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«Es ist sehr einfach, die  Demokratisierung eines Landes von aussen zu fordern»
Lea Ypi. Bild: Guido Benschop/De Beeldunie/Laif

«Es ist sehr einfach, die
Demokratisierung eines Landes von aussen zu fordern»

Die Politikwissenschafterin Lea Ypi wuchs im stalinistischen Albanien der 1980er-Jahre auf. Sie fragt sich, ob moderne Technologien auch Demokratien immer autoritärer machen.

 

Frau Ypi: Wie sehen Sie heute den Diktator Enver Hoxha, der im kommunistischen Albanien liebevoll «Onkel Enver» ­genannt wurde?

Als Kind habe ich ihn geliebt, weil ich darauf indoktriniert worden war. Ich hatte auch keinen Grund zu glauben, dass unser Herrscher anders sein könnte als so, wie er mir in der Schule beschrieben wurde. Heute sieht das natürlich anders aus.

Wann genau hörten Sie auf, ihn zu lieben?

Der Wendepunkt war der Zusammenbruch des stalinistischen Systems im Dezember 1990: Als ich erfuhr, was meine Familie alles erlitten hatte, setzte bei mir rasch ein Umdenken ein. Viele unserer Verwandten hatten im Gefängnis gesessen oder waren umgebracht worden, weil wir ursprünglich der aristokratischen Schicht bürgerlicher Grundbesitzer angehört hatten.

Ihr Familienname verfolgte Sie im Alltag.

Meine Familie kam nicht aus der Arbeiterklasse und niemand hatte am Befreiungskrieg gegen Mussolinis Truppen teilgenommen, was im Kommunismus zu jenen Dingen ­gehörte, die eine Biografie als gute Biografie auszeichneten. Keiner von uns wies Bonuspunkte auf. Während der Besetzung des Landes durch die italienischen Faschisten war mein Urgrossvater sogar albanischer Ministerpräsident gewesen. Seinen Namen zu tragen bedeutete, dass meine Familie in einer kommunistischen Gesellschaft keine Entfaltungsmöglichkeiten hatte.

Wie schwierig war es für Ihre Eltern, Vertrauen zu Nachbarn und Bekannten aufzubauen?

Für meine Eltern war dies tagtäglich ein mühseliger Prozess, für mich als Kind war das damals jedoch überhaupt nicht ersichtlich – ich habe gar nicht realisiert, dass meine Eltern ihre Beziehungen so sorgfältig durchleuchten mussten. Manchmal war die Frage, wem man vertraute und wem nicht, nicht biografisch vorbestimmt: Viele Leute mit einem ähnlichen sozialen Hintergrund wie meinem wurden nach einem Gefängnisaufenthalt zu Spionen. Manchmal war es für meine Eltern deshalb einfacher, einem Nachbarn zu vertrauen, der zwar bekennender Kommunist war, gleichzeitig aber auch ein netter Mann, der seine Bekanntschaften nicht in Schwierigkeiten bringen würde.

Wie war es für Sie als Kind, im stalinistischen Albanien ­aufzuwachsen?

Aus persönlicher Sicht lebte ich in einem liebevollen Umfeld, umgeben von Menschen, denen ich vertraute. Es war eine relativ sichere Kindheit, die jedoch von der allgemeinen Knappheit und Isolation des Landes geprägt war. Im Kommunismus herrschte der Glaube, dass Verzicht im ­Namen eines grösseren Ideals nötig sei. Dienstleistungen waren nicht erwerbbar: Wenn man etwas brauchte, konnte man nicht einfach ein Unternehmen beauftragen, das die Arbeit für einen erledigte. Es ging in der albanischen Gesellschaft immer darum, wen man kannte, wem man vertraute und wen man um Hilfe bitten konnte, wenn das Bad beispielsweise einen Wasserschaden hatte. Der Alltag war gekennzeichnet von langen Warteschlangen, in denen man sich darauf verlassen musste, dass man seinen Platz vorübergehend von Bekannten reservieren konnte. Die Leute sehnten sich nach den Waren aus dem Westen und träumten davon, auf der anderen Seite der Adria zu leben.

Was bedeutete der Westen für Sie?

