Mit Sicherheit auf Abwegen
Zündet irgendwo im Westen ein Attentäter seine Bomben, gehen überall die Emotionen hoch – und die Diskussionen um «Freiheit und Sicherheit» los. Doch der Versuch, diese beiden Grössen gegeneinander abzuwägen, ist schierer Unsinn: Er unterhöhlt die Logik der Sprache genauso wie jene unserer Rechtsstaaten.
Seit Jahren wird in Europa ein vermeintlich rationaler Diskurs über die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit geführt. Keine öffentliche Diskussion, keine politische Rede, keine kritische Kolumne, die nicht von der scheinbaren Binsenwahrheit ausginge, man müsse ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden hehren Werten finden. Wie die Gewichtung ausfallen soll, wird durchaus unterschiedlich aufgefasst, weitaus weniger Zweifel bestehen darüber, dass die gegenwärtigen Entwicklungen im wesentlichen die Folge eines vernünftigen, wohlüberlegten Austarierens von gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen sind. Dem ist keineswegs so.
Schon die zwei Begriffe sind so unterschiedlich, dass sie eigentlich nicht in eine Gleichung gepresst werden können. Sicherheit ist ein Vorhaben, das – darüber sind sich alle einig – niemals zur Gänze verwirklicht werden kann. «Es gibt keine absolute Sicherheit», wird immer wieder betont, um die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zu dämpfen. Es handelt sich also bei Sicherheit stets um einen real existierenden, nicht behebbaren Mangel: Wir sind nicht sicher genug, es könnte mehr getan werden für unsere Sicherheit. Freiheit hingegen ist gemäss den Vorstellungen der Aufklärung, die uns vorgeblich als leuchtendes zivilisatorisches Vorbild dienen, ein Grundzustand. Der Mensch wird in die Freiheit hineingeboren, staatliche, religiöse und andere Zwänge schränken diese Freiheit zwar ein, aber «niemand kann sie uns nehmen, wenn wir es nicht zulassen». In der Staatskunde werden umständliche Theorien entwickelt, um zu erklären, wieso sich der Mensch trotz seiner freiheitlichen Verfasstheit den Diktaten des Staates zu beugen hat. In der Theorie ist Freiheit für uns weiterhin die Essenz des Individuums, Sicherheit hingegen ein gesellschaftliches Ziel, eines unter vielen. Insofern sind die beiden nicht miteinander vergleichbar, und die Forderung, das eine zugunsten des anderen einzuschränken, begrifflicher Unsinn. Aber was zählt schon die Philosophie, wenn der Terrorismus vor der Haustür steht.
In Wirklichkeit haben wir uns von den Idealen und Vorstellungen der Aufklärung weit entfernt. Anstelle von «Freiheit» und «Sicherheit» müssten wir ehrlicherweise von «Angst» und «Kon-trolle» sprechen. Nach den Anschlägen in Paris titelte die Wiener Tageszeitung «Der Standard»: «Freiheit braucht Sicherheit», ohne diese Losung in ihrer perfiden Logik durchzudeklinieren:
Freiheit braucht Kontrolle.
Freiheit braucht Belauschung.
Freiheit braucht Handschellen.
Mit anderen Worten:
Wir brauchen keine Freiheit.
Präziser und ehrlicher wäre die Formulierung gewesen:
Angst braucht Kontrolle.
Keine Überraschung, dass Politiker, Experten und Law-and-Order-Befürworter die Morde in Paris sofort instrumentalisierten, um ihre schon oftmals diskreditierten Behauptungen ein weiteres Mal zu dringlichen Forderungen nach mehr Sicherheitskompetenzen und -massnahmen zu schmieden.
Denn im Finanzkapitalismus ist keiner der humanen Aktivposten so dämlich, ein erfolgreiches Geschäftsmodell durch vernünftige oder gar idealistische Argumente zu gefährden. Laut einer Untersuchung von 20131 setzte der globale sicherheitsindustrielle Komplex in jenem Jahr 415,53 Milliarden US-Dollar um, Tendenz steigend: für 2018 wird ein Umsatz von 544,02 Milliarden US-Dollar vorausgesehen. Die Wachstumsraten sind somit – zumal in Zeiten schwerfälliger ökonomischer Expansion – atemberaubend. Und da Profit der Sauerstoff des herrschenden Systems ist, wird ein jeder von uns einsehen, dass wir unsere Luft nicht mit zu viel Freiheit verpesten sollten.
