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Im neuen Kalten Krieg ist die Schweiz Konfliktpartei
Pascal Lottaz, zvg.

Im neuen Kalten Krieg ist die Schweiz Konfliktpartei

Die Schweiz verhält sich im Ukrainekrieg militärisch neutral. Im grösseren strukturellen Konflikt hat sie sich jedoch von einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik verabschiedet.

Die zwei grössten Missverständnisse bezüglich der viel beschworenen Neutralität sind, dass sie entweder als ein isolationistisches Sichheraushalten aus internationalen Beziehungen oder als ein passives In-der-Mitte-Stehen zwischen Konfliktparteien gedacht wird. Beides wird dem Begriff nicht gerecht.

Die Logik der Neutralität in der internationalen Politik basiert auf einem multilateralen Souveränitätsgedanken: Ich (Staat) habe ein legitimes Interesse an guten Beziehungen zu befreundeten Staaten. Leider haben meine Freunde untereinander Streit. Schade. Ich werde meine Beziehung zu ihnen aber deswegen nicht verändern, sondern positioniere mich ausserhalb des Streites. Neutralität schafft also eine Dreiecksbeziehung mit Kriegsparteien. Dabei ist Neutralität (a) immer auf einen Konflikt gerichtet – nicht auf seine Parteien – und (b) ist sie immer Teil einer ganzen Konfliktkonstellation.1 Dies gilt vor allem für die «situative» (fallweise) Neutralität, die immer auf einen konkreten Krieg gerichtet ist.

Nicht ergebnisneutral

Das Neutralitätsrecht innerhalb des Völkerrechts ist für diese Art von Neutralität gebaut worden, weil bis zur Schaffung des Völkerbundes 1919 Krieg als legitimes Mittel der internationalen Politik betrachtet wurde – was im Umkehrschluss bedeutete, dass auch Neutralität ein legitimes Mittel zur Wahrung nationaler Interessen war. Die permanente Neutralität der modernen Schweiz (und anderer Staaten, die «Neutralität» im Sinne einer aussenpolitischen Maxime verwenden) unterscheidet sich davon. Sie stellt ein Versprechen dar, sich nicht nur je nach Situation neutral zu verhalten, sondern gegenüber allen potentiellen Konflikten der Zukunft neutral bleiben zu wollen.

«Die Schweiz hat eindeutig Stellung bezogen, indem sie die
Wirtschaftssanktionen der EU eins zu eins übernommen hat.»

Der Kern der Neutralitätslogik ist nicht, dass man sich aus allen internationalen Händeln heraushält, sondern dass man aktive Beziehungspflege betreibt, um mit allen Konfliktparteien auf gutem (oder zumindest annehmbarem) Fuss zu bleiben. Daher ist die Diplomatie von neutralen Staaten immer dann am stärksten beschäftigt, wenn Kriege oder internationale Konflikte herrschen. Es liegt in der Natur von Konflikten, dass alle Streitparteien versuchen, auf Neutrale Einfluss zu nehmen, damit diese sich auf ihre Seite schlagen – militärisch, ideologisch, wirtschaftlich und so weiter. Politische Neutralität in internationalen Beziehungen ist nämlich nie ergebnisneutral. Von der Nichteinmischung in einen Konflikt profitiert normalerweise die eine oder andere Seite mehr. China zum Beispiel wird von westlicher Seite vorgeworfen, Russland in seinem Angriffskrieg auf die Ukraine zu unterstützen, obwohl China schlicht seine Beziehungen zu Russland nicht verändert hat. Da die Nichteinmischung Pekings in den Krieg aber viel mehr Vorteile für den direkten Nachbarn Russland bietet als für die weit entfernte Ukraine, wird die chinesische (situative) Neutralität in diesem Konflikt von einigen westlichen Kommentatoren als parteiergreifend gewertet.2

Eine andere Implikation der Neutralitätslogik ist, dass jede Neutralität von der Natur des ihr zugrunde liegenden aktiven oder potentiellen Konfliktes abhängt. Das ist intuitiv einfach zu verstehen. In einem Wirtschaftskrieg bedeutet die umgangssprachliche «Neutralität», sich wirtschaftlich nicht zu positionieren. In einem ideologischen Konflikt bedeutet sie, sich ideologisch nicht auf eine Seite zu schlagen. In einem Krieg bedeutet sie, sich militärisch nicht einzumischen. Hierbei ist wichtig zu wissen, dass das Völkerrecht «Krieg» sehr eng definiert als militärische Auseinandersetzung. Neologismen wie «Wirtschaftskrieg», «Krieg gegen Drogen» oder «Krieg gegen Terror» sind dem Völkerrecht fremd. Das bestehende Neutralitätsrecht bezieht sich nur auf «heisse» Kriege zwischen oder innerhalb von Staaten, in denen geschossen wird. Analysieren wir die momentane Konfliktkonstellation in Europa aus dieser Perspektive, erhellt sich die Problematik für das Schweizer Neutralitätsverständnis.

