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Zensur schützt nicht vor Hass
Jacob Mchangama. Bild: Keystone/Scanpix_DK/Thomas Lekfeldt.

Zensur schützt nicht vor Hass

Immer mehr Länder ergreifen Massnahmen zur Bekämpfung von Hassrede. Doch diese sind kontraproduktiv. Redefreiheit geht Hand in Hand mit Gleichberechtigung.

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Für die freie Meinungsäusserung in liberalen Demokratien war 2023 ein katastrophales Jahr. Leider verspricht 2024 nur, die Krise der freien Meinungsäusserung zu vertiefen, die seit Jahren in offenen Gesellschaften um sich greift.

Am 7. Oktober 2023 verübten Hamas-Kämpfer den tödlichsten Anschlag auf Juden seit dem Holocaust. Dieser Angriff der Hamas löste nicht nur eine blutige israelische Invasion des Gazastreifens aus. Er hatte auch unmittelbare Auswirkungen auf die bereits angespannten Debatten über die Grenzen der freien Meinungsäusserung in offenen Demokratien, die weit vom Blutbad im Nahen Osten entfernt sind.

Studenten und Akademiker an Eliteuniversitäten in den Vereinigten Staaten rechtfertigten und feierten manchmal sogar das massenhafte Abschlachten von israelischen Zivilisten. In Europa und Australien wurden propalästinensische Demonstrationen von entsetzlichen antisemitischen Sprechchören begleitet, die unter anderem die «Vergasung der Juden» und die Zerstörung Israels forderten.

Die Europäische Union nutzte die Hamas-Attacke, um ihre neuen regulatorischen Muskeln spielen zu lassen, die ihr durch den Digital Services Act zur Verfügung gestellt werden – eine weitreichende Gesetzgebung, die Tech-Unternehmen dazu verpflichtet, illegale Inhalte zu entfernen und systemische Risiken durch «schädliche» Inhalte wie Desinformation zu «mindern». In einem von Menschenrechtsorganisationen kritisierten Schritt hat der selbsternannte Cyber-Sheriff der Kommission, Thierry Breton, eine Reihe von öffentlichen Briefen an die CEOs grosser Technologieunternehmen verschickt, in denen er ihnen Versäumnisse bei der Entfernung illegaler und schädlicher Inhalte vorwirft und rechtliche Schritte androht.

Zu allem Überfluss hat die Europäische Kommission einen Aufruf zum Handeln veröffentlicht, um ein «vereintes Europa gegen Hass» zu schaffen. Die Hauptstossrichtung des Kommissionsvorschlags ist die Ausweitung der Definition von illegaler Hassrede und die verstärkte Durchsetzung ihrer Zensur. Insbesondere möchte die Kommission die derzeitige Liste der «EU-Verbrechen» in den Verträgen um den nebulösen Begriff der «Hassrede» erweitern. Diese Änderung, die erstmals 2021 vorgeschlagen wurde, könnte es der Kommission ermöglichen, die Schwelle für Hassrede zu definieren und die Zahl der geschützten Gruppen zu erweitern.

Ein falsches Versprechen

Wie gut gemeint auch immer, viele dieser Versuche, die Demokratie zu schützen, indem man – um Karl Popper zu paraphrasieren – «intolerant gegenüber den Intoleranten» ist, beruhen auf einer falschen Prämisse. Nämlich, dass die Kriminalisierung schädlicher Äusserungen ein wirksames Mittel ohne relevante soziale Kosten oder unbeabsichtigte Folgen sei. Dies ist ein schwerwiegender Fehler, der einer genauen Prüfung bedarf.

«Viele der Versuche, die Demokratie zu schützen, indem man ‹intolerant gegenüber den Intoleranten› ist, beruhen auf einer falschen Prämisse.»

Erstens haben viele Demokratien – auch in Europa – bereits verschiedene Massnahmen zur Einschränkung schädlicher Äusserungen ergriffen. Ein aktueller Bericht des Future of Free Speech Project untersucht die Entwicklung der freien Meinungsäusserung in 22 offenen Demokratien von 2015 bis 2022. Die Ergebnisse sind eindeutig und besorgniserregend: 78 Prozent der Entwicklungen waren sprachbeschränkend, wobei die nationale Sicherheit und Hassrede die Hauptgründe für die Einschränkung der freien Meinungsäusserung bilden.

Deutschland ist ein hervorragendes Beispiel für diesen Trend und seine Schwächen. Im Jahr 2017 hat Deutschland das NetzDG (Netzwerkdurchsetzungsgesetz) zur Bekämpfung von Hassreden im Internet erlassen. Das Gesetz verpflichtet Social-Media-Plattformen mit mehr als zwei Millionen Nutzern, eindeutig illegale Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde zu sperren oder zu löschen, andernfalls drohen saftige Geldstrafen. Darüber hinaus hat Deutschland im Jahr 2021 seine Gesetze erweitert, um hasserfüllte Beleidigungen zum Schutz von Juden, Muslimen und anderen Gruppen unter Strafe zu stellen.

