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Schweizer Literatur in Kurzkritik V

Morde, Morde, Morde, auch in Zürich. Was halb so schlimm ist, betreten doch auch neue, noch unverbrauchte Kommissare die literarische Bühne. Dies und vieles mehr in findet sich in 15 Büchern und einer CD, vorgestellt in der fünften Folge der «Schweizer Literatur in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

Es schreiben

Klaus Hübner über Francesco Micieli: «Mein Vater geht jeden Tag vier Mal die Treppe hinauf und herunter. Texte zu Sprache und Heimat». Biel: die brotsuppe, 2007.

Michael Braun über Verena Stefan: «Fremdschläfer». Zürich: Ammann, 2007.

Joachim Feldmann über Michael Herzig: «Saubere Wäsche». Dortmund: Grafit, 2007.

Markus Köhle über Susy Schmid: «Das Wüste lebt». Muri: Cosmos, 2007.

Sabine Kulenkampff über Stephan Pörtner: «Köbi Santiago». Zürich: Bilger, 2007.

Rüdiger Görner über Peter Zeindler: «Der Mauersegler». Zürich: Arche, 2007.

Thomas Sprecher über Franz Hohler: «Es klopft». München: Luchterhand, 2007.

Beat Mazenauer über Anton Bruhin, Bodo Hell, Michel Mettler & Peter Weber: «Singende Eisen, Spangen und Gleise. Vier dichtende Maultrommler und maultrommelnde Dichter». Audio-CD. Basel: Urs Engeler, 2007.

Ute Kröger über Ruth Werfel (Hrsg.): «Gehetzt. Südfrankreich 1940. Deutsche Literaten im Exil». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007.

Gerald Funk über Alex Capus: «Eine Frage der Zeit». München: Knaus, 2007.

Georg Deggerich über Urs Widmer: «Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das. Frankfurter Poetikvorlesungen». Zürich: Diogenes, 2007.

Christoph Simon über Al Imfeld: «Lies und werde reich. Geschichten vom Geld. Zürich: Rotpunktverlag, 2007.

Hans-Rüdiger Schwab über Beat Brechbühl: «Die Tanne brennt!» Geschichten zur Weihnachtszeit». Frauenfeld: Huber, 2007.

Roger Ehret über Stefan Nellen, Martin Schaffner & Martin Stingelin (Hrsg.): «Paranoia City. Der Fall Ernst B.; Selbstzeugnis und Akten aus der Psychiatrie um 1900.» Basel: Schwabe, 2007.

Katrin Hillgruber über Regina Ullmann: «Die Landstrasse. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Peter Hamm». Zürich: Nagel & Kimche, 2007, und über Eveline Hasler: «Stein bedeutet Liebe». Zürich: Nagel & Kimche, 2007.

Geborgen – wo?

Mag sein, dass manches von dem, was Francesco Micieli in seinen neun kurzen «Texten zu Sprache und Heimat» sagt, so oder so ähnlich schon einmal gesagt worden ist. Aber es ist kaum jemals so überzeugend und vor allem so schön gesagt worden. Und ausserdem, das ist die individuelle Note dabei, lernt man hier einen feinsinnigen Schweizer Schriftsteller und den in ihm pochenden Antrieb zum literarischen Schreiben genauer kennen. 1956 in Süditalien geboren, anfangs zwischen der italienischen und der albanischen Sprache aufgewachsen, seit 1965 in Lützelflüh, Burgdorf und Bern mehr oder minder heimisch, ist der Schauspieler, Theaterregisseur und Dichter, der auch als Dozent an der «Schule für Gestaltung» in Bern und Biel wirkt, im Laufe der Jahre für sein bisheriges literarisches Schaffen vielfach ausgezeichnet. Wer seine seit 1986 angewachsene «Trilogie einer Emigration» oder sein 2006 erschienenes Werk «Am Strand ein Buch» gelesen hat, wird unschwer feststellen, wie genau die nicht durchgängig neuen, jetzt aber in einer sehr durchdachten Reihenfolge neu präsentierten «Texte zu Sprache und Heimat» dem literarischen Werk Micielis entsprechen – und dass sie diesem eine empfindsame und luzide Poetik des Schreibens in der Fremde hinzufügen.

«Warum schreibst du nicht über ein anderes Thema?» heisst die programmatisch an erster Stelle stehende Reflexion, und man merkt gleich, dass Micieli diese Frage schon mehr als einmal hat hören müssen. Während ein Krimiautor kaum jemals gefragt wird, warum er ständig Krimis schreibe und darin immer den gleichen Kommissar auftreten lasse, erscheint es vielen Zeitgenossen noch immer merkwürdig, dass ein Autor mit fremdem Namen andauernd das Fremde und das Fremdsein schreibend umkreist. Dabei sei die Antwort recht einfach, meint Micieli: Es gebe bekanntlich im Leben Momente, in denen man nicht mehr weiterwisse – und der Mensch als historisches Wesen könne nun einmal nur dann vorwärts gehen, wenn er seine eigene Geschichte kenne und ihr immer wieder nachsinne. Womit er sein Thema habe – und das Thema natürlich auch ihn. Ganz wichtig dabei: die Sprache. «Die Grenzen unserer Sprache, / die Grenzen unserer Welt», heisst es in einem schönen Text, in dessen Titel ein mehrdeutiges Semikolon auffällt: «Mutter; Sprache». Der Vater, der seit 40 Jahren in der Schweiz lebt und seit 40 Jahren mit seiner Familie nach Italien zurückkehren möchte, spreche gebrochen Italienisch und gebrochen Deutsch, erfährt man in dem der Sammlung ihren Titel gebenden Text. «Gebrochen. Seine Sprache ist kein richtiges Werkzeug und keine Waffe. Ein Existenzminimum … Vaters Sprache war die Arbeit.»

Der Sohn, der schon als kleiner Bub erfahren musste, dass man Wörter und Sprache auch verlieren kann – «Wörter sind mir aus der Hosentasche gefallen und ich habe sie nie mehr gefunden» heisst eine anrührende autobiographische Skizze in diesem Buch –, dieser Sohn wollte es anders machen. In der überaus eindrücklichen Geschichte «Ich habe mich lügend in die (bern-)deutsche Sprache gestohlen» wird sinnfällig, was für eine fundamentale Verletzung Sprachbrüche und Sprachwechsel für einen sich nach Zugehörigkeit sehnenden Heranwachsenden bedeuten können: «Ich fühlte mich zum Kleinkind degradiert. Nach dem ersten Salü begann ich langsam das Schweigen zu brechen … Ich verlor so meine Eltern.» Wie aus diesem «Sprach-Arlecchino», dessen Sprach-Kleid «ein buntes Gemisch aus Sprach-Stoff-Fetzen» war, ein fast echter Emmentaler wurde – mit den Worten des Autors: ein «Ämmitaliäner» –, legt ein Essay dar, den man auch als kultur- und sozialgeschichtliche Fundgrube auffassen kann und dessen vorläufiges Fazit lautet: «Die Schweiz hat sich verändert. Sie ist italienischer geworden … Die Angst vor dem Fremden ist aber geblieben. Es sind jetzt andere.»

