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Die Bünzlinken
Ralph Pöhner, zvg.

Die Bünzlinken

Einst waren sie die emanzipatorischen Freigeister, heute wollen sie bevormunden: eine kleine Abstiegsgeschichte der Linken.

Natürlich kann man fordern, dass Airbnb verboten werde. In der Stadt Luzern hiessen die Stimmbürger das Anliegen ja sogar gut. Und natürlich kommen solche Initiativen meist von links. In Luzern zum Beispiel von der SP.

Natürlich? Es müsste nicht sein. Dass Menschen aus aller Welt dank Airbnb günstig in die Ferien können (sogar in ein teures Pflaster wie Luzern!), während andere Menschen mit wenig Geld ihre Wohnung etwas versilbern dürfen – dies liesse sich auch als ursoziale und völkerverbindende Idee verstehen. Doch das ist vorbei, und damit zeigt das kleine Beispiel wieder mal, wie sich die weltanschauliche Ordnung dreht.

Einst galten die Konservativen als elitär, autoritär und traditionsbewusst; die Liberalen wollten wenig Staat und viel Wirtschaft; die Linken standen für Unterprivilegierte ein und waren ein bisschen wild und obrigkeitskritisch. Heute wird ein Anarchohippie wie Nicolas Rimoldi als rechts schubladisiert, während ein Establishmentpatriarch wie der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann als links gilt.

Teilnehmer einer Friedensdemonstration im Dezember 1981 in Bern. Bild: ETH-Bibliothek Zürich/Beat Märki.

Manche erklären sich die Kapriolen damit, dass der Rechtspopulismus Grenzen verwischt habe. Doch kaum jemand zeigt auf den anderen Elefanten im Raum: die demokratische Linke. Schleichend bewegte sie sich in den letzten Jahrzehnten von einer Haltung, die man linksemanzipatorisch nennen kann, zu linksliberal. Dann von linksliberal zu linkskonservativ. Und zuletzt von linkskonservativ zu Attitüden, die man langsam als linksautoritär bezeichnen muss. Es war eine internationale Entwicklung, die sich wohl am greifbarsten in der deutschen Sozialdemokratie abzeichnet, aber auch im zweiten Pol der Szene, bei den Grünen.

«Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint», sagte der Sozialdemokrat Willy Brandt im Mai 1968.1 – «Somit benötigen wir Massnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, die analog zu den Einschränkungen der persönlichen Freiheit in der Pandemiebekämpfung sind», sagte der Sozialdemokrat Karl Lauterbach im Dezember 2020.2

Ein Leitspruch der europäischen Linken in der Ära von Willy Brandt lautete: «Mehr Demokratie wagen!» Die Genossen verlangten entschlossen mehr Mitwirkung der Bürger – Schluss mit der «hoheitsvollen Distanz» der Regierenden, wie es in der Kanzlererklärung von 1969 hiess. Dann folgte die sozialliberale Helmut-Schmidt-Ära, wo die Linken zu Reformen aller Art ansetzten und Toleranz zeigten fürs eigenwillige Individuum – bei der Bildung, im Strafrecht, in der Drogenpolitik, für die Gleichberechtigung, bei der Abtreibungsfrage.

Dann, nächste Stufe, die rot-grünen Schröder-Fischer-Jahre, wo sich die regierende Linke als bewahrende Kraft formierte. Unter Schlagworten wie Hartz IV, Agenda 2010 – oder in Grossbritannien: New Labour – half sie mit, den Sozialstaat auf ein tragbareres Mass zu trimmen. «Die Linke hat etwas zu bewahren», erklärte ein Vordenker von New Labour, der englische Historiker Tony Judt.3 «Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, dann als Sozialdemokratie der Angst. Statt eine optimistische Fortschrittsrhetorik zu pflegen, sollten wir uns wieder mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigen. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, an die Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts zu erinnern.»

