Auf den Routen der Mafia
Wie kriminelle Netzwerke die Mittelmeermigration organisieren.
«Viele wurden in den Laderaum unter Deck gezwängt und eingeschlossen. Die Schlepper haben die Türen verschlossen, damit keiner rauskam.» Ein 23-jähriger Mann aus Bangladesch erzählt am 21. April 2015 den Rettungskräften im sizilianischen Catania, was auf dem Fischerboot geschah, das zwei Tage zuvor vor der Küste Libyens gekentert war. Er gehört zu den 28 Überlebenden. Über 900 andere waren ertrunken.
Sie waren aus allen Himmelsrichtungen bis nach Zuwara gereist, einer Hochburg des Menschenschmuggels im Bürgerkriegsland Libyen. Die, die es an Bord des schlecht gewarteten Fischerboots schafften, hatten kaum zu essen, kein Wasser. Die Notdurft verrichteten sie in ihrem schwimmenden Gefängnis. Als sich ihnen ein von der italienischen Küstenwache alarmiertes Containerschiff näherte, rannten alle an Deck auf eine Seite, um als erste an Bord zu gelangen. Der überfüllte Kahn kenterte. Die unter Deck Eingeschlossenen, darunter viele Frauen und Kinder, hatten keine Chance. Die meisten anderen ertranken, weil sie nicht schwimmen konnten.
Im Mittelmeer starben laut UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR dieses Jahr bereits über 3000 Menschen, ähnlich viele wie letztes Jahr. Was in Europa nur wenigen bewusst ist: Die Leute fahren nicht einfach los. Sie reisen auf den organisierten Routen der Mafia. Die Paten sind seit Generationen spezialisiert auf alles, was der wohlhabende Teil der Welt bei Tageslicht nicht sehen will: Drogen, Waffen, Prostituierte, Elfenbein, Tropenholz. Und Menschen.
Ein 6,75-Milliarden-Dollar-Geschäft
Weltweit sind zurzeit über 65 Millionen Menschen auf der Flucht – vor aktuellen Kriegen, vor Terror, Rechtlosigkeit oder existenzieller Armut. Laut der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR ziehen 40,8 Millionen von ihnen innerhalb ihres Heimatlandes umher. 21,3 Millionen sind ins Ausland geflohen, 3,2 Millionen warteten im Dezember 2015 auf einen Asylentscheid. Mehr als 268 000 Menschen kamen bislang dieses Jahr nach Europa, 2015 waren es insgesamt über eine Million, die meisten aus den Kriegsländern Syrien, Afghanistan und Irak. Bis auf wenige Ausnahmen dürften organisierte Kriminelle an der Reise all dieser Menschen kräftig verdient haben, denn die legalen Möglichkeiten, nach Europa einzureisen, sind äusserst beschränkt.
Ein Platz an Bord eines Bootes von Nordafrika nach Italien koste zwischen 3000 und 6000 US-Dollar, sagte der sizilianische Staatsanwalt Paolo Giordano gegenüber «The Globe and Mail». Ein einziges Boot mit hundert Flüchtlingen könne den Menschenschmugglern mindestens 300 000 US-Dollar einbringen. Leicht verdientes Geld. Die Flüchtlinge zahlen im voraus, für viele sind die Schmuggler die einzige Hoffnung. Insgesamt erwirtschaften Schlepper auf den beiden Hauptschmuggelrouten – von Afrika nach Europa und von Südamerika nach Nordamerika – laut United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) jährlich geschätzte 6,75 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: das ist mehr als das Fünffache dessen, was die beiden grössten Schweizer Detailhändler letztes Jahr verdient haben (1,3 Milliarden US-Dollar) – und das in Ländern, in denen die Kaufkraft deutlich unter jener der Schweiz liegt. Ein lukratives Geschäft.
