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Optionen-Vernichtungs-Maschine

Dürfte jeder Mensch frei entscheiden, in welchem Land er arbeiten will, wäre die Welt reicher und stabiler. Eine Gedankenübung.

Optionen-Vernichtungs-Maschine
Grenzen als Investitionshemmnisse: Wer Arbeiter nicht ins Land lässt, kann auch deren Humankapital nicht erschliessen. Bild: Grüne Grenze zu Deutschland in Rüdlingen, Kanton Schaffhausen, photographiert von Philipp Baer.

Die Geschichte, die man sich in der Schweiz über Migration erzählt, ist in Variationen immer dieselbe: Zuwanderung ist ein Risiko für die Gesellschaft. Sie gefährdet die soziale Ordnung, den Arbeitsmarkt, die Sozialsysteme, die öffentliche Sicherheit und Gesundheit. Darum ist sie grundsätzlich zu verbieten und nur ausnahmsweise zu erlauben. Das Mittel, um dieses Verbot durchzusetzen, ist die Fremdenpolizei. Eine linksliberale Spielart besteht zwar darauf, dass Migranten Träger von Rechten sind, etwa jenem auf Privat- oder Familienleben, und setzt sich darum für gewisse Ausnahmen vom grundsätzlichen Zuwanderungsverbot ein. Die Grundhaltung aber ist dieselbe: Zuwanderung ist Druck. Und die Rolle des Staates muss es sein, den Wasserhahn sorgfältig auf- und wieder zuzudrehen, wie ein strenger, aber gerechter Riese. Die wichtigste Frage ist immer die nach dem Wieviel.

Diese Erzählung ist uns so selbstverständlich geworden, dass wir uns Alternativen kaum mehr vorstellen können. Dabei liesse sich Migration auch ganz anders erzählen. Unbürokratischer, mutiger und in einem liberalen Geist: Menschen müssen das Recht haben, um ihr Glück zu kämpfen. Diese Gedankenübung will ich hier wagen.

Ich schlage vor, Staaten ganz nüchtern als ein Setting von politischen und juristischen (also öffentlichen) Institutionen zu sehen, in denen sich privatwirtschaftliche Institutionen entfalten können – besser oder schlechter, je nachdem, wie gut jene öffentlichen Institutionen sind. Migration ist in dieser Sichtweise der Zugang zu Institutionen, unter denen Märkte – Arbeits- und Dienstleistungsmärkte – die wichtigsten sind. Das Verbot von Migration ist also ein Marktausschluss. Die Vernichtung von Optionen, miteinander zu kooperieren. Wie jeder Marktausschluss verursacht auch dieser Schwarzmärkte: irreguläre Migration, die das Verbot einfach umgeht, und das Schlepper- und Schleuserwesen, das die nötigen Dienstleistungen zur Verfügung stellt, um das Verbot umgehen zu können.

 

Der Arbeitsmarkt als Kartell

Migration, ob freiwillig oder unfreiwillig, bedeutet also, dass eine Person ihre Arbeitskraft, ihr Wissen und Können von einem vergleichsweise schlecht funktionierenden Setting in ein vergleichsweise gut funktionierendes Setting trägt. Das Migrationsrecht legt fest, wer rein darf und wer nicht. Es teilt sozusagen Eintrittskarten zu. Diese Eintrittskarten sind viel Geld wert, weil sie ein ganzes Spektrum von wirtschaftlich interessanten Tätigkeiten erst ermöglichen. Soweit sie Zugang zu Arbeits- und Dienstleistungsmärkten geben, sind sie vergleichbar mit dem Zutrittsrecht zu anderen geschützten Märkten, etwa mit der Zulassung zum Anwaltsberuf oder mit einer Taxilizenz – mit dem Unterschied, dass der Zugang zum gesamten Arbeitsmarkt vielseitigere Tätigkeiten ermöglicht und daher deutlich wertvoller ist. Eine Arbeitserlaubnis für Ausländer ist die Erlaubnis, Teil eines sehr lukrativen Kartells zu werden.