Folgerichtig werden die ansonsten so weitverbreiteten Qualitätskontrollen im Bereich der Sicherheit wenig bis gar nicht angewandt. Es existiert weiterhin keinerlei Methodologie, um zu überprüfen, ob die in den letzten Jahren eingeführten Kontrollmechanismen uns näher an das propagierte Ziel gebracht haben. In Zeiten, in denen jedes Lebensmittel detailliert in seinen ernährungsphysiologischen Komponenten beschrieben wird, genügt es, beim Thema «Sicherheit» von «verhinderten Anschlägen» zu raunen. Wenn Enthüllungsjournalisten solche Behauptungen genauer unter die Lupe nehmen, stellt sich heraus, dass es sich zum einen um wenige Einzelfälle handelt, die zum anderen meist durch Zufall oder althergebrachte Methoden der polizeilichen Arbeit aufgeklärt, wenn sie nicht gar massgeblich von V-Leuten der Sicherheitsorgane inszeniert wurden, wie schon mehrfach geschehen. Die Effizienz der antiterroristischen Programme wird nicht evaluiert, obwohl inzwischen eine Reihe von ehemaligen Mitarbeitern der Sicherheitsorgane und Geheimdienste (nicht zuletzt die NSA-Legende William Binney) die Frage gestellt haben, ob die allumfassende Überwachung nicht kontraproduktiv sei.
Rechtsstaatliche Prinzipien, die uns angeblich schützen, werden ausser Kraft gesetzt durch das Totschlagargument schlechthin: nationale Sicherheit! Jene, die sich anmassen, alles zu kontrollieren, unterliegen selber keiner Kontrolle. Transparenz ist der grösste Feind jener, die vorgeblich die Freiheit verteidigen. Völlige Anonymität seitens des Staates, völlige Transparenz beim Bürger lautet das Gebot der Stunde. Es gibt einen entscheidenden Denkfehler in diesem Legitimationskonstrukt. Wer ein derartiges Vertrauen in die positive Wirkung allumfassender Überwachung hat, der müsste diesen Weg konsequent zu Ende gehen, der müsste Nägel mit Köpfen machen, der müsste die Überwachung der Überwachenden veranlassen. Eine Paranoia, die selektiv vorgeht, ist keine Paranoia. Was liegt näher, als jenen zu misstrauen, die täglich vermeintliche Subversion bekämpfen und gelegentlich ihre Allmachtsphantasien (allen Geheimdiensten inhärent) ausleben, jenen also, die Paranoia als professionelle Kompetenz betrachten. Zumal ihr Verhalten – Geheimniskrämerei, Ausflüchte, Hinhaltetaktik – den Verdacht nährt, sie hätten selbst etwas zu verbergen, was wiederum gemäss der von ihnen postulierten Logik ihre Schuld beweist. Das ist weder ironisch noch scherzhaft gemeint. Wer den Geheimdiensten zugesteht, die Gesellschaft mit allen Mitteln zu überwachen, während diese wiederum nicht überwacht werden, der traut dem Staat mehr als dem Individuum, der hat das 20. Jahrhundert verschlafen, der ist von jener epidemischen Disposition namens Untertänigkeit.
Selbst wenn – wie etwa mehrfach in den USA geschehen – eindeutig rechtswidrige Praktiken aufgedeckt wurden (zum Beispiel das jahrelange Sammeln von Metadaten amerikanischer Bürgerinnen und Bürger im Inland durch die NSA), hat dies weder zu einer Bestrafung der Verantwortlichen noch zu einer Denkpause geführt. Im Gegenteil, das Programm wurde einfach fortgeführt. Im Reich der nationalen Sicherheit – das wissen wir schon seit längerem, spätestens seit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts – wiegen Schutzbehauptungen schwerer als rechtsstaatliche Prinzipien. Der Rechtsstaat ist nur eine potemkinsche Fassade, wie wir unlängst in Deutschland beim parlamentarischen NSA-Ausschuss erleben konnten. Geheimdienstler legten dem Ausschuss Anfang Februar «streng geheime» Informationen über eine «BND-Operation» aus dem Jahre 2013 vor, just an einem Tag, an dem die Sitzung öffentlich zugänglich war, worauf der BND-Präsident und der zuständige Staatssekretär Alarm schlugen, diese Informationen dürften keinesfalls an die Öffentlichkeit gelangen, was zu einem Abbruch der Sitzung führte. Prompt drohten die Briten am nächsten Tag, mit dem BND nicht mehr zu kooperieren. Entlarvend ist in diesem Zusammenhang eine Äusserung des Staatssekretärs Fritsche aus dem Jahre 2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss (wie kann man übrigens nach den ausgiebig dokumentierten Erkenntnissen dieses Ausschusses blind darauf vertrauen, dass die im Geheimen operierenden Sicherheitsbehörden unser aller Menschen- und Bürgerrechte schützen werden?). Fritsches Ultima Ratio lautete damals: «Das Staatswohl ist wichtiger als parlamentarische Aufklärung!» Gelegentlich wird die unverblümte Wahrheit ausgesprochen.