Ich verband ihn mit Zeichentrickfilmen. Das albanische Fernsehprogramm war sehr begrenzt, Kinderprogramme gab es nur etwa 15 Minuten am Tag. Wenn man etwas anderes sehen wollte, musste man auf das italienische oder auf das jugoslawische Fernsehen setzen. Die albanischen Empfänger erreichten nur harmlose Programme aus dem Ausland – jedes Mal, wenn die italienischen Nachrichten anfingen, wurde die Verbindung unterbrochen. Wir sahen uns jedes Jahr feierliche Veranstaltungen wie das Sanremo-Festival oder den Eurovision Song Contest an. Italien war für uns eine Welt des Wohlstands: Es war klar, dass die Italiener viele Dinge hatten, die uns fehlten. In albanischen Kinderzeitschriften wurde dieses Bild instrumentalisiert: Man brachte uns Kindern bei, dass der Wohlstand in anderen Ländern nicht allen zugänglich sei – anders als bei uns, wo alle gleich wären.

«Selbst in ideologisch durchdrungenen

und repressiven Gesellschaften gibt

es etwas am Menschen,

das ihn nach einem freieren

Zustand streben lässt.»

Was beeinflusste die Sichtweise Ihrer Eltern?

Wie ich später herausfand, suchten meine Eltern ständig nach Zeichen, die einen Zusammenbruch des Systems anzeigen könnten. Sie waren zum Beispiel völlig besessen von Johannes Paul II., dem ersten nichtitalienischen Papst seit 1523. Für sie war die Wahl eines Polen ein Signal, dass sich in den Beziehungen zwischen Ost und West etwas ­ändern würde. Die Hinrichtung Ceausescus war für sie ebenfalls eine grosse Sache: Sie war für sie der Beweis, dass das System selbst in einem Land, das völlig unter der Knute ­eines totalitären Diktators stand, zusammenbrechen konnte. Wenn das Ende des Kommunismus in Rumänien möglich war, schien es auch für Albanien Hoffnung zu ­geben.

Ihre Mutter sehnte sich nach dem, was wir heute negative ­Freiheit nennen – die Abwesenheit von Zwang. Sie kritisieren in Ihrem Buch diese Auffassung. Was hat Ihre Mutter an der Freiheit missverstanden?

Ich glaube, dass sie einfach eine unvollständige Vorstellung von Freiheit hatte. Die Art von Freiheit, die sie sich wünschte, war die, die es in Albanien während des Kommunismus nicht gab. Im Grunde bekam meine Mutter nach 1990 die Freiheit, die sie vermisst hatte: Sie wollte Eigentum, Rede- und Versammlungsfreiheit und erhielt all dies. Mein Vater war da etwas anders. Er hatte eine soziale Vorstellung von Freiheit: Für ihn konnte eine Gesellschaftsstruktur die Freiheit einschränken, auch wenn man nicht auf einen bestimmten Akteur verweisen kann.

Unfreiheit gibt es also nicht nur in Diktaturen?

Lassen Sie mich dies anhand eines Beispiels erklären: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde mein ­Vater Direktor des Hafens in Durrës. Als Vorgesetzter musste er Strukturreformen durchpauken, zahlreiche seiner Mitarbeiter verloren so ihren Arbeitsplatz. Aber hatte mein Vater überhaupt eine Wahl? Westliche Berater sagten ihm, dass es keine Alternativen gäbe, dass «der Markt» diese Reformen erfordere. Ihm wurde gesagt, dass Albanien, wenn es die Kosten und die Schulden ehemaliger Staatsunternehmen nicht drastisch abbauen würde, als gescheiterte Volkswirtschaft enden würde. Mein Vater war der Vollstrecker eines Willens, der sich nicht konkret auf einen einzelnen Akteur zurückführen liess. Im Gegensatz zu meiner Mutter hatte mein Vater eine robustere, positivere Vorstellung von Freiheit: Er träumte von der Freiheit, sich zu entfalten, und einem erfüllten Leben mit Chancen für sich und seine Kinder.

Sie schreiben, dass Ihr Vater seine Vorstellung von Freiheit nie wirklich verwirklicht sah. Gibt es denn ein System, das ihn zu einem freien Menschen machen könnte?

Ich glaube ja, bin mir aber nicht sicher, ob die Menschheit dieses System jemals verwirklicht hat. Ich denke, es wäre ein System, in dem man Politik, Wirtschaft sowie sämt­liche sozialen Beziehungen so demokratisiert, dass alle ­Akteure die Kontrolle über die eigene Lebensform haben.

«Demokratisieren»? Eine Kollektivierung der Wirtschaft also?

Ich glaube nicht, dass vollständige Freiheit im Kapitalismus möglich ist. In kapitalistischen Gesellschaften wird man von jenen Regeln beherrscht, die meinen Vater betrübt haben. Diese Regeln zielen nicht darauf ab, jedem die Kontrolle zu geben, sondern erstreben eine Lebensform, die dem grossen Ganzen möglichst viel Reichtum liefert. Das bedeutet für den einzelnen nicht Kontrolle, ganz im Gegenteil: Es bedeutet Laisser-faire, Loslassen.