2002 hat Francesco Micieli den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis bekommen und sich mit einer eindrucksvollen Rede dafür bedankt, die ebenfalls im hier vorgestellten Buch zu finden ist. Den Schriftsteller bezeichnet er dort als «den Fremden schlechthin», und er fragt sich: «Ist die Sprache meine Heimat geworden, wie ich manchmal hochtrabend behaupte; oder ist die Suche nach Heimat zu meiner Sprache geworden?» Eine Antwort darauf gibt er nicht, und das ist beruhigend, vielleicht weniger für ihn als vielmehr für seine Leser. Denn die Frage wird ihn weiter an- und umtreiben. Und von diesem bemerkenswerten Schweizer Dichter, dessen so kleine wie feine Textsammlung unbedingt empfehlenswert ist, möchte man gerne noch viel mehr lesen.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Francesco Micieli: «Mein Vater geht jeden Tag vier Mal die Treppe hinauf und herunter. Texte zu Sprache und Heimat». Biel: die brotsuppe, 2007.

Nobody in Montreal

In jenem «alten Haus der Sprache», in dem sich laut Karl Kraus alle Schriftsteller (und Epigonen) tummeln, will Verena Stefan kein Wohnrecht mehr besitzen. Im Gegenteil: die 1947 in Bern geborene Autorin ist Ende der 1990er Jahre bewusst aus diesem morsch gewordenen Gebäude ausgezogen und in die Fremde gegangen, nach Kanada, ins frankophone Montreal, wo sich unterschiedlichste Sprachen und Kulturen kreuzen und überlagern. Dort begann «das Konzept Immigration die alte Person zu tilgen», wie es an einer Stelle von Verena Stefans neuem autobiographischen Roman «Fremdschläfer» heisst. Stefans Prosa, die sich in assoziativ-mäandernden Sätzen vorantastet, erzählt vom Verlust jeder Sprachgewissheit in der Fremde, in der die Dinge und die Wörter ihren angestammten Platz verlieren. Die «Muttersprache», in der «alles Heile» aufbewahrt ist, gerät ins Rutschen, die Reisende navigiert mühsam zwischen dem neuen englisch-französischen Sprachengemisch hindurch.

Eine solche Migrationserfahrung stand schon am Ausgangspunkt von Verena Stefans Biographie. Ihr Vater, aus Böhmen 1945 illegal in die Schweiz gekommen, blieb zeitlebens ein «Nobody» und «Fremdschläfer», ein Ausländer, der sich nie das Berndeutsch aneignen konnte. Aus früheren Publikationen der Autorin wissen wir, wie es weiterging: 1975 schrieb die ehemalige Krankengymnastin Verena Stefan mit ihrem feministischen Bekenntnisbuch «Häutungen» die Innerlichkeitsbibel der Frauenbewegung. Die «Häutungen» suchten nach Haltepunkten für eine «weibliche Sprache» und für ein weibliches Begehren, das sich emanzipieren wollte von der «patriarchalischen» männlichen Sexualität.

Von «Häutungen» handelt im Grunde auch ihr Roman «Fremdschläfer». Auch hier geht es um den weiblichen Körper und um zärtliche lesbische Liebe. Die Protagonistin gerät als «Fremdschläferin» in eine Neue Welt, die alle bisherige Erfahrung überschreitet. Und sie begegnet einem gefährlichen Gegner: es ist der Krebs, der sich in den Körper einnistet und die Protagonistin in das Kraftfeld des Todes zu ziehen droht. Aber der Lebenswille siegt vorläufig über die «chemisch induzierte Brache» des kranken Körpers. Gegen Ende des Buches verweilt die Erzählerin mit ihrer Freundin am Ufer der Aare und beobachtet, wie einige Schwimmer das Wasser «quer zur Strömung bis zur Mitte des Flusses durchpflügen». Diese Szene ist auch als ein Hinweis auf die fluktuierende Bewegung dieser Prosa zu verstehen. Es ist ein stilistisches «Feinstgeschiebe», von dem ein starker Sog ausgeht.

vorgestellt von Michael Braun, Heidelberg

Verena Stefan: «Fremdschläfer». Zürich: Ammann, 2007.

Zwei Morde in Zürich…

Es wird viel getrunken in diesem Kriminalroman. Vor allem Hochprozentiges. Auch Johanna di Napoli, ehemals Übersetzerin und jetzt Wachtmeisterin bei der Zürcher Stadtpolizei, greift gerne zur Whiskyflasche. Als Spezialistin für häusliche Gewalt und Sexualdelikte steht sie mitten in der Kampfzone der Geschlechter. Dabei sind die Gewichte sehr ungleich verteilt, denn die Opfer sind in der Regel weiblich. Und hinter den Tätern steht nicht selten geballte Wirtschaftsmacht. Im Fall einer brutal vergewaltigten dominikanischen Prostituierten hat sie einen Namen. Werner Hügli, schwerreicher Reinigungsunternehmer und Besitzer von Sexclubs, macht sein Geld vor allem mit den weniger gesellschaftsfähigen Neigungen mancher Männer. Und er denkt nicht daran, sich von den Ermittlungen einer Kriminalistin, die sich noch nicht einmal der ungeteilten Unterstützung ihrer Kollegen sicher sein kann, die Geschäfte vermasseln zu lassen. Kein leichter Fall für Johanna di Napoli.

Auch das zweite Verbrechen, mit dessen Aufklärung sie betraut ist, geht an die Nerven. Ein junges Ehepaar, Betreiber einer Wäscherei, ist erschossen worden. Dringend tatverdächtig ist der Bruder des Ermordeten, der als Drogensüchtiger auf der Strasse lebt. Die Ermittlungen führen also direkt in ein Milieu, wo es wenig gibt, was Menschen nicht für ein bisschen Heroin tun würden.

Michael Herzigs Krimidébut «Saubere Wäsche» ist eine ebenso spannende wie grell ausgeleuchtete Exkursion in die Zürcher Halbwelt der Sexindustrie und der Drogengeschäfte. Dass sich der Erzähler dabei manchmal für meinen Geschmack ein wenig zu auskunftsfreudig zeigt, ist ein lässliches Vergehen. Schliesslich darf man vermuten, dass es ein Anliegen des Autors war, seine Ermittlerin als komplexen Charakter zu etablieren. Und das gelingt ihm ausgesprochen gut. Lobenswert ist auch die Art und Weise, wie Herzig am Ende die Handlungsfäden zusammenführt. Schliesslich gehört es sich für einen Kriminalroman dieses Kalibers, dass beide Fälle gelöst werden, unser Gerechtigkeitsempfinden allerdings unbefriedigt bleibt. Stattdessen wird wieder einmal alte Weisheit bestätigt, dass wir zwar in einer grossen, aber keiner guten Gesellschaft leben.

vorgestellt von Joachim Feldmann

Michael Herzig: «Saubere Wäsche». Dortmund: Grafit, 2007.

…ein Mord in Marokko…

In Susy Schmids Krimi dreht sich alles um Schweizer in der Fremde. In einer marokkanischen Oase in der Nähe von Tinerhir kommt die Reisetruppe von «Unlimited», eines Schweizer Abenteuerreiseveranstalters, unfreiwillig zum Stillstand, als eine der Teilnehmerinnen, die noch dazu allen anderen Mitreisenden mit ihrer Saure-Zitronen-Mentalität ordentlich auf die Nerven gegangen ist, in ihrem Zelt erstochen aufgefunden wird. Mordwaffe ist das Küchenmesser der Ich-Erzählerin, der Köchin der Reisetruppe.