Es geht also nicht um Effizienz, weswegen der öffentliche Diskurs so sehr an den wesentlichen Aspekten des gegenwärtigen Paradigmenwechsels vorbeigeht. Es geht einzig und allein um eine administokratische Durchherrschung der Gesellschaft mit Hilfe der neuen Technologien. Ob aus behördlichem Selbstzweck (wie manch ein grauer Mann aus den geheimdienstlichen Katakomben zu Protokoll gegeben hat: «Wir müssen alle technischen Möglichkeiten nutzen können») oder aus der weisen Voraussicht, dass der soziale Frieden in Zeiten zusehends stärker wahrgenommener Ungleichheiten bald nur noch durch repressivere Massnahmen zu halten sein wird, sei dahingestellt.
Skizziert man diese Entwicklung vor halbwegs politisch interessierten Zuhörern, wird einem oft entgegengehalten, das möge wohl stimmen, aber trotzdem sei die persönliche Freiheit des einzelnen bei uns noch nicht eingeschränkt. Abgesehen von der Frage, wieso wir eigentlich darauf warten sollten, bis unsere Freiheiten perdus sind, bevor wir widerständig handeln, offenbart sich in solchen Reaktionen ein bedenkliches Desinteresse an den demokratischen Grundwerten. Für viele erschöpft sich Freiheit darin, dass sie nicht eines Morgens ohne Grund verhaftet werden. Die Behandlung der unschuldigen Bürger gilt ihnen als Lackmustest für den Zustand der freiheitlichen Gesellschaft, nicht der Umgang mit dem mündigen Bürger. Dass diese Unterscheidung nicht vorgenommen wird, lässt vermuten, dass der Freiheitswille bei den meisten von uns der erstbesten Rechtfertigung für die eigene Unterwürfigkeit den Vortritt lässt.
Es ist bekannt, dass Menschen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks noch Jahre, mancherorts sogar Jahrzehnte nach 1989 ins Flüstern fielen, wenn sie eine kritische Äusserung von sich gaben. Wie wird sich unser aller Verhalten ändern, wenn wir verinnerlicht haben, dass inzwischen auch das leiseste Flüstern erfasst und der Inhalt des Geflüsterten offengelegt werden kann? Wie gehen wir mit der volkstümlichen Weisheit um: «Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?», wenn uns bewusst wird, dass aufgrund von Surfverhalten im Internet, Aufenthaltsort, Lesegewohnheiten, Bibliotheksausleihe und vielem anderem mehr zumindest die thematische Ausrichtung der (eigenen) Gedanken, wenn nicht gar ihre Ausprägung sichtbar gemacht werden kann? Hören wir dann auf zu denken? Überwachung führt unweigerlich zu Selbstzensur, der elegantesten und effizientesten Form von Zensur, die es gibt. Indem der einzelne sich selbst kontrolliert, vermeidet er, dass Fremde in seinen Gedanken herumkramen. Fatal ist hierbei, dass er sich – nach erfolgreich durchgeführter Selbstregulierung – frei fühlt, weil ihm ja niemand etwas einredet, ihn niemand zu etwas zwingt. Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der die einzig verbliebene Privatsphäre in einer dunklen Ecke des eigenen Gehirns schlummert, so unhörbar wie uneinnehmbar, dass nicht einmal wir selbst uns sicher sein können, ob wir freie Gedanken tatsächlich hegen? Vom freien politischen Handeln ganz zu schweigen.
1 https://www.asdreports.com/market-research-report-57794/homeland-security-emergency-management-market