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Nacht des Monats mit Marlis Solèr und Jean-Louis Villars

Nacht des Monats mit Marlis Solèr und Jean-Louis Villars

Ich habe ein schlechtes Gewissen: weil ich die Überquerung des Bergmassivs zwischen Bellinzona und Vogorno zeitlich etwas gar optimistisch eingeschätzt habe, bin ich viel zu spät angekommen – und musste Louis aus seinem wohlverdienten Schlaf reissen. Nur, damit er mir die Hütte aufschliesst. Es ist kurz nach 21 Uhr, stockdunkel und – bis auf das Meckern  einer Ziege – vollkommen ruhig. Der 69jährige Berglandwirt drückt mir den Schlüssel in die Hand und verabschiedet sich. «Wenn du hier schlecht schläfst, vermisst du vielleicht den Lärm und die Abgase der Stadt!», sagt Louis lachend. Bei ihnen würden alle geduzt, fügt er noch hinzu – verschwindet dann zwischen den Granithäusern in Richtung Bett. Und ich muss feststellen, dass die «Nacht des Monats» auf 1240 m Höhe genau dann aufhört, wenn sie in Zürich und anderswo noch nicht einmal begonnen hat.

Seit 1996 leben Jean-Louis Villars und Marlis Solèr an den südöstlichen Steilhängen des Pizzo di Vogorno. Zunächst suchten die Deutschschweizer – wie so viele andere – ein kleines ruhiges Feriendomizil in der «Sonnenstube». Die zugebauten Ufer des Lago Maggiore kamen hierfür nicht in Frage, auch das plakativ-populär-pittoreske Rustico mit Beton-Neubaugarage übte wenig Reiz auf sie aus. Nach einer Suche von fast fünf Jahren entdeckten sie die ehemalige Alpsiedlung Odro hoch über dem Verzascatal und erwarben eine der leerstehenden Hütten. Aus dem Ferienhaus wurde bald ein Berglandwirtschaftsbetrieb mit eigener Stromversorgung auf Basis von Sonnen- und Wasserkraft und mit rudimentär modernisierten Stallungen für Hühner, Ziegen – und für den Esel, der mich am nächsten Morgen wiehernd weckt. «Wir dachten: wieso eigentlich nicht ganz hinaufzügeln?», sagt Marlis beim Milchkaffee am Granittisch. «Die Leute unten, in den Städten, sind ja schon etwas komisch», meint Louis nachdenklich. «Es gibt im ganzen Tal nur noch einen einzigen Laden, eine Schule. Das ist nicht gesund.» Er schüttelt mit dem Kopf. «Dabei sind wir keine Hippies oder Aussteiger oder so etwas. Wir betreiben Alpwirtschaft, die auch Wanderern und Feriengästen offensteht.» Die prominentesten Besucher kamen Tessin-typisch einmal mehr aus Deutschland: die ARD gastierte 2008 mit etwa 20 Mitarbeitern mehrere Wochen in Odro und berichtete während der Europameisterschaft live von der Hüttenterrasse. «Da wurden stündlich deutsche Fussballer per Helikopter von Ascona heraufgeflogen», lacht Marlis. «Eine wilde Zeit.»

«Die Bergwiesen und der Weg aus dem Tal hinauf werden von uns wie auch vom Verkehrsverein gepflegt, eine beachtenswerte Aufgabe – und nebenher haben wir sogar ein kleines Museum eröffnet und es dem Museo di Val Verzasca als Schenkung vermacht.» Es befindet sich zehn Wanderminuten bergaufwärts in der ansonsten verlassenen Siedlung Sert, sein Grundriss misst nicht mehr als vier mal vier Meter. Bis in die Sechzigerjahre war das kleine Gebäude bewohnt, der Wildheuer hinterliess es intakt und ausgestattet. Louis und Marlis haben es lange Zeit nicht angetastet. Und bis heute hat sich an seinem ursprünglichen Zustand wenig geändert: ein verrusster Topf hängt an einem hölzernen Schwenkarm mit einer eingeritzten «1933» über kalter Asche, in einer Ecke stehen Putzmittel aus den 1950er Jahren, die Wände bieten Platz für allerlei Sicheln, Spaltäxte und Macheten. Das Inventar wurde vor wenigen Jahren katalogisiert, der kleine quadratische Bau ist Zeugnis des harten Lebens, das die Tessiner Wildheuer und ihre Familien bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts führten. Mit Berg- und Hüttenromantik hat das nichts zu tun: «Bis dort oben», Louis zeigt über die tief eingeschnittene Schlucht jenseits der Terrasse ins Unwegsame, «haben die Leute früher gelebt. Zwischen und unter den Felsen. Drei bis vier Stunden bis zum Dorf. Unvorstellbar.»

Als ich mich gegen Mittag von Louis und Marlis in Richtung Talboden verabschiede, teilen sie mir noch mit, dass sie sich altershalber kürzlich daran gemacht hätten, Nachfolger zur Bewirtschaftung von Odro zu suchen. «Wir haben eine über einen Kilometer lange Wasserleitung den Berg hinauf gelegt und eine Menge Geld in die Infrastruktur gesteckt – es wird also nicht ganz günstig!», winkt Louis lachend. Ich kann mir Odro gerade nicht leisten. Bis 20 Uhr nehmen Jean-Louis Villars und Marlis Solèr aber Anrufe von Interessenten entgegen. Später wird geschlafen.

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