Einerseits ist jeder verdächtig, anderseits ist der Personenkreis stark eingegrenzt, schliesslich ist rundherum nur Wüste. Die detektivischen Aktivitäten der Köchin und der lokalen Polizei beschränken sich fast ausschliesslich auf Gespräche. Einige Knalleffekte später löst sich das Rätsel zum allgemeinen Wohlgefallen auf, die Lösung wird den Lesern retrospektiv in einem Gespräch zwischen zwei Figuren aufgetischt. Ein klassischer Kriminalroman a là Agatha Christie oder Arthur Conan Doyle also, aus der guten alten Zeit, bevor die Hardboiled-Variante die Action ins Genre gebracht hat. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, fehlte dem Text nicht der Wille zum Tieferschürfen. Die Verhöre lassen die psychologische Qualität und das Mysterium der alten Klassiker vermissen. Alle Figuren, sogar die Ich-Erzählerin, bleiben an der Oberfläche haften. Wer anfangs unsympathisch war, bleibt es bis zum Ende, die Sympathischen sind wirklich gute Menschen oder zumindest ausreichend unterhaltsam. Überhaupt ist die Frage der Sympathie stark mit der Frage der Schuld verknüpft:

«Ich hoffe, es war kein Mitglied unserer Gruppe, das ich mag», antwortet June, eine Engländerin, die laut Klappentext auf Rätoromanisch fluchen kann, was sie im Verhör jedoch nur selten tut – auch hier die Idee stärker als die Ausführung. Keiner der Sympathieträger und schon gar keine der Sympathieträgerinnen ist zu irgendeinem Zeitpunkt wirklich verdächtig. Nicht einmal die Freude an der Reise wird den Figuren nachhaltig vergällt, dem exotischen Essen wird zugesprochen, der einzigartige Sternenhimmel über der Wüste wird gewürdigt und am Markt wird allerhand Kunsthandwerk, Gewürze und Duftstoffe eingekauft.

Auf der Plusseite gibt es in der Handlung immer wieder Überraschungsmomente. Es fällt auch auf, dass die Autorin die marokkanischen Figuren positiv besetzt, den Polizisten Witz, Bildung und persönliches Charisma zugesteht. Auch Claire, mit über 60 Jahren die älteste der Reiseteilnehmerinnen, wird keineswegs als langweilig eingestuft. Im Gegenteil, sie ist eine schillernde Figur. Angenehm, auch für einen Österreicher, liest sich die dezent Schweizer Färbung der Sprache, vor allem in der Figurensprache. Da wird «Znacht» gegessen, da hat wer «immer Flausen im Grind» und so weiter.

Trotzdem: der Krimi ist brav geschrieben und relativ einfach gestrickt, legt keine falschen Fährten, weil er gar keine Fährten legt. Es wäre besser gewesen, die Autorin hätte einen Reisebericht geschrieben; der Mord und seine Auflösung sind bestenfalls Beiwerk. Susy Schmid ist ziemlich sicher eine sympathische und interessante Frau, mit der man sich gern einmal länger unterhalten würde. Das Buch, allerdings, muss man nicht unbedingt lesen.

vorgestellt von Markus Köhle, Wien

Susy Schmid: «Das Wüste lebt». Muri: Cosmos, 2007.

…das Morden hört nicht auf…

Endlich hat Stephan Pörtner, nach mehreren books-on-demand-Publikationen, einen Verlag gefunden, und damit betritt mit seinem Ermittler Köbi Robert ein legitimer und origineller Nachfolger des Haasschen Simon Brenner die deutschsprachige Krimibühne – im August erschien «Köbi Santiago» im Zürcher Bilgerverlag. Die Geschichte setzt spannungsvoll dort ein, wo andere aufhören, in Santiago de Compostela, und mit der Erinnerung an eine Beerdigung. Mit einem Totgeglaubten kehrt Köbi in die Schweiz zurück und gerät in gefährliche Verwicklungen. Alle Elemente des klassischen Kriminalromans sind zu finden: mehrere Tote, falsche Verdächtige, kritische Polizeimethoden, im Hintergrund eine alte Liebesgeschichte, überraschende Wendungen und viel Zürcher Lokalkolorit (inklusive einer Liebeserklärung an diese Stadt – cum grano salis: «Städte verändern sich. Zürich zum Beispiel. Das war nicht mehr die Stadt, in der ich aufgewachsen war. Früher hassten wir Zürich, weil wir jung und zornig waren. Niederbrennen wollten wir sie, die alte Wixerstadt. Über das Wetter klagten wir, über den Winter und die strengen Sitten. Mit der Zeit wurde alles besser. Die Stadt wurde offener, netter und fröhlicher, das Wetter besser. Wir wurden älter und milder. Heute lieben wir unsere Stadt. Aber seltsam, irgendwie mochte ich sie besser, als ich sie noch hasste.»).

Köbi, der Ermittler, raisonniert über das Älterwerden und akzeptiert das Milieu der Hanfhändler und der ältergewordenen Jugendszene trotz aller Distanz als Folie seines Lebens. Nichtzürcher lernen die Vokabel «Losetz!», die dem englischen «Listen!» gleichkommt, aber wohl auch halb auffordert, halb ablehnt. Sie steht für die Methode Köbis: das Zuhören und das Mitgehen mit den Zeugen, Verdächtigen, Randfiguren, auch mal mit einem allzu sympathischen Polizisten, gegen den eigenen inneren Widerstand. In der Teilhabe am Leben, im Hinhören, im oft genervten Sich-Einlassen auf das, was kommt, klärt sich alles – wir können mit Spannung auf die nächste Folge warten.

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen

Stephan Pörtner: «Köbi Santiago». Zürich: Bilger, 2007.

…auch ein Agentenroman braucht Tote…

Im Grunde fehlt mir ja der Zugang zu Agentenromanen, dachte ich. Alle diese Decknamen, Beschattungen, Verdächtigungen: sie sind doch – verdächtig. Aber wessen? Immer gleicher Strickmuster! Nein, die Welt von John le Carré & Co. überlasse ich gerne den Carréristen, so mein lang gehegtes Vorurteil, das nicht einmal der Urvater dieses Genres, immerhin Joseph Conrad mit seinem Roman «Agenten», entkräften konnte. Doch gebe ich zu, dieser «Mauersegler» hat etwas. Ein verlockender Anfang: «Kilchenmann is dead». Man kann ja nach Frisch nicht mehr schreiben: XY ist nicht XY, also ist das schon eine probate Variante. Und im Schatten dieses in einem See der Holsteinischen Schweiz zu Tode gekommenen Dunkelmannes bewegt sich so manches in diesem verhalten spannend erzählten Roman. Da ist zum Beispiel Mangold, ein seit grauer Vorzeit hinter dem Eisernen Vorhang in die Geheimdienstszene verstrickter Mediencoach aus Zürich, oder auch ein gewisser (eher blasser) Agent namens Förster, dem Mangold zuarbeitet; zudem finden sich ein paar Frauen im Hintergrund, mit Ausnahme der hauptrollenträchtigen Sara Pechstein im Schwabinger Milieu, Pflegetochter eines gewissen Mr. Fisher aus Venice, California, angebliche Tochter Mangolds, der sich ‹Mauer-segler› nennen muss, die aber in Wahrheit den auf mysteriöse Weise umgekommenen Kilchenmann zum Vater hat und sich von einem neureichen Russen mit Decknamen Tolstoi lieben und aushalten lässt, zudem noch dem Verfassungsschutz dabei behilflich ist, Neonazis aufzuspüren, die bei der Eröffnung der neuen Münchener Synagoge an einem 9. November, diesem deutschsten aller Schicksalstage, einen Anschlag geplant haben, der aber vereitelt werden kann.