Wachsendes Misstrauen in die Bevölkerung

Sozialdemokratie der Angst? Judt dachte da vor allem an die Vorsicht, die zum Fortschritt stets auch gehört. Doch mit den Jahren wurde aus Vorsicht eher Besorgnis, und das Bedürfnis nach Achtsamkeit traf in weiten linken Kreisen auf die Illusion, dass man jedes Problem per Dekret kleinkriege. Flugverbot, Flugshowverbot, Laubbläserverbot, Zuckerverbot, Werbeverbote aller Art, Feuerwerksverbot, SUV-Verbot, Tempolimit – die Paragrafen, die links ausgedacht werden, sind heute faszinierend bunt. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, eine Lichtgestalt der Szene, meinte unlängst, dass Verbote «die Bedingung für Freiheit» seien. Man solle aufhören, «Angst vor diesem Wort zu haben».4

Mit dem Zutrauen in die Staatsmacht wuchs das Misstrauen in jene, die da behütet werden sollen – also die Bevölkerung. 2020 kippten die deutschen Grünen einen Hauptpunkt aus ihrem Programm, mit dem sie 1980 losgezogen waren: die Forderung nach Volksentscheiden. Das Wort «Basisdemokratie», lange ein Schlüsselbegriff in diesen Zirkeln, tauchte in ihrem letzten Wahlprogramm kein einziges Mal mehr auf.

Die Coronapandemie machte dann vollends klar, wie krass die rot-grüne Nanny in ihrem dauerbesorgten Herzen geworden ist. Es waren ausgeprägt die linken Vertreter, die übergriffige Dekrete okay fanden und rasch bereit waren, Grundrechte auszuhebeln; wer dagegen à la Willy Brandt auf die Barrikaden wollte, wurde von diesem Milieu speziell eifrig niedergetwittert. Wie die Linke bis zum bitteren Omikron-Ende dafür kämpfte, der Bevölkerung Gentech-basierte Produkte von US-Pharma-Multis aufzuzwingen, mit Überwachungsstaatstechnik, 2-G-Apartheid und schwarzer Pädagogik – es hätte ihren Vorvätern den Atem verschlagen. Und unübersehbar sind die Hinweise, dass jener Geist weiterwuchert in der Klimadebatte.

«Die Corona­pandemie machte vollends klar, wie krass die ­rot-grüne Nanny in ihrem dauer­besorgten Herzen geworden ist. Es waren

ausgeprägt die linken Vertreter, die übergriffige ­Dekrete okay ­fanden und rasch bereit waren, Grundrechte ­auszuhebeln.»

Sonderfall Schweizer Linke?

In Deutschland zählte die Zeitung «Die Welt» einmal durch, wie viele Anträge von welcher Fraktion im Bundestag ein Verbot forderten. Als Spitzenreiter erwies sich – wenig überraschend – Die Linke, gefolgt von den Grünen. Macht man eine ähnliche grobe Zählung im eidgenössischen Parlament, bemerkt man allerdings einen Unterschied: Da fällt ein vorsichtiger Vorstoss der SP-Fraktion für Lärmblitzer fast schon aus dem Rahmen. Die anderen Anliegen drehen sich um Strom, Krankenkassen, ÖV-Angebote oder Transparenz im Rohstoffhandel. Es ist das klassische Engagement für Unterprivilegierte, Umwelt und Service public. Die Regulierung des Alltags ist der Schweizer Linken offenbar nicht ganz so wichtig.

Anruf bei Jo Lang, ehemals Nationalrat der Grünen, Historiker, Mitgründer der überaus staatskritischen Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und einer der erfahrensten Beobachter des Schweizer Systems: Gibt es da einen Sonderfall? Es sei die direkte Demokratie, die auch da ihre Wirkung entfalte, analysiert Lang: In der Schweiz sei nicht der Staat die grösste Autorität – sondern das Kapital. «Antiautoritarismus heisst hier: Aufstand gegen das Kapital.» Zudem sei das helvetische System gut geeignet, Bestehendes zu verteidigen; dadurch habe es den linken Parteien in der Ära des Neoliberalismus viele Chancen geboten – zum Beispiel, um Arbeitnehmerrechte zu bewahren und Privatisierungen zu bremsen. Die direkte Demokratie zwinge die Linke selber, konkrete Bedürfnisse wie soziale Sicherheit und gerechte Verteilung ernster zu nehmen, als dies in repräsentativ regierten Staaten der Fall sei.

