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Olive auf der Zunge

In der akademischen Auseinandersetzung mit Lyrik geht es meistens darum, Zugänge zu finden, Inhalte zu erschliessen oder tiefere Bedeutungsschichten freizulegen. Beschäftigungen also, die wenig mit sinnlichem Genuss, aber viel mit interpretatorischer Schwerstarbeit zu tun haben. Nicht so bei Ralph Dutli. Der Lyriker, Essayist und Übersetzer ist zwar ein genauer, um nicht zu sagen akribischer Leser, […]

In der akademischen Auseinandersetzung mit Lyrik geht es meistens darum, Zugänge zu finden, Inhalte zu erschliessen oder tiefere Bedeutungsschichten freizulegen. Beschäftigungen also, die wenig mit sinnlichem Genuss, aber viel mit interpretatorischer Schwerstarbeit zu tun haben. Nicht so bei Ralph Dutli. Der Lyriker, Essayist und Übersetzer ist zwar ein genauer, um nicht zu sagen akribischer Leser, aber eben nicht mit dem Ziel, das Gedicht sauber in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen, sondern es vielmehr in seiner sinnlichen Präsenz erfahrbar zu machen. Das erfordert zuweilen neue, ungewohnte Wege. So wird der Leser dazu aufgefordert, eine feste, fleischige Olive in den Mund zu nehmen und sie mit Zunge, Zähnen und Gaumen zu erschmecken und zu ertasten. Die überraschende Pointe dieses kulinarischen Selbstversuchs: «Ob Sie es glauben oder nicht: Sie waren eben mit Ihrer Olive in der Hauptstadt der Poesie. Denn Poesie findet im Mund statt, zwischen Kehlkopf, Gaumen, Zunge, Zähnen und Lippen.» Treffender lässt sich die sinnliche Dimension von Poesie nicht beschreiben, und man ahnt bereits, dass bei Dutli Poesie und Erotik nahe beieinander liegen.

Beispiele für einen lustvollen Umgang mit Lyrik finden sich bei Dutli zuhauf. Ob nun in Kaiser Hadrians Sterbegedicht, den Kuss-Sonetten der Louise Labé oder George Herberts kannibalischem Liebespoem, stets geht es dem «Ohrenmenschen» Dutli darum, den Leser etwas von der Magie des klingenden, gesprochenen Wortes spüren zu lassen. Zugleich macht der Autor uns Mut, uns ohne theoretische Scheuklappen dem Gedicht auszusetzen, Laut und Sprache zu folgen und das gedruckte Wort als Partitur zu verstehen, die nicht gelesen, sondern gespielt werden will.

Der Gewinn eines solchen Ansatzes ist reich. Er lässt die Sprache zu sich selbst kommen und reduziert das Gedicht nicht auf eine blosse Folie, hinter der sich ein wie auch immer verschlüsselter Sinngehalt versteckt. «Allegorien haben etwas Albernes», erklärt Dutli kategorisch. Wer Gedichte lediglich in logisch widerspruchsfreie Aussagen übersetzen will, ist nicht nur taub für die Magie des Wortes, sondern er verkennt auch, dass ein Gedicht seine eigene poetische Logik besitzt, die sich spielerisch und spielend über die Gesetze unseres Alltags hinwegsetzt. Der Logik des Gedichts zu folgen, so Dutli, heisst «auf dem Wasser zu gehen», vertraute Gewohnheiten und Automatismen hinter sich zu lassen und die Welt wie sich selbst aus einer neuen Perspektive zu sehen. Zuletzt ist es diese befreiende Kraft der Poesie, die Ralph Dutli in seinen Essays immer wieder beschwört, und die im Leser Mut und Lust weckt, selbst den Schritt hinaus aufs Wasser zu wagen.

besprochen von Georg Deggerich, Krefeld

Ralph Dutli: «Nichts als Wunder. Essays über Poesie». Zürich: Ammann, 2007.

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