Nein, Agentenromane liegen mir eigentlich nicht. Jedoch, «Der Mauersegler» ist lesenswert, nicht weil er von einem «Tatort»-Drehbuchschreiber und versierten Unterhaltungsromancier stammt, sondern weil der Text atmosphärisch zu verdichten versteht, mit Motivreihen wirkungsvoll umgeht und im Mauersegler ein Vogelsymbol gefunden hat, das für die Literatur entdeckt werden musste. Denn was kann dieser Apus apus nicht alles: «Er holt im Flug seine Nahrung, kann auch im Flug schlafen und paart sich sogar gelegentlich in der Luft. Auf dem Land gilt der Mauersegler wegen seines penetranten Schreis, den er ausstösst, wenn er über die Häuser segelt, als Teufelsvogel.» Nun, manches davon kann auch unser Mangold, zumindest im Flugzeug. Und es ist ganz reizvoll, diesem komischen Vogel lesend auf den Krallenfersen zu bleiben. Lange Flüge, Zug- oder U-Bahnfahrten verkürzt Zeindlers kleines Kabinettsstück allemal.

vorgestellt von Rüdiger Görner, London

Peter Zeindler: «Der Mauersegler». Zürich: Arche, 2007.

Der Mittelstands-Ehemann, kein Mörder

Der Titel wäre von gerissener Simplizität. Wer klopft, könnte immer schon jener sein, auf den wir ein Leben lang warten. Hier aber ist es Eros, der sich ankündigt. Es klopft eine fremde Frau. Zuerst ans Zugfenster. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt hinter der Scheibe ignoriert sie. Doch wenig später klopft sie erneut, an die Tür seiner Praxis, mit einem unerhörten Begehren: sie will ein Kind von ihm, und zwar sofort. Es gehe ihr weder um Geld noch Gefühle, und nach vollbrachter Tat werde sie verschwinden, auf immer. Dr. Manuel Ritter, glücklicher Ehemann und zweifacher Vater, weist sie ab. Doch die Bitte wird sogleich zur Verführung. Der Mann wird männlich schwach und vergisst alle Ordnung und Regel. Seiner Familie sagt er nichts. Fast geht das Leben weiter wie zuvor.

Ein zweites noch meint der Titel: Tinnitus, das penetrante Klopfen im Ohr, weder Tod noch Liebe also, sondern eine Krankheit. Ausgerechnet Ritter bekommt sie, der Ohrenarzt. Auch dieses Klopfen bricht in das bürgerlich-erfolgreiche Leben ein. Es hat mit jenem anderen Klopfen zu tun, bringt jenes zurück, verschmilzt mit ihm; denn die frühe Begegnung mit der Fremden führte zu einer Tochter, die der Glücks-Ritter nie gesehen hat, von der die Familie nichts weiss und die nun auf einmal in Erscheinung zu treten droht.

Die Literatur kennt zahllose Varianten der Geschichte vom Mittelstands-Ehemann, der in der Blüte seiner Jahre von nur scheinbar verjährten Erlebnissen gestellt wird, die Lebenslügen genannt werden. Hohler wechselt von der Perspektive Ritters zu jener seiner Frau Julia, dann zu jener anderer Protagonisten, stellt Fragen in den Raum, operiert mit Widersprüchen, mit rätselhaften Andeutungen und Zeitsprüngen. Ist denn ein Verbrechen geschehen, und wenn ja, welches, und wer war’s? Am Schluss, nach einem schlecht und recht motivierten Unfall, wird wacker gebeichtet, und es gibt so etwas wie ein Happy End.

Ich gestehe, dass mich dieses hoffnungsfroh ergriffene Büchlein enttäuscht und gelangweilt hat. Die Tragkraft der Story ist beschränkt. Ihre Sprache wirkt über weite Strecken hinweg reizlos. Die Figuren finden kaum aus der Blässe ihrer Konstruktion. Die Leitmotive und mythisch-literarischen Anspielungen, deren Symbolgehalt undeutlich bleibt, wirken oft arg aufgesetzt. Im Kleinen ödet der eingestreute Gesellschaftskritikkitsch an, im Grossen ist das Moralisieren von schädlicher Biederkeit. Dass das Leben nichts vergisst, darf als bekannt gelten. So what? Wer keine natürlichen Töchter hat, werfe den ersten Stein.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

Franz Hohler: «Es klopft». München: Luchterhand, 2007.

Fault nicht, klebt nicht, riecht nicht, nässt nicht

«Singende Eisen, Spangen und Gleise» nennt sich das Programm, das seit Jahren vier illustre Musiker und Autoren auf der Bühne zusammenführt. Anton Bruhin, Bodo Hell, Michel Mettler und Peter Weber geben gemeinsam ein mixtum compositum zum Besten, das nun auch auf CD vorliegt. Im ausgewogenen Wechselspiel von Lesung und Spiel, von Solos und chorischen Passagen ergänzen sich dabei mächtige Worte und brummende Maultrommelklänge zu einem Prospekt «sonorer Phänomene» (Michel Mettler).

Die Maultrommel, das Trümpy oder Brummeisen spielt eine Hauptrolle. Der Dichter und Künstler Anton Bruhin gilt für viele als innovativer Interpret des traditionellen Volksinstruments. Es ist erstaunlich, welche Vielfalt an Tönen und Harmonien er diesem zu entlocken vermag. Dazu trägt er – dem Instrument durchaus angemessen – vertrackte Palindrome vor, Spiegelgedichte, die in ihrer monotonen Reihung wie neuzeitliche Beschwörungen klingen: «Reite per Legehenne Hegel repetier».

Die Maultrommel färbt hörbar auf die Texte ab. Sei es in strenger Form, wie bei Anton Bruhin, oder bei Bodo Hell, dessen Obst-Gedicht mit seiner Refrainzeile «Obst im Papiersack fault nicht klebt nicht riecht nicht nässt nicht» präzis dem akzentuierenden Takt der begleitenden Maultrommel folgt; sei es als inhaltliches Motiv wie bei Michel Mettler und Peter Weber. Der Roman «Die Spange», woraus Mettler Auszüge liest, bettet die Maultrommel ein in eine virtuose erzählerische Reflexion, in der er das fiktive Bild einer Klang- und Spangenkultur entwirft. Prähistorische Kulturgeschichte und kindliches Spangen-Trauma amalgamieren wundersam. Und auch in Webers Büchern spielt die Maultrommel immer wieder eine klingende Rolle. «Die Maultrommel führt durch die aussersprachlichen Räume, die der Monotonus maximus gebläht hat», heisst es in «Die melodielosen Jahre». Auf der vorliegenden CD lässt sich Weber zu phantastischen Beobachtungen hinreissen, in denen sich Bahnschienen in eine Gleisharfe und der Bahnhof in einen schallenden Klangraum verwandeln. Im gemeinsamen Zusammenspiel verstärken die vier maultrommelnden Autoren ihre «Stimmkraft mit vielfältigen Instrumenten» und erzeugen so eine eigenwillige Zungen- und Gaumenpoesie.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

Anton Bruhin, Bodo Hell, Michel Mettler & Peter Weber: «Singende Eisen, Spangen und Gleise. Vier dichtende Maultrommler und maultrommelnde Dichter». Audio-CD. Basel: Urs Engeler, 2007.