Im übrigen will Jo Lang nichts wissen von einem besonderen Untertanengeist in der roten oder grünen Szene: «Es stimmt, in der Neuen Linken waren wir früher staatskritischer», sagt er. «Wir sahen den Staat bloss als Vollzugsorgan des Kapitals. Aber das war ein Grundfehler.» Es sei definitiv ein Fortschritt, «dass man sich bewusster ist, wie wichtig der Rechtsstaat ist».

Immerhin zeigt Mitte-links auch dort, wo es ein bisschen herrschen kann, gern klare Kante – also in den Zentren. Da kann es dann ganz nach dem berühmten Motto des rot-grün geprägten Stadtrats von Zürich laufen: «Erlaubt ist, was nicht stört.» So haben sich seit der Jahrtausendwende immer auch sozialdemokratische Stadtväter und -mütter gefunden, die Massnahmen wie Rayonverbote und Wegweisungen einführten, damit alles seine Ordnung hat und die City gepflegt aussieht.

Wer will, kann einwenden, dass das nur Mosaiksteine seien. Kann sagen, dass da vielleicht recht paternalistisch gedacht werde, aber noch lange keine Linie in autoritäre Zustände strebe. Doch klar ist auch, dass die demokratische Linke einen recht menschlichen Entwicklungsweg ging, von der Widerspenstigkeit zur Obrigkeitsallüre. Wer heute noch den 1968er-Slogan «Es ist verboten, zu verbieten» lustig findet, muss aufpassen, dass er nicht als «rechts» schubladisiert wird.

Wie kam das? Es gibt dafür – erstens – eine soziologische Erklärung: Die Linke spricht nicht mehr für Arbeiter, Arme und Aussenseiter, sie vertritt einen Stand der Beamten, des Lehrpersonals, der Laptop-Angestellten. Längst kommen auch ihre führenden Vertreter aus einem Milieu, dem Bestand und Beständigkeit wichtig ist. Der Weg ging, frech gesagt, von links zu «bünzlinks».

Es gibt, zweitens, die weltpolitische Erklärung: Die demokratische Linke musste sich fast durchs ganze 20. Jahrhundert gegen den totalitären Kommunismus abgrenzen. «Zuversichtlich marschierte man in eine bessere Zukunft und warf doch unablässig nervöse Blicke über die linke Schulter», so hat Tony Judt es formuliert. «‹Wir sind nicht autoritär›, scheint sie [die Sozialdemokratie] zu sagen. Wir sind für Freiheit, gegen Unterdrückung. Wir sind Demokraten, die an Gleichheit, Gerechtigkeit und soziale Marktwirtschaft glauben.»5 Aber nach dem Ende von Europas KP-Diktaturen war eine solch scharfe Grenze zu den Linkstotalitären weniger zwingend.

Es gibt, drittens, die Moralismuserklärung. Die Linke war stets ein Sammelbecken für Menschen, die Tugendhaftigkeit kultivieren und die rasch Verderbnis wittern. «Der Konservative steht staunend vor der Unvernunft der Welt, aber er akzeptiert sie kopfschüttelnd als Tatsache des Lebens. Der Linke nimmt sie als Beleidigung» – so hat der Politkolumnist Jan Fleischhauer die Grundtypen einmal beschrieben.6 Dass der sendungsbewusste Moralist die Unvernunft seiner Mitmenschen notfalls per Staatsmacht eindämmen will, gehört zum Denkmuster.

