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Lehren aus der Intifada

Die Zweite Intifada ist faktisch zu Ende. Nachhutgefechte wird es weiter geben, Blut wird weiter fliessen. Der Autor versucht ein erstes militär- und nahosthistorisches Fazit, in dem er seine Meinung darlegt, dass die Strategie asymmetrischer Kriegführung für die Palästinenser nicht aufgegangen ist.

Der Intifada-Aufstand war ein Krieg. Die beste und knappste Definition des «Krieges» gab Carl von Clausewitz: «Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf, […] ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.» Am Anfang steht der Wille. Gewalt, Krieg ist dessen Instrument. Drei Arten dieses Gewalt-Instruments sind von politisch-militärischer Bedeutung: der herkömmliche grosse Krieg, der Kleinkrieg («Guerilla») und der Terror. Wozu diese Begrifflichkeit? Sie ermöglicht Sachlichkeit, denn sie ist nicht normativ, also bewertend, sondern analytisch, also beschreibend. Die grundsätzliche, innere Ablehnung von Gewalt dürfen Leser und Autor wechselseitig voraussetzen. Bekehrte müssen einander nicht nochmals bekehren; es werde nicht missioniert, sondern analysiert.

Die Palästinenser haben den Intifada-Krieg begonnen, weil sie meinten, ihn beginnen zu müssen. Propagandi-stisch erfolgreich etikettierten sie den Kriegsanlass (besser: Kriegsvorwand) als Kriegsursache: den Besuch des damaligen israelischen Oppositionsführer Scharon auf dem Jerusalemer Tempelberg am 28. September 2000. Erfolglos versuchte noch am selben Tag Israels Ministerpräsident Barak die vorgegebene Kriegs«ursache» politisch zu entschärfen, indem er verkündete, sein Land sei bereit, Jerusalem faktisch aufzuteilen und den Palästinensern auf dem Tempelberg Hoheitsrechte zuzugestehen. Vergeblich. Der Krieg, die Zweite Intifada, begann.

Die Palästinenser haben diesen Krieg militärisch und politisch verloren, Israel hat ihn militärisch gewonnen und dabei mehr politisches Terrain erobert, als beim Ausbruch der Kämpfe im September 2000 zu erwarten war. Israel hat gewonnen, aber nicht gesiegt. Die Palästinenser haben verloren, aber sind nicht besiegt.

Wie bei und erst recht nach jedem Krieg dominiert nun wieder die Politik, wenngleich die Intifada, wie jeder Krieg, «ein wahres politisches Instrument» war, «eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit andern Mitteln», denn «die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg ist das Mittel, und niemals kann das Mittel ohne Zweck gedacht werden» (Carl von Clausewitz, «Vom Kriege», Erstes Buch, Erstes Kapitel, Abschnitt 24).

Übertragen auf die Intifada: Terror, die Vielzahl der Schreckenstaten gegen ganz und gar unbeteiligte Zivilisten im «Feindesland» Israel, war in diesem Krieg, im Sinne von Clausewitz, die «Strategie» der Palästinenser, also «der Gebrauch des Gefechts» (hier der Terrorakte) «zum Zweck des Krieges». Die Strategie muss «dem ganzen kriegerischen Akt ein Ziel setzen, welches dem Zweck desselben entspricht, das heisst, sie entwirft einen Kriegsplan.» Die Formel lautet: Terror = Strategie = Kriegsplan der Palästinenser.

Genauer und erweitert: Terror im israelischen Kernland, ergänzt durch den Klein- bzw. Guerillakrieg gegen israelische Soldaten und andere Militärziele in den von Israel besetzten Gebieten des Westjordanlandes und Gazastreifens. Aus Sicht der Palästinenser sind auch jüdische Siedler militärische Ziele. Wieder formelhaft: Terror im Feindes-, Guerilla im eigenen Land, wo sich der einheimische Soldat (immer als «Zivilist» getarnt und damit Völkerrecht brechend) «wie der Fisch im Wasser» (Mao Tse-Tung) gegen feindliche Militärs bewegt, weil er im Gegensatz zum bekämpften Besatzer von Körper, Kopf und Herz seiner Landsleute getragen wird. Clausewitz nennt im Kapitel über den «Volkskrieg» die Bedingung, «dass der Volkscharakter die Massregel unterstütze», wenn die «Volksbewaffnung» im Sinne des Volkswillens erfolgreich sein solle.

Guerilla ist, wie Terror, überall und immer zunächst der Krieg der Schwachen gegen die Starken. Die Stärke der Starken war, historisch betrachtet, gegenüber Guerilla und Terror militärisch bestenfalls begrenzt und politisch nie wirklich erfolgreich. Das zeigen zum Beispiel die Kämpfe Maos, Titos und des nordvietnamesischen Generals Giap 1954 gegen Frankreich und 1975 gegen Südvietnam/USA. Sie begannen als Guerilla und gingen in herkömmliche, offene Feldschlachten über.