Wir leben nicht, wir sterben nicht, wir warten

«Als die Zeit aus den Fugen war», flüchteten die Gehetzten Europas nach Frankreich. Doch sie erlagen einem Irrglauben. Weder die Geschichte noch die Kultur waren Gewähr für den verzweifelt erhofften Schutz. Die politische Praxis seit 1830, politische Flüchtlinge nicht auszuweisen, wurde mit dem Waffenstillstandsabkommen 1940 ausgesetzt. Xenophobie und Antisemitismus grassierten schon lange. Nun aber wurden Juden, (feindliche) Ausländer, Emigranten aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Belgien sowie Mitglieder der Résistance (der auch Ausländer – zumeist Kommunisten – angehörten) zum Freiwild für die Gestapo und die Polizei im parafaschistischen Südfrankreich.

Erlebtes – das tagtägliche Elend und die Verzweiflung in den «Lagern der Schande», die Todesängste auf der fortwährenden Flucht, die Demütigungen beim alltäglichen Kampf ums Überleben, die Hoffnung, die Trostlosigkeit, die geglückten und missglückten Versuche, doch noch, irgendwie, aus der südfranzösischen Falle herauszukommen, irgendwohin – all dies bestimmt das Schreiben der gerade noch Davongekommenen und die letzten Aufzeichnungen derjenigen, die nicht mehr davonkommen wollten oder nicht mehr konnten: «Wir leben nicht, wir sterben nicht, wir warten, / Wir laufen um die Wette mit dem Tod», heisst es in Hans Sahls Gedicht «Marseille IV» aus dem – vergessenen – Band «Die hellen Nächte. Gedichte aus Frankreich», erschienen 1942 in einem New Yorker Verlag. Schreiben wird erfahren als Akt der Selbsterhaltung und einzige Möglichkeit der Flucht, des Widerstandes oder des Rückzugs – in der Regel ohne Chance auf Resonanz, denn die vorrückenden Deutschen vertreiben die wenigen freien Verlage. Der Zürcher Verleger und Buchhändler Emil Oprecht gibt einigen von ihnen eine Stimme; für viele der in Südfrankreich Gestrandeten wirkt er als leibhaftiger Schutzengel mit praktischer Überlebenshilfe und Mitwirkung im «Emergency Rescue Committee».

Das von Ruth Werfel herausgegebene Buch «Gehetzt» dokumentiert all dies vor dem detailliert gezeichneten Hintergrund der politischen Entwicklungen in Frankreich. Es schliesst damit eine der vielen Forschungslücken auf dem Gebiet der Exilforschung und macht zugleich deutlich: dieses Kapitel französischer Zeitgeschichte sollte auch aus europäischem Blickwinkel betrachtet werden; denn die Auslieferung der Juden und der Flüchtlinge sowie das Sicheinrichten in der Diktatur verlangt nach «transnationaler Erinnerungsarbeit», um einen der wohltuend wenigen Jargon-Brocken zu zitieren, über die man bei der Lektüre stolpert.

vorgestellt von Ute Kröger, Kilchberg

Ruth Werfel (Hrsg.): «Gehetzt. Südfrankreich 1940. Deutsche Literaten im Exil». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007.

Erfolgsexpress Abenteuerroman

Verfasser von Abenteuergeschichten hatten es meist nicht leicht. Sie waren die Stiefkinder der Literaturgeschichte. Geliebt vom Publikum, wurden sie vom gehobenen Feuilleton im besten Fall ignoriert. Ich denke an Robert Louis Stevenson, der lange warten musste, bis er seinen Status als Klassiker erlangen konnte; ich denke an Jules Verne und James Fenimore Cooper. Diese Ignoranz der Besserleser hatte ihre Gründe.

Ortega y Gasset nannte das Vergnügen an abenteuerlichen Verwicklungen in einem berühmten Essay der 1920er Jahre «kindisch» und fand, es sei dem hochentwickelten Empfindungsvermögen des modernen Menschen nicht angemessen. Das sah man in literarischen Kreisen offensichtlich lange Zeit genauso. Man zog den eher formlosen Feinsinn des psychologischen Romans vor: das seelische Interieur von Selbstmördern aus Glücksüberschwang, Mordlust aus Menschenliebe, oder Ehepartner, die einander derart vergöttern, dass sie sich das Leben zur Hölle machen.

Immerhin hat sich die Abneigung gegenüber einem handfesten äusseren Geschehen in den letzten Jahren ganz offensichtlich ins Gegenteil gekehrt. Heute scheint es ohne historische Abenteuer auch in der sogenannten seriösen Literatur nur selten zu funktionieren, wenn mehr als 50 Bücher verkauft werden sollen. Christoph Ransmayr hat es 1984 mit den «Schrecken des Eises und der Finsternis» vorgemacht, unlängst überschlugen sich die Kritiker bei der Lektüre von Daniel Kehlmanns «Vermessung der Welt». Jetzt ist auch Alex Capus auf diesen Erfolgs-Express aufgesprungen.

Sein neuer Roman «Eine Frage der Zeit» bringt uns am Vorabend des Ersten Weltkriegs ins Herz Afrikas. Dort möchte Kaiser Wilhelm sein Einflussgebiet ausdehnen. Dazu wird der Dampfer «Götzen», zerlegt in seine Einzelteile, von Norddeutschland bis nach Daressalam in Deutsch-Ostafrika verschifft und von dort per Eisenbahn an den Tanganjikasee transportiert, wo er die Ufer des riesigen Gewässers und damit die angrenzenden Kolonien beherrschen soll. Erst einmal muss er jedoch zusammengesetzt werden, und zwar von den deutschen Schiffbauern Anton Rüter, Rudolf Tellmann und Hermann Wendt. Das dauert, bis der Schuss von Sarajewo die Welt auf den Kopf stellt. Jetzt senden auch die Engländer, die von der «Götzen» nichts wissen und das gleiche im Sinn haben wie ihre deutschen Kontrahenten, unter Führung des schneidigen Commanders Geoffrey Spicer-Simson zwei kleine Schnellboote auf dem weit strapaziöseren Landweg an den See, mit dem Auftrag, die dort stationierten altersschwachen Schiffe der Deutschen, von denen sie Kenntnis haben, zu zerstören.

So weit, so absurd. Capus erzählt diese historische Groteske, die sich in ihren Hauptzügen tatsächlich so begeben haben soll, mit scharfem Blick für die Absurdität kolonialer Grossmannssucht und imperialer Verstiegenheit. Sein Kunstgriff besteht darin, das Geschehen aus dem Blickwinkel der eher biederen und ganz unmilitärischen Beteiligten zu berichten, die sich unversehens in einem gigantischen Schlamassel befinden. Ein Schlamassel, der für einige der Beteiligten zwar tödlich endet, insgesamt aber doch eher skurrile Züge trägt; so wenn die «Götzen», ohne je einen Schuss abgegeben zu haben, von den eigenen Männern im flachen Wasser versenkt wird, während man auf der anderen Seite zu verbergen versucht, dass die kleinen Schnellboote durch die eigenen Schussversuche unbrauchbar geworden sind. Das Ganze gerät am Ende ziemlich komisch, und das Geschehen wirkt wie ein Treppenwitz der Geschichte.