Ein Kartell, wie es unser Migrationsrecht für den hiesigen Arbeits- und Dienstleistungsmarkt einrichtet, ist nicht naturgegeben. Es ist politisch gewollt. Die grundlegende Frage des Migrationsrechts ist daher nicht die Frage, die heute unsere Debatte über Migration dominiert: wem wie viele Marktzugänge ausgegeben werden. Die grundlegende Frage wäre eigentlich die, ob es überhaupt sinnvoll sei, den Markt gegenüber neu auftretenden Wettbewerbern abzuschliessen. Ist das richtig, ökonomisch sinnvoll und gerecht?

Die Antwort hängt natürlich davon ab, wen man fragt. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann jene fragen, die Teil des Kartells sind, ob dieses aufgehoben werden soll oder nicht. Das wären im Fall des Taxikartells die Inhaber einer Taxilizenz oder im Falle des Zuwanderungslands Schweiz die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Sie werden selbstverständlich Gründe finden, weshalb das Kartell unter gar keinen Umständen aufgehoben werden darf, andernfalls die grundlegendsten Interessen der Gesellschaft gefährdet seien. Wer Teil eines Kartells ist, will dieses in aller Regel nicht sprengen – wie beispielsweise der Widerstand der Taxifahrer gegen Uber zeigt.

Die zweite Möglichkeit besteht darin, nach einer Lösung zu suchen, die im gesamtwirtschaftlichen Interesse liegt. Dazu müssten alle miteinbezogen werden, die von einer Entscheidung potenziell betroffen sind – also Inländer wie Ausländer. Betroffen zu sein bedeutet: geschädigt zu sein, je nachdem, wie die Entscheidung ausfällt. Wer von einem Markt ausgeschlossen wird, ist geschädigt, denn sein Leben wäre reicher, hätte er Zugang zu diesem Markt. Das Recht, Menschen auszuschliessen, wie es unser Migrationsrecht vorsieht, ist damit ein Schädigungsrecht des Staates gegenüber Ausländern. Umgekehrt ist aber auch das Recht, einzuwandern und die bereits anwesenden Marktteilnehmer konkurrenzieren zu dürfen, ein Schädigungsrecht gegenüber Inländern. Im Grunde lautet die Frage also: Welches von beiden Schädigungsrechten fügt den jeweils Geschädigten den kleineren Schaden zu? Das Recht einzuwandern oder das Recht auszuschliessen?

Würde die Welt nur aus zwei Personen bestehen, einem Inländer und einer Ausländerin, die einander unter den Bedingungen eines perfekten Marktes begegnen würden, wäre das einfach herauszufinden. Wir könnten sie miteinander verhandeln lassen, dann würde es für das Gesamtergebnis gar keine Rolle spielen, ob der Inländer ein Recht auf Abwehr oder die Ausländerin ein Recht auf Zuwanderung hat. Sie könnten es immer dem jeweils anderen verkaufen, wenn dieser ein überzeugendes Kaufangebot macht und dadurch beweist, dass er das Recht höher bewertet als der jeweils andere. Der jeweilige Käufer müsste seine Präferenz nicht nur behaupten, sondern offenlegen, indem er einen Preis nennt. Das Recht, über jemandes Zuwanderung zu entscheiden – nennen wir es das «Verfügungsrecht über Migration» –, würde stets an den Ort seiner höchsten Bewertung gelangen und damit auch an jenen der beiden Akteure, der dem jeweils anderen den kleineren Schaden zufügt.

 

Ein Migrationsrecht, das den Markt simuliert

Im richtigen Leben gibt es aber eine unbestimmte Vielzahl von Inländern und von Ausländern. Das führt zu Intransparenz, zu einem grossen Machtgefälle, zur Möglichkeit von opportunistischem Verhalten; mit einem Wort: zu hohen Transaktionskosten. Verhandlungen sind nicht praktikabel. Darum müsste dem Migrationsrecht sinnvollerweise die Aufgabe zukommen, das Verfügungsrecht dort zuzuordnen, wo es bei Verhandlungen unter perfekten Marktbedingungen zu liegen gekommen wäre. Es müsste den Markt für das Verfügungsrecht über Migration simulieren. Das ist nicht einfach, weil beide Seiten einfach behaupten können, sie hätten eine grössere Präferenz für dieses Verfügungsrecht, solange sie ihre Präferenz nicht offenlegen müssen – wie sie das auf dem Markt tun müssten. Ein Gedankenexperiment kann dem Gesetzgeber hier helfen: Wem würden die Betroffenen das Verfügungsrecht zuordnen, wenn sie nicht wüssten, ob sie In- oder Ausländer sein werden? Wenn sie sich hinter einem Schleier des Nichtwissens befänden?