Eine zweite Variante erfolgreicher Guerillastrategie besteht in der militärischen, wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Zermürbung des Feindes, ohne dass es am Ende zur offenen Feldschlacht kommt. Erfolgreiche Beispiele: Indonesiens Sukarno gegen die Niederlande 1945–1949, Algerier gegen Frankreich, 1954–1962.

Die eigene Zivilbevölkerung ist des Guerilla«soldaten» Schutz und Schild – und damit zugleich Geisel. In der Guerillastrategie ist die Trennung von Zivil und Militär – grundsätzlich und gewollt und von Anfang an – aufgehoben. Alle Guerillas sind Militärs, wenn auch Militärs mit dem Anschein von Zivilisten. Für den feindlichen Soldaten ist somit jeder Zivilist möglicherweise – vielleicht aber gerade nicht – Militär. Diese Grauzone, diese totale Verunsicherung der regulären feindlichen Soldaten ist mit ein Teil der Strategie und bedeutet, dass es im Guerillakrieg den Kampf «Soldaten gegen Soldaten» nicht gibt und dass für den herkömmlichen Soldaten Zivilisten und Militärs auf Feindesseite ununterscheidbar sind.

Das wiederum bedeutet: Die Bekämpf-ung der Guerilla durch reguläre Soldaten ist militärisch und vor allem moralisch eigentlich unmöglich, die militärische Überlegenheit zwecklos, der Starke wehrlos oder, sich wehrend, ehrlos, weil und wenn er seine Stärke militärisch einsetzt. Jedes von Soldaten getötete Opfer sieht zunächst der Soldat selbst und erst recht die Aussenwelt als Zivilisten. Jeder Soldat wird zum «Mörder». Das gehört zur Politik und Propaganda und damit zur psychologischen Kriegsführung der Guerillastrategie. Sie programmiert die eigenen zivilen Opfer als Propagandawaffe. Sie braucht Schreckensbilder, die sie der Welt präsentiert und die sie nutzt, um politische – oder besser: militärische – Hilfe von aussen zu mobilisieren. Man erinnere sich an Goyas Gemälde vom Guerillakrieg der Spanier gegen Napoleons Frankreich, und man denke natürlich an die Fernsehbilder von palästinensischen Zivilopfern der Ersten und Zweiten Intifada. Stets die gleiche Botschaft: Der ehrlose Goliath zermartert, zerquetscht, zerstört, vernichtet den wehrlosen David. Alle diese Bilder sind realistisch. Um sie realisieren zu können, muss die ehrlos-wehrlose Wirklichkeit hergestellt werden. Wie? Indem die Guerillas, wie die Palästinenser, die feindlichen Soldaten und feindliche Zivilpersonen aus Wohn- oder Krankenhäusern, Kindergärten oder Schulen beschiessen. Eine andere Variante: Kinder, Alte und andere Wehrlose als Demonstranten für eine «gerechte Sache» (zum Beispiel das Ende der israelischen Besatzung und Bedrängung) aktivieren und aus der Menge der «friedlich Protestierenden» als «Zivilisten» auf die israelischen Soldaten schiessen. Jeder Soldaten-Schuss auf jene Wehrlosen sollte Israel in den Augen der Welt ehrlos scheinen zu lassen.

Diese Rechnung ging auf. Umfragen während des Intifada-Krieges, besonders in Europa und Deutschland, beweisen es. Im Jahre 2003 stuften, dem «Eurobarometer» zufolge, 59 Prozent der EU-Bürger Israel als «grösste Gefahr für den Weltfrieden» ein. Nicht mehr und nicht weniger. Über fast allen Europäern standen mit 65 Prozent «die» Deutschen.

Noch weniger Risiken barg für die Palästinenser die traditionelle Strategie des Terrors, verstanden als Kette von Schreckensakten. Die meist wenigen Terroristen (manchmal nur einer) sind schwer zu greifen (Selbstmordattentäter ohnehin nicht), und die psychologische Zermürbung des feindlichen Militärs und der Zivilbevölkerung ist so gut wie gewiss; gewiss auch die wirtschaftlichen Kollateralschäden des Feindes. Werden die Terroristen dennoch lebend ergriffen und reagiert das feindliche und massiv überlegene Militär gegen die menschliche oder materielle Infrastruktur des Terrors, hat es eben wegen jener Massivität bereits verloren, denn auch und gerade das Umfeld der Terroristen wirkt nach aussen rein zivil. Die Opfer jedes Anti-Terror-Schlags sind damit – von den Terrori-sten programmiert – eigene Zivilisten, tatsächliche ebenso wie vermeintliche. Wieder steht das reguläre Militär als roher Goliath gegen den sich wehrenden, reinen und rein «zivilen» Terror-David.