«Noch war die Welt nicht ganz vertheilt! / Noch manche Flur auf Erden / Harrt gleich der Braut: die Hochzeit eilt! / Des Starken will sie werden. / Noch manches Eiland lockt und lauscht / Aus Palmen und Bananen: / Der Seewind braust, die Woge rauscht, / Auf, freudige Germanen!» So hatte Felix Dahn 1886 in einem «Lied der Deutschen» gedichtet. Gegenwärtig hört man Ähnliches aus anderen Teilen der Welt – verbrämt mit Parolen von Freiheit und Demokratie. Vermutlich endet auch die moderne Form der Kolonisierung nicht ganz so humorig wie bei Capus, dessen Buch als charmant geschriebener, unterhaltsamer Schmöker mit melancholischen Untertönen gelesen werden sollte, nicht als literarische Grosstat.

vorgestellt von Gerald Funk, Marburg

Alex Capus: «Eine Frage der Zeit». München: Knaus, 2007.

Nochmals: Poetikvorlesungen von Urs Widmer

Poetikvorlesungen handeln in den seltensten Fällen von literarischer Theorie, sondern sind vielmehr Selbstverständigungsversuche der Autoren über ihr eigenes Tun und Schaffen. Insofern folgt Urs Widmer einer guten Tradition, wenn er seine im Frühjahr an der Universität Frankfurt gehaltenen Poetikvorlesungen unter den weitläufigen Titel stellt: «Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das». In fünf lose miteinander verknüpften Vorträgen wird der Frage nachgegangen, was den Dichter an- und umtreibe und welche roten Fäden die Literatur zusammenhielten. Das klingt schwergewichtig, ist es aber nicht. Nahezu leichtfüssig bewegt Widmer sich durch die literarische Tradition, scheut keine Abschweifungen und Nebenwege und verliert doch das grosse Ganze nie aus den Augen.

Im Zentrum von Widmers Dichtungsbegriff steht die Feststellung, dass dichterisch schreiben kein freier Entschluss sei, sondern Verurteilung und bedrängende Notwendigkeit – der Schriftsteller könne gar nicht anders. Schlimmer noch: er kann nur so und nicht anders. Damit ist gemeint, dass jeder Autor seine ureigene Sprache habe, die von der allgemeinen Norm der Zeitgenossen abweiche. Das mag, wie bei Robert Walser, nur eine Nuance sein, die aber doch die ganze Kunst ausmacht. Tatsächlich setzte Walsers Anerkennung als Schriftsteller erst dann ein, als man dessen «stille Radikalität» erkannte, die Eigenart, scheinbar alltäglich und zugleich mit unverwechselbarer Stimme zu sprechen. Ungleich radikaler war die Differenz bei Gottfried Keller, der sich nichts sehnlicher wünschte, denn als Dichter aus der Mitte des Volkes heraus zu schreiben. Doch statt mit der Stimme aller zu sprechen, entwickelte Keller beinahe gegen seinen Willen eine eigene Sprache, ein Prozess, der Keller zunehmend mutloser, man könnte auch sagen kleinlauter machte und ihn zuletzt ganz verstummen liess.

Wirklich mit sich im reinen ist der Schriftsteller ohnehin nie. Das Leiden an einer als ungenügend empfundenen Welt bildet vielmehr den Antrieb alles literarischen Schaffens. Jeder Dichter, so Widmer, besässe einen Schmerz-Kern, an dem er sich abarbeite und gegen den er anschreibe, ohne ihn je überwinden oder aus der Welt schaffen zu können. Schreiben ist keine Therapie. Und doch spricht aus diesem Anschreiben ein utopischer Überschuss, der trotzige Wille, dem Mahlstrom der Welt etwas Eigenes entgegenzusetzen. Ein gelungener literarischer Text ist ein kleiner Sieg über Leiden und Tod. So lange noch erzählt wird, ist nichts endgültig entschieden, bleibt der Tod gebannt. Die Literatur kennt, selbst wo der Held stirbt, nur Davongekommene. «Im wirklichen Leben siegt der Tod. Aber in der Literatur siegt das Leben.»

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Urs Widmer: «Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das. Frankfurter Poetikvorlesungen». Zürich: Diogenes, 2007.

Es interessiert: wird der Rezensent jetzt reich?

«Das Geld liegt auf der Strasse – warum sehe ich es nicht? Ich muss in einer anderen, der falschen Welt leben», schreibt Al Imfeld. Wie ihm, mag es der Weltbevölkerungsmehrheit gehen. Und deswegen beschenkt Imfeld sie in seiner neuen Geschichtensammlung mit Tips, wie sie reich werden könnte: man spare sich den Kauf von Büchern wie «How to Get Rich Quickly», «Der Ein-Minuten-Millionär», «Wie ziehe ich einen Millionär an?» oder «Glück kommt mit dem Mobiltelefon». Einfacher zu Geld komme, wer auf die Frage des Lehrers «Was willst du werden?» mit: «Ich werde Millionär» antworte. Später heirate man eine begüterte Frau, ändere seinen Namen vom burschikosen Karl zum feudaleren Charles und eröffne einen Coiffeur-salon für Millionaires only, das bald ein Börsenberatungsbüro werde. Wenn man für den Papst in der Innerschweiz «kollektieren» gehe, beginne man morgens nicht mit Klein-spendern, sondern mit jemandem, der vielleicht einen Fünfliber gibt und das auch stolz hinschreibt; der Nachfolger werde meist ein Gleiches tun. Wenn man die Mittelschule hinter sich habe, jedoch kein Stipendium für eine Universität besitze, packe man gleich die Koffer und überrasche den Paten an der Tür mit der Frage: «Kann ich nicht eine oder zwei Wochen hier bei dir wohnen, lieber Götti?»

Imfelds 26 Geschichten vom Geld sind amüsant, oft traurig, manchmal beklemmend, und vor allem: vom Leben geschrieben. Und weil Al Imfeld Afrika-Kenner und engagierter Aufklärer ist, handeln die Geschichten zwischen Nigeria und Zürich weniger vom Reichwerden als vom Armbleiben. Während seiner Reportertätigkeit über Hungernde und Arme etwa verfolgen ihn Nudeln in Form von Hörnli über die Kontinente hinweg. «Wo immer Food Aid mit im Spiel war, lagen diese Hörnli wie Maden herum. Wenn die Grossen etwas vom Tische fallen liessen, waren es Hörnli. Hörnli – eine gekrümmte Spende, eine Verkleinerungsform, damit die Beschenkten ja nicht übermütig und masslos werden.» Als Imfeld bei einem Landwirtschaftsprojekt für die rhodesische Befreiungsbewegung in Tansania stationiert war, liessen sich Befreiungskämpfer Näh- und Schreibmaschinen geben, um sie sofort an die DDR im Tausch gegen Waffen weiterzureichen. Hinter dem Gebäude des Finanzministeriums beobachtete er Kinder, die geschredderte Banknoten zusammenklebten. Die Kinder hatten bestimmtes Papier selbst zerkleinert, Papier, das gut zu den Banknotenüberresten passte, um die durch das Schreddern verlorengegangenen Teilchen zu ersetzen. «Französische Versandkataloge eigneten sich am besten hierfür, sagte ein älteres Mädchen, weil ihre Seiten farbig und stabil seien.» Und sitzen vier Entlebucher am Stammtisch zusammen, sind sie sich einig: man war damals während des Zweiten Weltkrieges, auf den abgelegenen kleinen und stotzigen Höfen so arm, dass auch an Feiertagen niemand an ein Festessen denken konnte: «Bestenfalls reichte es zu etwas mehr. Etwas mehr Zucker, ein paar Kaffeebohnen mehr, ein bisschen mehr Butter, ein Stück Brot extra – das war Weihnachten.»