Der Schleier zwingt die Betroffenen, unparteiisch zu handeln. Menschen, die sich hinter dem Schleier des Nichtwissens befinden und einander weder mit Hass noch mit besonderer Liebe begegnen, werden versuchen, jene Person möglichst gutzustellen, die am schlechtesten dran ist. Es könnte sich schliesslich herausstellen, dass sie selber diese Person sind, wenn der Schleier gelüftet wird. Sie werden sich also wieder fragen müssen: Wer fügt den grösseren Schaden zu? Die Inländer durch Ausschluss oder die Ausländer durch Einwanderung?

Die Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens könnten nun davon ausgehen, dass Zuwanderung zu einer Senkung von Löhnen, zu einer relativ starken fiskalischen Belastung und zu einer Gefährdung des sozialen Zusammenhaltes führt, auch wenn es hierfür kaum empirische Anhaltspunkte gibt. Aber selbst unter dieser Annahme wäre die Alternative dazu – das Risiko, vom Zugang zu funktionierenden Arbeits- und Dienstleistungsmärkten ausgeschlossen zu sein und ein Leben praktisch ohne Hoffnung auf wirtschaftliche Verbesserung fristen zu müssen – für jeden offensichtlich ein noch grösserer Schaden. Entsprechend müssen Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens zum Schluss kommen, dass Ausländern das Recht auf Zuwanderung mehr wert sein muss als Inländern das Recht auf Ausschluss.

Noch klarer zugunsten der potenziellen Einwanderer muss der Entscheid ausfallen, wenn die Beteiligten hinter dem Schleier des Nichtwissens sich überlegen, für wen das Verfügungsrecht über Migration nicht nur momentan den höchsten Wert hat, sondern wer es zum höchsten Wert entwickeln könnte. Welche Seite also mehr von dem bislang brachliegenden potenziellen Wert des Verfügungsrechtes erschliessen kann.

Der Wert des Verfügungsrechtes ist nämlich nicht fix. Er ist abhängig vom tatsächlichen Wert der Zuwanderung (beziehungsweise dem Wert der Abwehr von Zuwanderung) im Alltag. Dieser Wert steigt mit den Möglichkeiten, die eine Person im Zielstaat hat, also mit Investitionen in die persönlichen und beruflichen Fähigkeiten. Doch diese Investitionen sind kostspielig. Sie werden nur unternommen, wenn etwas dabei rausspringt. Dürfen Menschen nicht migrieren – und gibt es vor Ort keinen funktionierenden Arbeits- oder Dienstleistungsmarkt –, lohnt sich Bildung nicht. Darum liegt ein Grossteil des potenziellen Wertes von Migration, und damit des Verfügungsrechts, heute brach. Nicht über die eigene Migration verfügen zu können, führt zu einer Unterinvestition in Humankapital.

Aus rationaler Sicht ist der Fall darum klar. Ginge es nicht um Partikularinteressen, sondern um das möglichst grosse Wohl aller, müsste das Verfügungsrecht über Migration grundsätzlich den Migrierenden und nicht den Inländern zugeordnet sein. Die bislang unhinterfragte Grundregel des Migrationsrechts würde umgedreht: Migration müsste künftig in der Regel erlaubt und nur ausnahmsweise verboten sein.

 

Reformvorschläge jenseits der Utopie

Natürlich wird das nicht passieren. Das grösstmögliche Wohl aller liesse sich allenfalls dann näherungsweise erreichen, wenn alle im politischen System eine Stimme hätten. Haben sie aber nicht. Migrationspolitik wird gerade ohne Migrantinnen und Migranten gemacht, die von dieser Politik in erster Linie betroffen sind. Der oben beschriebene radikale Systemwechsel bleibt darum eine geistige Lockerungsübung.

