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Der Schlüssel liegt in Brüssel
Linda Maduz. Bild: www.cis.ethz.ch.

Der Schlüssel liegt in Brüssel

Mit dem Aufstieg Chinas droht die Schweiz in einem veränderten geopolitischen Umfeld in die Bedeutungslosigkeit abzusinken. Um ihren Einfluss zu wahren, braucht sie Partner.

 

Die neue China-Strategie, die der Bundesrat im März 2021 ­verabschiedet hat, gibt einen umfassenden Überblick über die sich intensivierenden schweizerisch-chinesischen Beziehungen, einschliesslich der damit verbundenen Herausforderungen. Wenig thematisiert werden allerdings die sich verändernde geopolitische Grosswetterlage, in die sich die bilateralen Beziehungen einbetten, und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Schweiz. Wie andere Klein- und Mittelmächte ist die Schweiz von der zunehmenden Schwächung der multilateralen Ordnung und der wachsenden US-chinesischen Rivalität negativ betroffen. Eine klare aussenpolitische Positionierung im neuen geopoli­tischen Umfeld würde die internationale Stellung der Schweiz stärken – auch gegenüber Peking.

Rückkehr der Geopolitik

Das geopolitische Umfeld ändert sich so rasant und grundlegend wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die Beziehungen zwischen den Grossmächten bestimmen wieder vermehrt die internationale Ordnung. Mit der «Rückkehr der Geopolitik» einher geht die Schwächung multilateraler internationaler Organisationen.1 In der neu entstehenden Ordnung ist die Machtverteilung zunehmend multipolar. Die USA als führende Weltmacht des 20. Jahrhunderts und Herausforderer China stehen sich darin als dominierende Mächte gegenüber.

Chinas Aufstieg zur Weltmacht fordert das bestehende internationale Gefüge heraus. Seit 2010 ist China die zweitgrösste Volkswirtschaft hinter den USA und zeigt seit Xi Jinpings Machtübernahme als Staatschef 2013 auch politischen Führungs- und Gestaltungswillen. Einerseits sucht China die Integration in existierende multilaterale Organisationen und möchte diese im eigenen Interesse um- und mitgestalten, zum Beispiel durch mehr Mitsprache in der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Andererseits hat China angefangen, neue multilaterale ­Institutionen zu lancieren. Prominentes Beispiel ist die 2015 auf Pekings Initiative gegründete Asiatische Infrastruktur-Investi­tionsbank. Solch alternative multilaterale Strukturen verstärken den globalen Trend der politischen Zersplitterung, wo begrenzte und regionale Strukturen (G20, BRICS, ASEAN, EU etc.) gestärkt und offene, weltumspannende Strukturen wie die der UNO geschwächt werden.

Eine Weltordnung, in der die Führungsrolle der USA ab- und diejenige Chinas zunimmt, verspricht weniger liberal und offen, weniger global ausgerichtet und weniger regelbasiert zu werden. In Übereinstimmung mit dem autoritären, illiberalen Charakter des Regimes, das unter Xi noch stärker repressive Züge annahm, versucht Peking in internationalen Foren wie der UNO Einfluss auf Themen und Agenden zu nehmen und sie mit eigenen, illiberalen Vorstellungen von Menschenrechten, Cybersicherheit und Terrorismus zu prägen. Dass China bestehende Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit teilweise direkt und offen herausfordert, untermauert es in seiner unmittelbaren Nachbarschaft in Asien, wo Peking unter anderem an seinen von einem internationalen Schiedsgericht 2016 für unrechtmässig erklärten historischen Gebietsansprüchen im Südchinesischen Meer festhält – mit Seemanövern, Verwaltungsordnungen und künstlichen Inseln.

Seit 2018 tragen die USA und China ihre Rivalität immer offener aus und erhöhen den Druck auf Drittstaaten. Was unter der Trump-Regierung als Handelskonflikt mit US-Strafzöllen auf ­chinesische Produkte begann, entwickelte sich schnell zu einem Konflikt um globale Vormachtstellung und Technologieführerschaft. Die neue US-Regierung unter Präsident Biden deutet die Grossmächterivalität zwischen den USA und China nun verstärkt in einen Systemkonflikt um, in dem sich Demokratien, angeführt von den USA, autoritären Staaten wie China und Russland gegenübersehen. In diesem geopolitischen Umfeld wird der Raum für unabhängige, neutrale Positionen kleiner.