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Freiheit und Staat?

In der allgemeinen politischen Theorie ist der Staat eine kollektive Institution, die eine Struktur für die Zusammenarbeit bietet – eine Art Gesellschaftsvertrag, der das Überleben aller garantiert. In der Realität möchte man vielleicht jedoch mehr vom Staat als nur den Schutz des Überlebens: Ein monarchischer oder diktatorischer Staat könnte Sie auch davor schützen, nachts von Ihren Nachbarn umgebracht zu werden. Der Übergang zum demokratischen Staat bedeutet das Errichten einer Institution, die alle vertritt. Mein Ideal wäre eine Welt voller demokratischen Staaten – leider liegt diese Wunschvorstellung in der Realität noch fern.

«Je mehr Zensur es gibt,

desto grösser ist die Sehnsucht

nach ­alternativen Informations­quellen.»

Wie kann sie verwirklicht werden?

Wenn sich Liberale mit totalitären Systemen auseinandersetzen, halten sie eine unterdrückte Bevölkerung oftmals für ein Opfer, das durch ihre jeweilige Regierung einer ­Gehirnwäsche unterzogen worden sei und keinerlei Handlungsfähigkeit hätte, um über das eigene Schicksal zu entscheiden. Mit dieser Vorstellung geht der paternalistische Anspruch einher, es besser zu wissen, was dazu führt, dass man von oben herab die Umsetzung bestimmter Dinge verlangt und dabei lokale Kenntnisse und das Bewusstsein für den Kontext völlig ausser Acht lässt. Es ist sehr einfach, die Demokratisierung eines Landes von aussen zu fordern. Ich glaube aber nicht, dass Demokratie etwas ist, das andere herbeiführen können – die Bevölkerung eines Landes muss für sich selbst aktiv nach ihr suchen, damit die Demokratie zum Teil des eigenen nationalen Selbstverständnisses wird. Andernfalls bleiben die Landesinstitutionen unstabil und anfällig.

Erkennen Sie solch ein inneres Streben nach Demokratie in ­Ländern wie China?

Von aussen betrachtet wirken totalitäre Länder immer so, als würde sich dort nie etwas tun: Das Leben der Menschen wird kontrolliert, niemand scheint den Mut zu haben, Veränderungen anzustossen. Mit meiner Geschichte über ­Albanien wollte ich jedoch zeigen, dass es auch in einem totalitären, repressiven Land innere Handlungsfähigkeit und Gefühlswelten gibt. Je mehr Zensur es gibt, desto grösser ist auch in jenen Ländern die Sehnsucht nach alternativen Informationsquellen. Es ist von Vorteil, über politische Institutionen und Strukturen zu verfügen, die es einem ­ermöglichen, seine innere Stimme zu kanalisieren. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Menschen in autoritären Staaten unfähig zur Kritik seien.

Verstärken neue technische Hilfsmittel die Unterdrückung noch, da sie das innere Streben nach Freiheit brechen können?

Aus philosophischer Sicht bin ich der Meinung, dass Freiheit ein Teil des rationalen Bewusstseins und des Menschseins ist. Wenn Sie jemand sind, der über Vernunft und ­kritische Fähigkeiten verfügt, zeigt sich Ihre Freiheit in ­Ihrer Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen – selbst wenn die ideologische Struktur gegen Sie arbeitet. Historisch ­gesehen hat es in jeder Gesellschaft herrschende Mächte und Prozesse gegeben, die versucht haben, die Menschen vollständig zu unterwerfen, zu manipulieren und zu kon­trollieren. Aber es gab immer auch gegenhegemoniale Kräfte innerhalb dieser Gesellschaften. Selbst in ideo­logisch durchdrungenen und repressiven Gesellschaften gibt es etwas am Menschen, das ihn nach einem freieren Zustand streben lässt.

Was meinen Sie, wie Ihre ­Erfahrungen in Albanien mit ­modernen technischen ­Hilfsmitteln ausgefallen wären?

Das ist schwierig zu sagen. In Albanien war der Über­wa­chungsapparat schon ziemlich umfangreich. Autoritäre Systeme verwenden zur Kontrolle immer die zur Verfügung stehenden Mittel und sind darin sehr gut. Interessant finde ich in dieser Hinsicht folgende Frage: Wird der Westen diesen autoritären Gesellschaften nicht immer ähn­licher, je mehr diese Technologien Teil unseres Lebens werden? Ich habe neulich von jemandem gelesen, dem ein Job verweigert wurde, weil er etwas auf Facebook gepostet hatte. Was macht moderne Technologie mit liberalen Gesellschaften? Diese Frage haben wir noch nicht gründlich beantwortet.

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