Und was, Herr Imfeld, wenn der Kindsvater seine Alimentenzahlungen plötzlich verweigert? Die junge Lehrabsolventin einfach keine Stelle findet? Oder die Kosten für das Pflegeheim auch mit einer vollen AHV-Rente nur zur Hälfte bezahlt werden können? Die Geschichten vom Geld verlangen nach einer Fortsetzung.

vorgestellt von Christoph Simon, Bern

Al Imfeld: «Lies und werde reich. Geschichten vom Geld. Zürich: Rotpunktverlag, 2007.

Alle Jahre wieder: Die Tanne brennt auch 2008

Die Geschichte, in der der Autor sich am weitesten vorwagt, ist die drittletzte des Bandes «Die Tanne brennt!» von Beat Brechbühl. Schöpfer heisst der Protagonist ihrer Binnenerzählung, er ist Angehöriger der Generation Fünfzig plus und frisch gebackener Eheaussteiger. Als Vertreter von Assekuranzen bedient er die «Gier nach absoluter Sicherheit». Der Unterbau des eigenen Lebens bezieht seine vermeintliche Festigkeit aus dem Dreiklang von tüchtig sein, Geld verdienen, und positiv denken. Für solch einen Helden unserer Zeit, der ihre Normen perfekt verinnerlicht hat, werden die mit dem 24. Dezember beginnenden Tage «unweigerlich» zum «Problem», und desto mehr, als er sich von der Religion emanzipiert hat. Nach erfolglosen Versuchen, der «Nervosität» am Heiligen Abend zu entkommen, stösst ausgerechnet Schöpfer zufällig auf eine im Wald versteckte Elendsfamilie, illegal eingereiste Menschen aus Kroatien, wie sich herausstellt. Wider seine Selbstkontrolle geraten seine Gedanken auf Abwege: «es fuhr wie ein Blitz ins Hirn: jetzt tu ich einmal im Leben ETWAS, etwas Richtiges!» Um ihnen Herberge zu gewähren, bringt er die Migranten zu der eigenen Familie, die er verlassen hatte, und gemeinsam sorgen sie von da ab dafür, dass sie eine Zukunft haben. Dem Erzähler bietet der geläuterte Versicherungsmann einige bei der Lektüre tatsächlich naheliegende Deutungsmuster an: ist «das Ganze» nun «ein grosser Kitsch … ein Märchen oder eine richtige Fabel?» Wenn es nach dem Schlusssatz geht, dann nichts von alledem, vielmehr gilt: «Wir brauchen solche Weihnachten wie du.»

An Weihnachten leuchtet mitten im tristen oder banalen Alltag etwas Verwandelndes auf, an Weihnachten vermag etwas zu geschehen, was die Menschen entweder besser macht oder ihnen Hoffnung gibt. Auf diese Pointe laufen alle neun Erzählungen Beat Brechbühls hinaus, deren kürzeste vier, deren längste lediglich zwölf Seiten umfasst. Und diese leise Subversivität des Festes erreicht ironischerweise gerade diejenigen, die mit seinem christlichen Gehalt nichts mehr verbinden. Von den «merkwürdigsten Weihnachten» der handelnden Personen wird daher stets berichtet. Einmal ist es der Besuch eines Zauberers, der auf das Übernatürliche verweist, das andere Mal die Geburt eines Kindes, von dem eine grosse Kraft ausgeht, einmal rettet just der erklärte Gegner von Haustieren eine Katze, ein andermal wird die Einsamkeit einer allein erziehenden Mutter aufgehoben, die sich durch die Fernsehprogramme zappte – «Kinderchöre singen Weihnachtslieder, Politiker, Pfarrer reden über Weihnachten, ein Western, ein Krieg» –, und in der Schlussgeschichte entdeckt eine blinde Frau Verantwortung für ein schutzloses Mädchen. «Steckt eine Symbolik in der Geschichte?» Dieser Frage bedürfte es natürlich auch hier nicht. Die zunächst nur ritualisiert anlaufenden Feiern spielen in den Milieus kleiner und mittlerer Leute, in Neubausiedlungen, Reihenhäusern oder Wohnblöcken, und finden in unterschiedlichen familiären Konstellationen statt, scheinbar normalen, bizarren oder verkorksten. Ihren Charme beziehen die Geschichten aus dem humanen Ausnahmezustand, der, wie aus einer anderen Wirklichkeit, in diese Lebenswelten einbricht, in denen die Gleichgültigkeit und das Unglück der Gesellschaft dieser Jahre erkennbar werden.

Seit seiner ersten Veröffentlichung 1962 ist Beat Brechbühl ein vielseitiger und produktiver Schriftsteller geblieben. Mit dem Höhepunkt während der 70er Jahre zumal, hat er als Romancier und Lyriker Spuren in der Schweizer Literatur hinterlassen, die nach wie vor erkennbar sind. Den Anspruch seiner in der kleinen Reihe «Geschichten zur Weihnachtszeit» erschienenen Texte (bei deren Adressaten er zuweilen an Jugendliche gedacht haben mag) sollte man gewiss nicht überfrachten. Ihre Erzählweise ist einfach, doch nicht ohne Raffinement, und Respekt verdient seine Gratwanderung bei einem Thema allemal, von dem viele vielleicht glaubten, man könne sich zu ihm nurmehr heimelig oder ironisch verhalten.

vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Münster

Beat Brechbühl: «Die Tanne brennt!» Geschichten zur Weihnachtszeit». Frauenfeld: Huber, 2007.

Boomtown Basel

Basel war die Schweizer boomtown des 19. Jahrhunderts: 16’000 Menschen wohnten um 1800 in den beiden Teilen der Stadt, hundert Jahre später bereits fast siebenmal soviel, nämlich 109’000. Eine rasante Industrialisierung hatte Zehntausende von Einwanderern aus dem In- und Ausland angezogen, darunter auch den Coiffeur Ernst B. aus Büren an der Aare, der sich 1886 in Basel niederliess und zwei Jahre später die aus Deutschland stammende Sophie Karoline F. heiratete. Am 18. Juli 1894, sechs Jahre nach der Eheschliessung, gibt die Frau bei der Basler Polizei zu Protokoll, «ihr Mann sei in letzter Zeit dem Trunke ergeben und leide wahrscheinlich an Verfolgungswahn, indem er sich von vielen Personen verfolgt fühle und gestern die Mittagssuppe ab dem Tisch genommen und wahrscheinlich habe nach Gift untersuchen lassen». Einen Tag nach dieser Aussage wird Ernst B., der in der Nähe des Centralbahnhofs wohnt, in die Basler Irrenanstalt Friedmatt eingewiesen. Es folgt die Scheidung von seiner Frau, die Entlassung aus der Friedmatt, die Wiederverheiratung des Paars, ein Suizidversuch des Coiffeurs und schliesslich die endgültige Scheidung. 1903 verfasst er einen 27seitigen handschriftlichen Bericht, der den Behörden beweisen sollte, dass er das Opfer von Immobilienspekulanten und Hypnotiseuren geworden sei. Dieser Rapport, ein bewegendes Zeit- und Lebensdokument, führt jedoch dazu, dass Ernst B., dessen Wahnvorstellungen durchaus Bezüge zur Realität haben, auf Lebenszeit in der Irrenanstalt Münsingen interniert wird. Dort stirbt er 1923.