Doch auch ohne diesen gäbe es Wege, den Umgang mit Migration, der heute Wohlstand vernichtet, Schwarzmärkte und Elend produziert, deutlich zu verbessern. Zumindest könnte die Transaktion des Verfügungsrechts über Migration erleichtert werden. Denkbar wäre etwa, dass Migranten ihr Verfügungsrecht, ihr Eintrittsticket an sich nehmen können unter der Bedingung, dass sie den Zielstaat für dessen Verlust des Tickets entschädigen. Tun sie das, belegt das ganz marktwirtschaftlich, dass ihnen das Recht über ihre Migration mehr wert ist als dem Zielstaat sein Schaden – die Gesamtwohlfahrt also steigt. Das umgekehrte Arrangement wäre ebenfalls möglich. Migration bliebe dann grundsätzlich erlaubt, der Zielstaat könnte das Verfügungsrecht über Migration aber enteignen, wenn er Migranten dafür entschädigt. So würde wiederum der Zielstaat den Beweis erbringen, dass er das Verfügungsrecht im konkreten Einzelfall höher bewertet als die potenzielle Migrantin.

 

Warum Armut so zäh ist

Diese Überlegungen ermöglichen einen etwas anderen Blick auf globale Armut und auf die Gründe, warum viele Menschen in Entwicklungsländern es nicht schaffen, sich aus ihr zu befreien. Armut ist nicht ein Mangel an Geld, sondern ein Mangel an Optionen.

Das ist auch der Grund, warum das Paradigma der «Hilfe vor Ort», das immer wieder als Mittel zur Dämpfung von Migration propagiert wird, nicht funktionieren wird. Die Idee, mit Entwicklungszusammenarbeit Zuwanderung zu bremsen, ignoriert nicht nur, dass zunehmende ökonomische Möglichkeiten Migration erwiesenermassen eher stimulieren als bremsen. Sie ignoriert auch, dass nicht die Verfügbarkeit von Geld, sondern die Verfügbarkeit von Optionen – also die Qualität des institutionellen Umfeldes – entscheidend dafür ist, ob Migration attraktiv oder notwendig ist. Nur ein gutes institutionelles Umfeld kann Sicherheit, sichere Eigentumsverhältnisse, Perspektiven für Unternehmen und Arbeitnehmer und gute Ausbildungsplätze schaffen. Ein gutes institutionelles Umfeld zu schaffen, wo dieses nicht besteht, hat sich aber als enorm schwierig und langwierig erwiesen.

Es sind nicht ökonomische, sondern rechtliche Hindernisse, die Menschen den Weg aus der Armut verbauen. Viele Menschen könnten sich rein ökonomisch eine gute Ausbildung, das Erlernen einer Fremdsprache und eine weite Reise leisten – wenn sie dafür das Recht hätten, ihre Arbeitskraft in einem Setting von Institutionen anzubieten, in dem sie etwas wert ist. Das Verbot, auf bestimmten Märkten die eigenen Güter, Dienstleistungen oder Arbeit anzubieten, ist eine Vernichtung von Optionen – für diejenigen, die ausgeschlossen bleiben, aber auch für diejenigen, die drinnen sind. Die Philosophin und Autorin Kerry Howley hat es so formuliert:

 

«Nothing rich countries can send the global poor – not loans, not textbooks, not fair-wage campaign materials – will boost the income of the average worker nearly as much as letting him walk among the wealthy.»

 

Keine grosszügige Entwicklungshilfe, keine wohlgemeinte Kampagne kann je wettmachen, was der Ausschluss von Arbeits- und Dienstleistungsmärkten anrichtet. Die Art, wie wir mit Migration umgehen, die Art, wie wir Eintrittstickets zuteilen, ist ein wichtiger Grund für das Ausmass und die Hartnäckigkeit von Armut in der Welt. Das kann man unvermeidbar finden, weil man andere Ziele höher bewertet als Wohlstand – nationale Identität zum Beispiel. Ignorieren sollte man es nicht.

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Grenzen als Investitionshemmnisse: Wer Arbeiter nicht ins Land lässt, kann auch deren Humankapital nicht erschliessen. Bild: Grüne Grenze zu Deutschland in Rüdlingen, Kanton Schaffhausen, photographiert von Philipp Baer.
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