«Die Verschränkung zwischen Wirtschaft und Politik innerhalb des

chinesischen Staates stellt andere Länder vor

grosse Herausforderungen im Umgang mit China.»

Für Europa bedeuten die geopolitischen Verschiebungen einen relativen Bedeutungsverlust. Das wirtschaftliche und politische Gewicht Chinas, aber auch weiterer asiatischer Länder wie Indien und Indonesien wird in Zukunft weiterwachsen. Die USA werden folglich noch mehr politische Aufmerksamkeit und Ressourcen in den asiatischen Raum verlegen. Gleichzeitig haben sich neue Unsicherheiten in die transatlantischen Sicherheits­beziehungen eingeschlichen, wie die Diskussionen zur Zukunft der Nato verdeutlichen. Vor diesem Hintergrund demonstriert die EU den politischen Willen, einen eigenen dritten Pol neben den USA und China zu bilden.

Pekings Grossmachtstreben

Anders als die Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges tritt das aufstrebende China nicht mit einem weltrevolutionären Anspruch an, propagiert aber im Wettbewerb der Systeme aktiv das «China-Modell» als Alternative zum westlichen Modell. China will Vorbild für andere Länder, insbesondere Entwicklungs- und Schwellenländer, sein. Im China-Modell kommt dem Staat die zentrale Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes zu. Es verspricht effiziente, technokratische Lösungen und Ergebnisse, die bei den Menschen ankommen und ihren Lebensstandard verbessern. Dabei stellt es sozioökonomische Entwicklung und politische Stabilität über politische Rechte und unternehmerische Freiheiten. Die Aussicht auf schnelles Wirtschaftswachstum in Kombination mit kontrollierten, stabilen politischen Verhältnissen macht das China-Modell besonders für Entwicklungs- und Schwellenländer attraktiv.

Xi ist 2013 mit dem Versprechen angetreten, Chinas zentrale Position in der internationalen Ordnung wiederherzustellen.2 Ein weiteres Versprechen Xis ist die Sicherung der Führungsrolle der Kommunistischen Partei. Diese interne Logik des Machterhalts prägt auch Chinas Aussenpolitik. Kritik an China, etwa hinsichtlich der Pandemiebekämpfung oder der Menschenrechtslage im Land, stellt die Legitimität des Regimes in Frage. Die Liste der ­Länder, die deswegen von Peking mit wirtschaftlichen Boykott- und Blockademassnahmen abgestraft werden, wird zunehmend länger.

Während Chinas Handeln an seinen (süd)östlichen Grenzen von Souveränitäts- und Sicherheitsfragen, einschliesslich der Taiwan-Frage, geprägt ist, dominiert an der westlichen Grenze die wirtschaftliche Logik. Peking lancierte 2013 die Belt-and-Road-­Initiative (BRI). Das Ziel des Vorzeigeprojekts ist es, mit Investitionen in Infrastruktur die wirtschaftliche Entwicklung und damit die politische Stabilität der wirtschaftlich unterentwickelten ­Gebiete im Westen des Landes und den angrenzenden Nachbarländern zu fördern. Durch ihren netzwerkartigen, wenig institutionalisierten Charakter bleibt die BRI anpassungsfähig und flexibel – inhaltlich («green», «health», «digital») wie auch geografisch; bis auf Nordamerika schliesst die BRI alle Weltregionen mit ein.

Die Verschränkung zwischen Wirtschaft und Politik innerhalb des chinesischen Staates stellt andere Länder vor grosse ­Herausforderungen im Umgang mit China. Im Konflikt um die ­(5G­-­)­Technologie von Huawei und bei Bedenken bezüglich chinesischer Direktinvestitionen in strategische Sektoren westlicher Länder, wie sie im vergangenen Jahrzehnt verstärkt getätigt wurden, geht es letztlich um die Grundfrage der Rolle des Staates und seiner Einflussnahme auf Unternehmen. Die USA bezeichnen Huawei als Gefährdung für die nationale Sicherheit und warnen vor möglicher Spionage und Sabotage bei Benutzung seiner Technologie. Dabei geht es natürlich auch um wirtschaftliche Konkurrenz und Abhängigkeiten sowie Technologieführerschaft: Huawei konnte dank staatlicher Unterstützung zu einem global führenden Anbieter von Informationstechnologie und Telekommunikationslösungen werden.

