie zu lesen, in dem er die Geburt des modernen Sozialstaats aus dem Geiste der Überflussgesellschaft beschreibt. Sloterdijk ersetzt die marxistische Metapher von der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich durch die Rede von der wachsenden Kluft zwischen objektivem «Wohlstand» und subjektiv gefühltem «Unkomfort». In der Leugnung tatsächlich stattfindender Verwöhnungen erkennt er das Leitmotiv öffentlicher Debatten in westlichen Demokratien; was sie verbindet, ist die alle politischen Parteien überspannende Ideologie, «die Freiheit in Notwendigkeit und den Reichtum in Bedürftigkeit zurückzufälschen».

Diese Art von weit verbreiteter gefühlter Armut, die von tatsächlicher Armut zu unterschieden ist, stellt zweifellos ein Luxusphänomen dar. Man muss es sich leisten können, den Überfluss in Mangel umzudeuten. Doch wie konnte es soweit kommen? Wie ist es möglich, dass Staaten, die ihre Bürger – oder Klienten – verwöhnen, oft bloss den Undank ihrer verwöhnten Zöglinge ernten? Wie kann es sein, dass ein Gutteil des antistaatlichen Reflexes, den Liberale gerne als Wasser auf die Mühlen ihrer Programme interpretieren, dieser Undankbarkeit entspringt?

Nach Sloterdijk lassen sich die Paradoxien nur verstehen, wenn wir den Staat nicht länger vom Vater, sondern von der Mutter her denken. Der Staat des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts ist ein «quasi-totaler Allomutterstaat», der seine Bürger – seine Klienten – infantilisiert, indem er sie rundum umsorgt. Alle buhlen um die Gunst der Mutter, wobei deren Gunstbezeugungen nie genügen. Die Kinder, die in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, fühlen sich nie genug geliebt. Je mehr Gunstbezeugungen sie erhalten, desto mehr spüren sie, was ihnen noch fehlt. Oder anders gesagt: je mehr sich der Allomutterstaat verwirklicht, desto mehr wird er zugleich als ungerecht beklagt.

Sloterdijk schreibt fast schon amüsiert: «Zu jedem Komfort gehört es, dass er sich nur als steigenden konzipieren kann; konsequenterweise beschreibt er das gegebene Niveau als Unkomfort und unannehmbare Zumutung und klagt seine Hebung als dringendste Forderung der Menschenrechte ein. Daher die Fassungslosigkeit der Modernen angesichts von Rezessionen, und ihre Bereitschaft, wegen winziger Verluste an Realeinkommen das Ende der Zeiten für nahe zu halten.»

Wir stecken in einer Rezession. Die Verlustängste der Verwöhnten sind greifbar. Ob es zu einem Umdenken führt, wenn der Allomutterstaat tatsächlich überfordert ist und seine Kinder notgedrungen mit Liebesentzug straft? Das ist wohl Wunschdenken. Die Kraft unbewusster Phantasien hat noch jedes rationale Denken überlebt.

Peter Sloterdijk: «Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik» (Suhrkamp 2009), «Sphären III. Schäume» (Suhrkamp 2004).

In der nächsten Heftausgabe folgt ein Text des jungen Ökonomen Kristian Niemietz zum relationalen Armutsbegriff europäischer Staaten.

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