Deutschland hat auch seine Bemühungen zur Verfolgung von Hassrede verstärkt. Die «New York Times» berichtete 2022, dass seit 2018 mehr als 1000 Deutsche wegen Hassreden im Internet angeklagt worden seien, wobei in einigen Fällen Polizeirazzien und die Beschlagnahmung von persönlichen Geräten durchgeführt worden seien. Trotz dieses drakonischen Vorgehens stellte die Europäische Kommission einen drastischen Anstieg von Hassrede in Deutschland fest. Anstatt zuzugeben, dass diese Politik gescheitert ist, nutzte die Kommission den Anstieg von Hassrede in Deutschland, um die Verabschiedung noch strengerer Massnahmen zu rechtfertigen, die nachweislich bei der Eindämmung von Hass versagt haben.

Noch wichtiger ist, dass Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass die freie Meinungsäusserung in Demokratien häufig mit weniger gewalttätigen sozialen Konflikten einhergeht. Indem sie auch intolerante Stimmen zulässt, wirkt die freie Meinungsäusserung wie ein «Sicherheitsventil» und verringert die Wahrscheinlichkeit, dass Randgruppen zu Gewalt greifen. Wenn man hasserfüllte Äusserungen zulässt, ist es für die Strafverfolgungsbehörden auch einfacher, diejenigen zu identifizieren und zu überwachen, bei denen die Wahrscheinlichkeit am grössten ist, dass bösartige Worte in Gewalttaten eskalieren. In den Niederlanden konnte die strafrechtliche Verfolgung des rechtsextremen Politikers Geert Wilders nicht nur nicht verhindern, dass er die jüngsten Parlamentswahlen gewann. Forscher haben auch gezeigt, dass der Prozess gegen Wilders mit einem Anstieg gewaltloser Hassverbrechen (einschliesslich Hassrede) korrelierte, was auf einen Rückkopplungseffekt durch eine verstärkte affektive Polarisierung hindeutet, die seine Anhänger radikalisiert.

«Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die freie

Meinungsäusserung in Demokratien häufig mit weniger gewalttätigen

sozialen Konflikten einhergeht.»

Ermächtigung der Bürger

Auch der Missbrauch von Beschränkungen der freien Meinungsäusserung durch die Behörden ist ein echtes Risiko. In Irland soll ein neues Gesetz gegen Hassrede «Material, das wahrscheinlich zu Gewalt oder Hass anstiftet», so weit kriminalisieren, dass auch Memes und Gifs, die auf private Geräte heruntergeladen werden, darunter fallen könnten. Spaniens breite Anwendung von Gesetzen gegen die «Verherrlichung des Terrorismus», die Rapper zu Gefängnisstrafen von bis zu neun Jahren verurteilt hat, und Frankreichs Bestrafung eines führenden Vertreters von LGBTQ-Rechten für die Bezeichnung eines politischen Gegners als «homophob» zeigen ebenfalls das Potenzial für Missbrauch. Das Gleiche gilt für die vielen prominenten Beispiele einer übertriebenen Sperrung legaler Inhalte auf Social-Media-Plattformen. Zweifellos kann das Recht auf freie Meinungsäusserung genutzt werden, um wichtige demokratische Werte wie die gleiche Würde für alle anzugreifen. Daraus folgt jedoch nicht, dass eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zur Verhinderung dieser Gefahren die anstehenden Pro­bleme lösen wird.

Der Verzicht auf die fruchtlose Bekämpfung von Hass und Extremismus durch Zensur und Repression bedeutet nicht, dass das wichtige Ideal eines «gegen Hass geeinten Europas» aufgegeben werden muss. Dieses wichtige Ziel kann mit anderen Mitteln verfolgt werden, die besser mit grundlegenden europäischen Werten, einschliesslich der Meinungsfreiheit und der Gleichheit, in Einklang stehen.

Die Förderung von Gegenrede und die Förderung von Toleranz durch Bildung und öffentlichen Diskurs gehören zu den vielen Instrumenten, die durch die Meinungsfreiheit ermöglicht werden. Darüber hinaus müssen demokratische Regierungen und Institutionen ihre Stimme erheben und Solidarität mit Gruppen zeigen, die von Hassrede betroffen sind, und Ausdrucksformen der Intoleranz unmissverständlich verurteilen. Die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft und die Technologieunternehmen spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Schaffung einer toleranten und solidarischen Gesellschaft. Ihre Bemühungen um ein Informationsökosystem, das auf Vertrauen, Zusammenarbeit und Zuverlässigkeit beruht, sind von entscheidender Bedeutung. Die dringend benötigten Aktualisierungen der digitalen Welt werden viel eher Früchte tragen, wenn sie von einem Bottom-up-Ansatz geleitet werden, der die Nutzer und Urheber stärkt, als von einer schwerfälligen, von oben verordneten staatlichen Zensur. Da liberale Demokratien mit Intoleranz und Hass zu kämpfen haben, besteht die Herausforderung darin, diese Probleme anzugehen, ohne die demokratische Ordnung zu untergraben.

Die Demokratien müssen zeigen, dass sich die Werte der Meinungsfreiheit und der Gleichheit nicht gegenseitig ausschliessen, sondern sich gegenseitig verstärken. Um dies zu erreichen, sollten offene Gesellschaften die Vorstellung aufgeben, dass die ersteren geopfert werden müssen, um die letzteren zu sichern.

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