Das führt zur vierten Erklärung: Je detaillierter unsere Staaten reguliert sind, desto enger ist der Rahmen, der noch übrig bleibt zur gutmeinenden Gestaltung – ein Teufelskreis. Jüngst wollte eine Initiative in Genf jegliche Aussenwerbung verbieten, eine abgefahrene Idee, auf die man überhaupt erst kommt, wenn sonst schon fast alles durchgeregelt ist. Dazu hatte der grosse Liberale und Soziologe Ralf Dahrendorf bereits 1992 bemerkt, dass «die Heroen der sozialdemokratischen Welt» inzwischen «eher Superbürokraten als innovative Führer» seien.7

Und doch gelten die Linken als Freigeister

Trotz allem umgibt der Nimbus seiner Flegeljahre das rot-grüne Milieu bis heute. Unfreiheitlich, reaktionär und einengend – das sind die anderen. In der herrschenden Sicht wird der autoritäre Charakter politisch rechts verordnet. Gemeinhin beschreibt man damit Persönlichkeiten, die klare Strukturen benötigen, traditionelle Normen ernst nehmen, Veränderungen scheuen und Hierarchien toll finden. Und die sind konservativ, basta. Wenn nicht sogar schlimmer.

Wer sich links gibt, den umgibt selbst dann noch ein rebellisches Flair, wenn er staatstreuer ist als jeder EU-Kommissar. Dabei hilft, dass die Rhetorik der Linken keineswegs autoritär ist, im Gegenteil: Sie richtet sich ja gegen irgendwelche Mächtigen – das macht sie vielen so sympathisch. Rhetorisch geht es immer um Solidarität, nie um Autorität. Und vor allem blicken Medien und Wissenschaft, wenn sie den bevormundenden Geist suchen, bloss in eine Richtung.

Allerdings beginnen angelsächsische Sozialwissenschafter langsam, das Phänomen der Linksautoritären auch etwas zu beachten; und womöglich verleiten die Exzesse der «Lockdown-Left» nun sogar dazu, dass man der Sache etwas eifriger nachgeht. Zu offensichtlich ist, dass gewisse Züge des autoritären Menschenschlags – Dogmatismus, geistige Enge, Vorurteile und eine Liebe zur sozialen Kontrolle – bei linken Wählern und Politikern ebenso verbreitet sind wie bei rechten. In einer grossen Erhebung von US-amerikanischen Psychologen, für die 7260 Menschen Fragebogen ausfüllten, fanden sich gewisse «Marker» des autoritären Charakters gleichmässig verteilt entlang der politischen Vorlieben. Im Detail zeigte die 2022 veröffentlichte Studie8 allerdings auch einen etwas verschobenen Schwerpunkt: «Linke Autoritäre empfanden die Welt eher als gefährlichen Ort und erlebten als Reaktion auf Stress intensive Emotionen und ein Gefühl der Unkontrollierbarkeit», heisst es da. Die Welt ist, von links her gesehen, also tendenziell ein riskanter Ort.

Das war sie vielleicht schon immer. Aber in Zeiten von Pandemie, Klimawandel und KI-Revolution wird man sich vor dieser Art Furchtsamkeit besonders hüten müssen.

  1. Webarchiv Deutscher Bundestag, http://www.bundestag.de/webarchiv/­textarchiv/2013/45021549_kw22_kalenderblatt_notstandsgesetze-­212564

  2. Karl Lauterbach, OpEd: «Klimawandel stoppen?». In: «Die Welt», 27.12.2020.

  3. Vortrag an der New York University, 19. Oktober 2009. In: Tony Judt: «Wenn sich die Fakten ändern. Essays 1995–2010», S. Fischer, 2017.

  4. Robert Habeck, Interview im Deutschlandfunk, 18. November 2019; http://www.deutschlandfunk.de/gruenen-chef-habeck-verbote-sind-die-­bedingung-fuer-freiheit-100.html

  5. Judt, ebd.

  6. Jan Fleischhauer: «Unter Linken. Von einem, der aus Versehen ­konservativ wurde», Rowohlt, 2009.

  7. Ralf Dahrendorf: «Die Sozialdemokratie ist am Ende ihrer Kunst». In: «Die Zeit», 27. März 1992.

  8. Thomas H. Costello, Shauna Bowes, Sean T. Stevens, Irwin Waldman, Arber Tasimi, Scott O. Lilienfeld: «Clarifying the Structure and Nature of Left-Wing Authoritarianism». In: «Journal of Personality and Social Psychology» / NIH, Januar 2022. DOI: 10.1037/pspp0000341.

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