Am Gewinn beteiligt sind professionelle Kriminelle, die Migranten weltweit schmuggeln, und weniger organisierte lose Netzwerke sowie Gelegenheitsschleuser, die eine gute Möglichkeit für einen Nebenverdienst sehen. Auch korrupte Beamte verdienen mit: Sie kämen in einer «Saison» locker auf 40 000 US-Dollar Zusatzverdienst, schreiben Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci in ihrem Buch «Bekenntnisse eines Menschenhändlers». Für den Schmuggel von Migranten aus Asien über Afrika seien dagegen ohne Ausnahme organisierte kriminelle Netzwerke zuständig, so das UNODC. Die Migranten zahlen den Schleusern zu Beginn der Reise zwischen 12 000 und 18 000 Euro pro Person. Die Verbrechersyndikate, die Menschen auf dem Landweg über Iran und die Türkei nach Europa schleusen, bedienen sich seit der Jahrtausendwende zunehmend ebenfalls der Route durch Westafrika und die Sahara. Das UNODC berichtet von einem von den marokkanischen Behörden ausgehobenen Schmugglerring, der vor jedem Fahrzeug mit reichen asiatischen Kunden einen Bus voller westafrikanischer Migranten über die Grenze schickte, damit die Aufmerksamkeit der Grenzbeamten mit den weniger zahlungskräftigen Kunden abgelenkt war.
«Es ist besser als das Drogengeschäft»
Besonders aktiv im europäischen Menschenschmuggel sind traditionell die albanische (Balkanroute) und die italienische Mafia. 2013 gelang den Ermittlern in Italien ein Coup, der zeigt, wie erfolgreich die Paten das grosse Sterben auf dem Mittelmeer verwalten. Als 2013 ein Migrantenboot vor Lampedusa sank, wies der Mafiajäger Calogero Ferrara seine Mitarbeiter an, die Überlebenden nach den Telefonnummern der Schmuggler zu fragen, wie das US-Magazin «Newsweek» berichtete. Das Team hörte insgesamt über 30 000 Telefonate ab.
Ein Mann fiel Ferraras Team dabei besonders auf: Ermias Gheramy, ein vierzigjähriger Äthiopier, der von der libyschen Küste aus operiert. Sein Netzwerk organisiert Migranten die gesamte Reise bis in ihr europäisches Zielland. Er arbeitet mit Schmugglern in Sudan, Somalia, Nigeria und Eritrea und spannt mit Mittelsmännern in Sizilien, Rom, Mailand, Berlin, Paris, Stockholm und London zusammen. Alle diese Kontaktierten, so hielt Ferrara in «Newsweek» fest, schmuggelten Menschen und Geld. Das Geld werde durch internationale Geldtransferfirmen in Äthiopien, Israel, den USA und der Schweiz überwiesen.
Eine andere Ermittlung zeigte bereits vor einigen Jahren exemplarisch, wie die Mafia mit Schleppern zusammenarbeitet. Vor fünf Jahren begann die italienische Polizei aufgrund eines Hinweises eines Flüchtlings gegen einen sizilianischen Clan und einen ägyptischen Menschenschmuggler zu ermitteln. Salvatore Greco, Boss des Brunetto-Clans im sizilianischen Städtchen Riposto, hatte sich mit dem 51jährigen Arafa Badawi verbündet, der zusammen mit seinem Sohn Flüchtlingstransporte nach Europa organisierte. Pro Boot verdiente der Ägypter an die 600 000 Euro, einen Teil des Geldes überwies er an die Mafia. Greco wurde zusammen mit seinem Sohn zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ägypten weigerte sich, Badawi an Italien auszuliefern. Er wurde 2012 ermordet, vermutlich von Komplizen, die er hintergangen hatte.
Doch die Mafia verdient nicht nur am Menschenschmuggel. In Sizilien liefen im November 2015 mindestens drei Ermittlungen gegen Unternehmen, die Lebensmittel, Kleider, Medizin und andere Güter in Flüchtlingscamps brachten und höchstwahrscheinlich von der Mafia kontrolliert werden. Die Mafia verdiene an der Unterkunft und am Transport in weitere europäische Länder, so die Ermittler, und die Mafia benutze Asylsuchende als Drogendealer und zwinge Migrantinnen in die Prostitution. Sogar das Taschengeld, das Flüchtlinge erhalten, bietet neue Möglichkeiten, sich zu bereichern. Statt Geld erhalten sie in einigen Zentren Guthabenkarten, die sie nur in den zentrumseigenen Läden benutzen können – ein Markt, der im sizilianischen Mineo für die Ladenbesitzer 3,4 Millionen Euro im Jahr abwirft.
