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Vom «Krüppel» zur Zielgruppe
Carsten Dethlefs, zvg.

Vom «Krüppel» zur Zielgruppe

Mit immer neuen Gesetzen versucht die Politik, Menschen mit Behinderung zu helfen – und fördert vor allem die Bürokratie. Wirklich verbessert werden kann die Teilhabe mit marktwirtschaftlichen Prinzipien.

In den meisten Ländern der Welt steigt das Durchschnittsalter stetig an. Damit dürften körperliche wie auch geistige Behinderungen ebenfalls zunehmen. In Deutschland leben derzeit bereits acht Millionen Personen mit einer anerkannten Schwerbehinderung – fast 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ihrer grossen Zahl zum Trotz werden sie fortwährend rein durch die sozialpolitische Brille betrachtet. Die Kosten der staatlichen Unterstützung stehen einer weitverbreiteten Produktiv- weil Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe gegenüber. Dieses Delta lässt sich nicht mit noch mehr Sozialgesetzen überwinden. Vielmehr sind marktwirtschaftliche Prinzipien der richtige Weg, wie ich in meinem neuen Buch argumentiere 1.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden Menschen mit Handicap abwertend als «Krüppel» bezeichnet. Die Motivation, sie zu fördern, bestand einzig und allein in der Schaffung von gesichtslosem Produktivkapital. Die Armenfürsorge war oftmals der einzige sozialpolitische Anker.

Hilfsmittel wie der Rollstuhl, Hörgeräte, die Blindenschrift oder assistive Computertechnologien sind rein privat- und marktwirtschaftlich entstanden. So entwickelte Apple mit seinem iPhone vermutlich unabsichtlich ein Hilfsmittel, von dem heute insbesondere blinde Personen stark profitieren. Mit der Funktion VoiceOver und der richtigen App kann man sich beispielsweise die Temperatur, die Zeit, den Standort, die Entfernung zu einem bestimmten Ort oder die Börsenkurse vorlesen lassen.

Gesetze auf diesem Gebiet sind hingegen oft sehr bürokratisch, oftmals sogar kontraproduktiv. Man denke etwa an den besonderen Kündigungsschutz, der dem Betroffenen die Verfügungsgewalt über seine eigene Arbeitskraft nimmt und die Chancen auf eine längerfristige, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung senkt.

Zwar werden immer zahlreichere Gleichstellungsgesetze und somit Klagemöglichkeiten geschaffen. Das Selbst- und Fremdbild tangieren diese Auseinandersetzungen freilich nicht positiv; gefördert wird einzig die Bürokratie. Die Interessenverbände von Menschen mit Handicap betreiben zudem «Rent-Seeking» auf Kosten des öffentlichen Ansehens dieser Gruppe.

«Apple entwickelte mit seinem iPhone vermutlich unabsichtlich ein Hilfsmittel, von dem heute insbesondere blinde Personen stark profitieren»

Im Zentrum des Marktgeschehens

Um Menschen mit Handicap die verdiente Würde zu verleihen und Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen, ist ein stärker menschzentriertes Verständnis in der Öffentlichkeit nötig. An der Fachhochschule Westküste habe ich daher das Fach «Menschen mit Behinderung als Zielgruppe – Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil» etabliert. In diesem Konzept steht der Mensch mit Handicap nicht mehr als Krüppel abseits. Er wird vielmehr zum Zentrum des Marktgeschehens und zum König des Konsums. Viele Geschäfte werden so handeln, wie es Adam Smith in «Der Wohlstand der Nationen» beschreibt:

«Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von deren Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Menschenliebe, sondern an ihre Eigenliebe und sprechen ihnen nie von unseren eigenen Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen. Nur ein Bettler zieht es vor, hauptsächlich vom Wohlwollen seiner Mitbürger abzuhängen.»

Wer seine Zielgruppe ignoriert, wird bestraft

Ist ein Geschäft beispielsweise nicht barrierefrei, hat man in einer Marktwirtschaft die Möglichkeit, eine passendere Alternative aufzusuchen. Unterschätzt ein Unternehmen das Potenzial der neuen Zielgruppe, verliert es den Pioniervorteil auf diesem Gebiet und viele vermutlich dankbare und treue Kunden.

Die Teilnehmer meiner Vorlesung besuchen oft in Zweiergruppen ein Geschäft – beispielsweise einen Kleiderladen – und erbitten Beratung und Betreuung vom Verkaufspersonal. Von dieser Zweiergruppe trägt in der Regel eine Person eine Augenbinde zur Simulation von Blindheit. Mögliche Probleme in einem Bekleidungsgeschäft könnten sein: Wie soll ein Rollstuhlfahrer in die Umkleidekabine kommen? Wie erkennt ein Blinder die Farbe einer Jacke? Hier ist eine eingehende Beratung gefordert, die den Kunden mit besonderen Bedürfnissen dauerhaft und unbürokratisch bindet. Eine App mit dem Namen «Seeing AI» kann die Farbe und Stoffmuster eines Kleidungsstücks beschreiben. Kein Gesetz kann diese Dinge ermöglichen. Es sind somit die Gesetze des Marktes und keine obrigkeitsstaatlichen Vorschriften, die hier Fortschritte bringen.

«Unterschätzt ein Unternehmen das Potenzial der neuen Zielgruppe, verliert es den Pioniervorteil auf diesem Gebiet und viele vermutlich dankbare und treue Kunden.»

Zwar sind auch heute bei weitem noch nicht alle Örtlichkeiten barrierefrei. Auch bleibt die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Handicap hoch. Die Marktwirtschaft könnte auch hier Abhilfe schaffen. Bewerber sollten ihre Fähigkeiten und das Vorhandensein technischer Hilfen offener kommunizieren. Auf diese Art und Weise können Arbeitgeber Kenntnis davon erlangen und Menschen mit Handicap besser berücksichtigen.

Die neue Regierung in Deutschland hat bereits neue Gesetze in der Pipeline. Doch auch diese werden für sich genommen nicht viel bewirken. Vertrauen wir doch mehr den Menschen, machen wir positiv auf Menschen mit Behinderung aufmerksam und stellen wir deren Potenzial in den Mittelpunkt. Dann werden wir eher früher als später eine Verbesserung der Situation erreichen.

  1. Carsten Dethlefs: Teilhabe durch Marktwirtschaft. Gedanken gegen Staatsverliebtheit. Metropolis-Verlag, 2025.

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