Die zentrale Rolle des Staates und staatlicher sowie staats­naher Unternehmen in der Wirtschaft färbt letztlich auch die ­Diskussionen zur BRI. Die Initiative, die in Europa im Nachgang der Wirtschaftskrise 2008 zunächst mit offenen Armen empfangen wurde, wird heute skeptischer gesehen. In der Kritik stehen die starke Verschuldung und die daraus folgende Abhängigkeit teilnehmender Länder, nicht eingehaltene Sozial- und Umweltstandards sowie mangelnde Transparenz bei Ausschreibungen der Infrastrukturprojekte.

Bei der EU und den grossen europäischen Ländern fand ab 2019 ein strategisches Umdenken im Umgang mit China statt. Brüssel sieht in Peking nicht mehr nur einen Partner und wirtschaftlichen Konkurrenten, sondern auch einen Systemrivalen. Der EU kommt in Europa eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Instrumenten und Hebeln im Umgang mit China zu. Dazu ­gehören etwa eine EU-weite Koordination bei Investitionskon­trollen, das Investitionsabkommen EU–China oder die Sanktionen gegen China aufgrund der Menschenrechtsverletzungen in der Provinz Xinjiang. Die einzelnen europäischen Länder erlangen durch EU-weit abgestimmte Lösungen und Vorschläge grösseres (Verhandlungs-)Gewicht gegenüber Peking.

Die Schweiz verharrt in traditionellen Ansätzen

In der Vergangenheit lag der Fokus der Schweiz in den Beziehungen zu China auf den wirtschaftlichen Chancen. Sie versuchte dabei konsequent und frühzeitig Möglichkeiten zu nutzen, beispielsweise mit einem Freihandelsabkommen (2014), einer innovativen strategischen Partnerschaft (2016) oder einer Absichtserklärung im Kontext der BRI (2019). Aspekte wie Menschenrechte, sicherheitspolitische und übergeordnete politische Fragen wurden dabei zurückgestellt. Mit Chinas neuer starker Stellung in der Welt und den damit verbundenen politischen Reaktionen aus den USA und der EU stellen sich solche zurückgestellten Fragen nun aber drängender.

Der Bund anerkennt und beschreibt in der China-Strategie Veränderungen im geopolitischen Umfeld, hält in seiner Aussenpolitik aber letztlich an traditionellen Ansätzen fest. Die Schweizer Aussenpolitik soll weiterhin eigenständig und universell ­ausgerichtet sein. Die China-Strategie definiert die Schweiz als neutrales Land, das keinem Block zugehörig ist und mit China eine ­Zusammenarbeit in allen Bereichen anstrebt, in denen Interessen bestehen. Damit knüpft die Schweiz an ihre aussenpolitische Tradition während des Kalten Krieges an, die unpolitisch und ­«bewusst aussenwirtschaftlich dominiert» war.3

Die neue China-Strategie enthält aber auch Elemente einer aktiveren, idealistischeren Aussenpolitik, wie sie die Schweiz ab den 1990ern bis in die 2010er Jahre hinein verfolgte – einer Aussenpolitik, die die internationalen Entwicklungen widerspiegelte. Gemäss der China-Strategie möchte die Schweiz für ihre lang­fristigen Interessen und Werte einstehen, einschliesslich einer ­liberalen Wirtschaftsordnung, individueller Grundrechte, Rechtsstaat und Demokratie, und sich dafür verstärkt mit «gleichgesinnten Partnern» abstimmen. Die oft «deckungsgleichen» Werte und «ähnlichen Positionen» mit denjenigen anderer europäischer Staaten und der EU werden dabei hervorgehoben.

Trotz der klaren Positionierung zu europäischen Ländern und der EU in der China-Strategie, wo diese als wichtigste Partner beschrieben werden, tut sich die Schweiz in Realität schwer damit, ihr Verhältnis zur EU zu klären – dies schwächt die internationale Stellung der Schweiz in einem zunehmend politisierten internatio­nalen Umfeld. Die innenpolitische Blockade, die sich in den Verhandlungen um das Rahmenabkommen mit der EU erneut zeigte, verunmöglicht offene Debatten zur Zukunft der Schweizer Aussenpolitik und erschwert somit strategische Lösungen mit langfristigem Blick.