Die Wahrnehmung ist klar

Es bestehen zurzeit zwei Konflikte in bezug auf die Ukraine. Einerseits sehen wir einen «heissen» Schusswechselkrieg mit Soldaten, Panzern und Raketen, in dem Russland und die Ukraine Kriegsparteien sind. Da das Neutralitätsrecht auf diesen Krieg direkte Anwendung findet, hat der Bundesrat beschlossen, sich so zu verhalten wie völkerrechtlich vorgeschrieben (unter anderem keine Waffenlieferungen an die Kriegsparteien). Andererseits besteht aber auch ein neuer «kalter» Konflikt zwischen Russland und dem – in Ermangelung eines besseren Wortes – «kollektiven Westen», der alle Nato-Mitglieder sowie andere Verbündete der USA (z.B. Japan, Taiwan oder Australien), aber auch die meisten neutralen Staaten Europas wie Irland, die Schweiz, Österreich oder Malta umfasst. In diesem neuen strukturellen Konflikt hat die Schweiz eindeutig Stellung bezogen, indem sie die Wirtschaftssanktionen der EU eins zu eins übernommen hat, inklusive reiner Symbolsanktionen wie der Sperrung des Schweizer Luftraumes für die russische Zivilluftfahrt. Dementsprechend ist die Schweiz zurzeit zwar nicht Kriegspartei im «heissen» Krieg, aber sie ist durchaus Konfliktpartei im sich entfaltenden «neuen Kalten Krieg».

Dies nimmt offensichtlich auch Russland so wahr, hat Moskau doch im August die Anfrage der Schweiz, für die Ukraine als diplomatische Schutzmacht in Russland wirken zu dürfen, mit der Begründung abgelehnt, es betrachte die Schweiz nicht mehr als neutral. Der Bundesrat kann sich lange auf die Position stellen, die Schweiz sei nicht Kriegspartei – was stimmt –, doch Russland geht es nicht um Neutralität im «heissen» Krieg, es geht um die Positionierung im «kalten» Grossmachtkonflikt mit der Nato. Hier hat die Schweiz am 7. September eindeutig Stellung bezogen, als sie ihr neues Sicherheitskonzept vorstellte, in dem sie klipp und klar festhielt, dass sie Sicherheitskooperation nur mit der Nato und der EU fördern will, was bis zu einer «Interoperabilität» mit Nato-Streitkräften gehen soll.3 Das ist zwar kein Bruch des Völkerrechts, aber eine sehr klare ideologische, wirtschaftliche und militärische Positionierung.4

«Andere Staaten der Welt verhalten sich im kalten Grossmachtkonflikt wesentlich neutraler als die Schweiz.»

Andere Staaten der Welt verhalten sich im kalten Grossmachtkonflikt wesentlich neutraler als die Schweiz. Serbien, das sich noch gut an die völkerrechtswidrige Nato-Bombardierung von 1999 erinnert, nennt sich seit 2007 «militärisch neutral». Belgrad strebt einen EU-Beitritt an, lehnt aber jede Nato-Mitgliedschaft strikt ab und bleibt auch in bezug auf die Russland-Sanktionen neutral. Die Mongolei, ein direkter Nachbar Russlands, nennt sich seit 2015 «neutral» und führt die Handels-beziehungen mit Moskau fort. Auch die ehemaligen Sowjetrepubliken Moldau und Turkmenistan bleiben bei ihren Grundsätzen «neutraler» Aussenpolitik.5 Die meisten Staaten in Südamerika, Afrika sowie Zentral- und Südostasien (inklusive China) nennen sich zwar nicht neutral, positionieren sich jedoch so. Grösstenteils verurteilten sie den russischen Angriffskrieg in der UNO und sprechen sich für einen schnellstmöglichen Waffenstillstand aus, haben aber keine Sanktionen gegen Moskau verhängt. Sie lassen sich grossmachtpolitisch weder von Russland noch vom «kollektiven Westen» in deren jeweilige ideologische Schützengräben ziehen und verharren in der momentanen Konfliktkonstellation auf ihren eigenen Positionen ausserhalb des Streits. Warum sollten sie sich auch einmischen, sind die Hauptakteure doch die Kolonialmächte, die diese Nationen vor wenigen Dekaden noch schamlos ausgebeutet und ausgeblutet haben? Wenn sich Europa wieder mal selbst zerfleischen will, darf es das gerne tun, aber bitte ohne die Unterstützung der vernünftigen bündnisfreien Welt. Die bleibt lieber richtig neutral.

  1. Pascal Lottaz: Neutrality Studies. In: Oxford Research Encyclopedia of International Studies, 2022. doi.org/10.1093/acrefore/9780190846626.013.680

  2. Zur chinesischen Neutralität im russisch-ukrainischen Konflikt siehe Yu Bin: Ukraine Conflict Déjà Vu and China’s Principled Neutrality. In: Comparative Connections, 24 (2022).

  3. Schweizerische Eidgenossenschaft. Zusatzbericht zum Sicherheits­politischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine ­(provisorische Fassung), 7.9.2022. http://www.admin.ch/gov/de/start/­dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90261.html.

  4. Dass der Bundesrat die Schweizer Neutralität nicht als «Gesinnungsneutralität» versteht, wird auch im neusten Postulatsbericht bestätigt. Siehe Schweizerische Eidgenossenschaft. Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik, 26.10.2022. http://www.newsd.admin.ch/newsd/­message/attachments/73615.pdf

  5. Für einen Überblick der Neutralität nach dem Kalten Krieg siehe Pascal Lottaz, Heinz Gärtner und Herbert R. Reginbogin (Hrsg.): Neutral beyond the Cold. Neutral States and the Post-Cold War International System.
    Lexington: Lexington Books, 2022.

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Der Völkerbundsrat an seiner 100. Sitzung im Januar 1938, dem Schicksalsjahr für die Schweizer Neutralität. Bild: United Nations Archives Geneva.
Als die Schweiz zur integralen Neutralität zurückkehrte

1938 stimmte der Völkerbund dem Antrag der Schweiz zu, von der differentiellen zur integralen Neutralität überzugehen. Die «Schweizer Monatshefte» feierten diesen Schritt, wenn auch zurückhaltend. Ein Auszug aus dem 84jährigen Originaltext.

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