Im November 2015 kam es in Rom zu einem der grössten Mafiaprozesse der jüngsten Zeit. Vor Gericht standen der Mafiosi Massimo Carminati und 45 weitere Verdächtige. Darunter prominente Figuren wie der ehemalige Parteichef von Silvio Berlusconis Partei Forza Italia, Luca Gramazio, und der ehemalige Vorsitzende des Partito Democratico im Stadtrat von Rom, Mirko Coratti. Im Laufe der sogenannten «Mafia Capitale»-Ermittlungen war es der Polizei gelungen, ein Netzwerk von Gangstern, Beamten, Unternehmern und Politikern offenzulegen, die an der Flüchtlingshilfe Millionen Euro verdienten. Rund 35 Euro pro Tag und Flüchtling erhalten die Betreiber von Flüchtlingszentren. Die Differenz zwischen dem Betrag und den tatsächlichen Ausgaben für Flüchtlinge strich das Netzwerk ein. Die Migranten darbten derweil in Unterkünften mit desolaten Zuständen. «Weisst du überhaupt, wie viel man an Migranten verdienen kann?», fragte Carminatis Komplize Salvatore Buzzi in einem abgehörten Telefonat. «Es ist besser als das Drogengeschäft.»
Inzwischen sind es längst nicht mehr nur die etablierten italienischen Mafiosi, die mitverdienen. Organisierte Kriminelle aus der Türkei, Griechenland, Iran, Pakistan und Nordafrika mischen heute kräftig mit. Libysche Menschenschmuggler verdienen laut UNO 170 Millionen US-Dollar im Jahr. Wohin ihr Geld fliesst, kann aufgrund abgehörter Telefongespräche vermutet werden. Italienische Fahnder schnitten beispielsweise Gespräche von Mered Medhanie mit. Der als «General» bekannte 34jährige Eritreer operierte von der libyschen Hauptstadt Tripolis aus und soll eigenen Angaben zufolge 2015 über 7000 Migranten nach Europa verschifft haben. In einem Gespräch mit einem italienischen Komplizen diskutierte Medhanie die Vor- und Nachteile von Bankkonten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wie die britische Zeitung «The Independent» aufgezeigt hat. Dann entschied er sich für Banken in Kanada oder den USA, denn «die fragen dich nicht, woher das Geld kommt». Im Mai 2016 nahm die italienische Polizei dreizehn Verdächtige in Sizilien fest, die Migranten als Geiseln gehalten und ihre Verwandten erpresst hatten. Es handelte sich in diesem Fall um eine somalische kriminelle Organisation, die in italienischen Asylzentren gezielt nach Somaliern suchte, um sie dann gefangen zu halten, bis ihre Verwandten ein Lösegeld sowie den Preis für die Reise in ein europäisches Zielland zahlten.
Fast ein Drittel der Flüchtlinge sind Kinder
Fast ein Drittel der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, sind laut UNHCR Kinder. Das Nachrichtenmagazin «Newsweek» sprach mit Gemma Parkin, Mitarbeiterin der britischen NGO «Save the Children», als am sizilianischen Hafen Augusta ein Schiff der italienischen Küstenwache mit geretteten Migranten anlegte. Kinder seien oft alleine unterwegs, erzählte Parkin. Die Familie könne sich die Reise nach Europa nur für eine Person leisten, das sei dann meistens der älteste Sohn. Etliche Kinder sterben, bevor sie überhaupt das Mittelmeer erreichen. Und die, die Europa erreichen, sind noch lange nicht in Sicherheit.
Immer wieder verschwinden Kinder auf dem Weg nach Europa. Tausende unbegleitete Minderjährige seien in Catania verschwunden, schreibt der «Observer». Die meisten davon seien in ein anderes Land geschmuggelt, etliche vermutlich sexuell ausgebeutet worden. Es gibt auch immer wieder Hinweise auf Organhandel. Im vergangenen Jahr sind laut offiziellen Zahlen in Italien fünftausend Kinder spurlos verschwunden, nachdem sie von den Behörden registriert worden waren. Kinder würden ausgerechnet in den staatlichen Heimen für unbegleitete Minderjährige angegangen, vermutet die Polizei aufgrund ihrer Ermittlungen. Es herrsche grassierende Korruption, es flössen erhebliche Kickbacks, um die Bewilligung zur Betreibung von Heimen oder Flüchtlingslagern zu bekommen.
Rundherum wird profitiert vom Geschäft mit der Hoffnung – in Libyen, Italien oder in der Schweiz. Denn wo Verzweiflung ist, da ist auch ein Markt. Immer.