Der Schweiz fehlt es heute an langfristigen aussenpolitischen Visionen und Partnerschaften – beides wäre angesichts des sich schnell wandelnden, zunehmend instabilen und polarisierten geopolitischen Umfelds aber zentral. Das Land gehört traditionell keinem fixen Handels- oder politischen Block an und sucht auch oder gerade innerhalb Europas eine unabhängige Position. Während des Kalten Krieges ermöglichte ihr diese Position eine erfolgreiche Nischendiplomatie, die die Blöcke tolerierten. Heute ist die Ausgangslage angesichts eines immer weniger geeinten politischen Westens und der fortgeschrittenen europäischen Inte­gration allerdings eine grundlegend andere. Die internationale Polarisierung und die relative Geschlossenheit der EU-Länder (auch gegenüber Peking) schwächt die vermeintlich unabhängige Stellung der Schweiz im internationalen Umfeld.

Ein Weitermachen wie bisher, das die derzeitigen grossen geopolitischen Verschiebungen ausblendet und starke Partnerschaften mit dem europäischen Umfeld nicht zulässt, kann für die Schweiz langfristig ein Abdriften in die politische Irrelevanz bedeuten, in der sie keinen Einfluss auf globale Normen und Standards ausüben kann – auch nicht in für sie zentralen Bereichen. Sinnbildlich in diesem Zusammenhang waren der Rückzug eines aussichtsreichen Schweizer Kandidaten für den Posten des OECD-Generalsekretärs Anfang 2021 – mangels Unterstützung aus den EU-Ländern – sowie die Nichtwiederwahl des schweizerischen OSZE-Generalsekretärs 2020, bei der die Polarisierung der euro-atlantischen Sicherheitspolitik eine Rolle spielte.

Chancen für vermittelnde Rolle

Welche Gestaltungsmöglichkeiten hat die Schweiz heute? In den 1970er Jahren nahm die Schweiz im Rahmen der Konferenz für ­Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, später OSZE) schon einmal erfolgreich in einem hoch politisierten und konfrontativen internationalen Umfeld eine aktive aussenpolitische Rolle wahr, und zwar in den zweijährigen Verhandlungen sowie im Beschluss der Schlussakte von Helsinki im Sommer 1975, in der sich der Westen und der Ostblock auf Prinzipien für eine «fried­liche Koexistenz» und eine geregelte und definierte internationale Zusammenarbeit einigten.

Im derzeitigen US-chinesischen Konflikt könnten Drittstaaten ebenfalls eine vermittelnde Rolle spielen, um möglichst schnell einen Zustand der Stabilität zu erzielen, wie er im Ost-West-Konflikt ab Mitte der 1970er Jahre möglich wurde. Typischerweise halten Klein- und Mittelmächte wie die Schweiz Stabilität und Ordnung als übergeordnetes Ziel hoch. Die Mittel zur ­Erreichung dieses Ziels müssen allerdings immer dem geopolitischen Kontext angepasst werden. Die internationale Vermittlungstätigkeit etwa, auch diejenige der Schweiz, findet heute vermehrt im Rahmen internationaler Organisationen statt. Strategische Partnerschaften und breite politische Akzeptanz innerhalb multilateraler Institutionen wie der UNO, aber wegen deren zunehmenden Schwächung eben auch in bilateralen Beziehungen zu Ländern und Organisationen werden in Zukunft die inter­nationale Position eines Staates einschliesslich seiner Handlungsfähigkeit als Vermittler stärker bestimmen.

Auch heute wäre eine aktivere aussenpolitische Rolle im Interesse der Schweiz. Dafür sollte sie, wie es ihr am Ende des Kalten Krieges gelang, schnell auf die geopolitischen Änderungen reagieren und sich dabei nicht von innenpolitischen Dilemmas und ­Tabus einschränken lassen. Eine starke, geregelte Beziehung zur EU und den europäischen Nachbarstaaten ist im heutigen geo­politischen Umfeld eine Bedingung, kein Hindernis für eine aktive, unabhängige Aussenpolitik der Schweiz.

  1. G. John Ikenberry: The Future of Multilateralism: Governing the World in a Post-Hegemonic Era. In: Japanese Journal of Political Science 16:3, September 2015, S. 399 –413.

  2. Dirk Schmidt: Die Aussenpolitik der Volksrepublik China. In: Die Volksrepublik China – Partner und Rivale. Hrsg. von Jürgen Kerwer und Angelika Röming. ­Wiesbaden: Hessische Landeszentrale für politische Bildung, 2018, S. 107–148.

  3. Christian Nünlist: Umdenken der neutralen Schweiz. In: Aussenpolitik mit Autokratien. Hrsg. von Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider. Jahrbuch Internationale Politik 30. Berlin: de Gruyter, 2014, S. 246–255.

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