Vor ein paar Jahren stiessen die beiden Historiker Stefan Nellen und Martin Schaffner sowie der Germanist Martin Stingelin im Basler Staatsarchiv zufällig auf Lebensspuren Ernst B.s und seiner Frau. Die drei Wissenschafter konnten weitere Akten finden, die es erlaubten, die Fallgeschichte weitgehend zu rekonstruieren und sie in grössere zeitgeschichtliche Zusammenhänge zu stellen. Im Buch «Paranoia City» gelingt es den drei Herausgebern, einer weiteren Autorin und drei Autoren, in spannenden, gut dokumentierten und anregenden Essays zu zeigen, dass die Erfahrungen von Ernst B. weit über den Einzelfall hinausweisen und sich in ihnen das nervöse und hysterische Zeitalter um 1900 spiegelt, weshalb – so Martin Stingelin – Ernst B.s «Symptome» nicht nur «als Indizien für eine individuelle, sondern für die kulturkritische Diagnose einer ganzen Epoche gelesen werden» sollten. Einer Epoche, die nicht nur im boomenden Basel Menschen um den Verstand brachte.

vorgestellt von Roger Ehret, Basel

Stefan Nellen, Martin Schaffner & Martin Stingelin (Hrsg.): «Paranoia City. Der Fall Ernst B.; Selbstzeugnis und Akten aus der Psychiatrie um 1900.» Basel: Schwabe, 2007.

Von und über Regina Ullmann

Das ganze irdische Elend konnte sie durch die Knopfaugen einer Maus anblicken: «Der Tod war hergerichtet in Gestalt einer Falle.» Die frühberufene Schriftstellerin Regina Ullmann setzte sich der Welt völlig schutzlos aus, sie fühlte ein tiefes «animistisches» Mitleid mit deren Kreaturen. Das macht ihre Texte wie die kurze Erzählung «Die Maus» auch heute noch so anrührend und verstörend. Verarmte, Bucklige, Dienstmägde und immer wieder Kinder voller enttäuschungsgefährdetem Urvertrauen bevölkern die Erzählungen des Bandes «Die Landstrasse», der erstmals 1921 im Insel-Verlag erschien.

Die Frage, wann denn die «grosse Barmherzigkeit» in uns käme, durchzieht als Basso continuo ein Werk, dessen fatalistische Erdenschwere aus heutiger Sicht zwar irritiert, das aber zu Unrecht in Vergessenheit geriet. Selbst in München, wohin sie nach dem Tod des Vaters 1902 als Siebzehnjährige im Schlepptau der Mutter kam und wo sie bis 1936 lebte, erinnert kaum mehr als ein Strassenname an sie. Immerhin erhielt Regina Ullmann, 1884 als Tochter eines jüdischen Kaufmanns österreichischer Nationalität in St. Gallen geboren, als erste Frau den Kulturpreis ihrer Geburtsstadt. Das war 1954, als sie in einem von Nonnen geleiteten Marienheim lebte. Sieben Jahre später starb sie in Ebersberg bei München, wo eine ihrer Töchter lebte.

Zeitlebens suchte sie Schutz und lehnte sich doch immer wieder gegen ihre Schutzmächte auf – allen voran gegen die bestimmende Mutter, die das schriftstellerische Talent ihrer durch Entwicklungsstörungen retardierten Tochter früh erkannt und mit Nachdruck gefördert hatte. Ihr Début, der Einakter «Feldpredigt» von 1907, trug Regina Ullmann die konstante Bewunderung und Förderung Rainer Maria Rilkes ein. Aber auch Hermann Hesse oder Robert Musil schätzten ihr Werk, das 70 Erzählungen umfasst, als visionär, als Ideal wahrer Volks- und Heimatdichtung. Rilke schrieb über seinen Schützling: «Es handelt sich um eine Dichterin, die sich … ihre Mängel selbst einer intensiven und genialischen Noth des Ausdrucks dienstbar» gemacht habe. «Wir sind gebunden an alle Qualen, die gelitten werden um uns», heisst es in «Die Maus», einer Geschichte von parabelhafter Unausweichlichkeit, die an Kafka denken lässt. Die hohen Erwartungen ihrer Schriftstellerkollegen setzten die stille, linkische Frau wiederum unter starken Druck, was ihre Produktion zeitweise versiegen liess.

Unter dem Einfluss des Geschwisterpaares Delp konvertierte die Jüdin 1911 zum Katholizismus; die teils schroffen Schicksale ihrer Figuren jedoch widersprechen jeder christlichen Heilslehre. So fällt etwa der junge Held aus der novellistisch zugespitzten Erzählung «Von einem alten Wirtshausschild» (die Rilke für ihre reifste hielt) einem nächtlichen Rachekommando wildgewordener Hirsche zum Opfer. Denn er hatte seine wahre Liebe, ein elfenhaftes, aber geistig zurückgebliebenes «Naturwesen», verleugnet, um eine Handwerkertochter zu freien.

Regina Ullmann lernte bitterste Armut kennen; vergeblich versuchte sie sich als Gärtnerin und Kerzengiesserin zu verdingen. Ihre 1906 und 1908 unehelich geborenen Töchter musste sie nicht nur wegen der damaligen gesellschaftlichen Konvention, sondern auch aus ökonomischen Gründen zu Pflegeeltern geben. Diese ausgrenzenden Erfahrungen grundieren ihre Erzählhaltung und lassen bei allem, was diese mehr ahnende denn wissende Autorin schrieb, eine subkutane Beunruhigung und Gefährdung spüren. Eine «Zurückgebliebene» nennt Peter Hamm sie in seinem von Empathie getragenen Nachwort: «Dass die Schönheit die Tochter der Angst ist: für die Gültigkeit dieses Goethe-Worts liefern Regina Ullmanns Erzählungen immer wieder den bewegendsten Beweis.»

Eine zentrale Episode in Regina Ullmanns Leben, die stürmische Liebesbeziehung zu dem Grazer Psychiater Otto Gross, beleuchtet Eveline Hasler in ihrem Buch «Stein bedeutet Liebe». Hasler, auf erfolgreiche historische Frauenbiographien abonniert (und 1994 als zweite Frau nach Ullmann Trägerin des St. Gallener Kulturpreises), skizziert lebendig und anschaulich die extravagante, freizügige Bohème-Atmosphäre im Schwabing alias Wahnmoching des Jahres 1906. Im Café Stefanie verkehrten Freigeister wie Erich Mühsam, Franziska zu Reventlow oder Roda Roda. Hier begegnet der kokainsüchtige Freud-Schüler Otto Gross, Sohn des berühmten Kriminologen Hans Gross und unter dessen Allmacht leidend, der jungen Rega, die wiederum von ihrer Mutter dominiert wird, zunächst als charismatischer Psychotherapeut. Ihre Liebe, der die Tochter Camilla entspringt, dauert knapp ein Jahr, bis Otto auf Veranlassung seines Vaters in die Zürcher Nervenheilanstalt Burghölzli eingewiesen wird. Das alles ist mit helvetischem Pragmatismus packend und konzise dargestellt, doch wird es der künstlerischen Tiefe und Zwiespältigkeit der porträtierten «Wortalchimistin» nicht gerecht. Haslers biographischer Roman sollte als Anregung verstanden werden, Regina Ullmann selbst zu lesen, jene aus der Welt gefallene Dichterin, die von sich sagte: «Unter meinen Geschichten ist eine andere Geschichte verborgen.»

vorgestellt von Katrin Hillgruber, München

Regina Ullmann: «Die Landstrasse. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Peter Hamm». Zürich: Nagel & Kimche, 2007.

Eveline Hasler: «Stein bedeutet Liebe». Zürich: Nagel & Kimche, 2007.

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