Scharons Strategie unterschied sich nicht grundlegend von der traditionell israelischen Haltung seit dem sozialdemokratischen Gründungsvater Ben-Gurion. Sie lässt sich weitgehend von Gedanken leiten, die theoretisch in vier Möglichkeiten münden, auf Guerilla- oder Terroranschläge zu reagieren.

Erstens: Nicht reagieren. Diese Option hat man in Israel stets ausgeschlossen. Schon deshalb, weil jeder Staat der Welt die Aufgabe hat, seine Bürger nach aussen und innen zu schützen. Die Regierung Israels hätte durch Nicht-Reagieren die Schutzfunktion des Staates und damit die Notwendigkeit israelisch-jüdischer Staatlichkeit ad absurdum geführt.

Zweitens: Wie die Terroristen zivile Zufallsopfer blindwütig treffen. Nach innen und aussen wäre diese Option für Israels Demokratie nicht akzeptabel. Der Widerspruch zur immer ernst genommenen Ideologie der «Reinheit der Waffen» wäre nicht hinnehmbar, da selbstverschuldete innere Zermürbung durch die Verrohung der in Israel echten «Volksarmee» und damit der gesamtem Gesellschaft absehbar wäre.

Drittens: Gezielt die Guerilla- oder Terror-«Fische im Zivil-Wasser» treffen, ohne oder so wenig wie nur irgend möglich, aber unvermeidbar auch echte Zivilisten zu töten; also, statt wie beim Terror massenhaft Zufallsopfer, «gezielte Tötungen» der verantwortlichen Guerilla-oder-Terror-An-und-Ausführer, Drahtzieher, An-stifter. Jeder Krieg ist unmenschlich. Dass die medialen (und meistens realen) Schockbilder Europa zugunsten der Palästinenser aufrütteln würden, hoffte Arafat. Ja, Europa weinte für die Palästinenser. Es gab sogar Geld – das Arafats Klüngel, doch selten «die» Palästinenser erreichte. Europa hatte (so und wo und seit wann es darüber wusste) auch über die im Holocaust ermordeten Juden geweint; in den späten 1960er Jahren für und über Biafra; 1994 über den Völkermord in Ruanda, 1995 über das Abschlachten der Muslime in Srebrenica. Kein Mord wurde dadurch verhindert. Dass Europa (oder besser: dass vorab die Vereinigten Staaten!) im Kosovo eingriffen, hatte weniger mit Weinen als mit durchaus eigennützigen Ängsten zu tun. Man fürchtete den Exodus der Kosovo-Albaner nach Zentral- und Westeuropa. Für einen solchen Auszug der Kinder Palästinas liegt der Nahe Osten Europa zu fern. Auf das weiche und auf seine Weichheit stolze Europa zu setzen, war und bleibt auf absehbare Zeit eine Fehlkalkulation. Das hatte Arafat nicht verstanden.

Viertens: Sich als Ziel verweigern. Das ist bei anhaltender militärischer Besetzung fremder Gebiete grundsätzlich und natürlich auch im Westjordanland und Gazastreifen ausgeschlossen. Die eigenen Soldaten und Siedler bleiben hier Guerilla- und Terrorziele. Die eigene Zivilbevölkerung kann man sehr wohl schützen, wenngleich nicht vollständig. Undurchlässigkeit heisst das Schlüsselwort. Unbestreitbar gelang sie durch die Abriegelung und Aussperrung der besetzten Gebiete, sprich der dort lebenden Palästinenser, und den «Anti-Terror-Schutzwall». Diese Bezeichnung ist für deutsch-demokratische Ohren verständlicherweise unerträglich. Ist sie vermeidbar?

Die Abriegelung hatte für Israel einen weiteren Vorteil, der ebenfalls eine Folge der weitgehenden Identität von Zivil und Militär bei den Palästinensern war: die wirtschaftliche Lebensgrundlage der Feind-Bevölkerung wurde zerstört, weil Palästinenser nicht mehr in Israel arbeiten und Geld verdienen konnten. Ohne einen Schuss abfeuern zu müssen, setzen damit die Israelis die politische Führung innerpalästinensischem Druck aus. Von Israels Besatzung befreien wollten sich die meisten Palästinenser durchaus, verhungern aber nicht. Sehr wohl erkannten sie, dass zwischen Terror und Abriegelung – sprich: Armut und Hunger – ein Zusammenhang bestand. Die fehlenden Arbeitskräfte «importierte» Israel vermehrt aus Asien und Osteuropa, was freilich das Gastarbeiterproblem verschärfte. Die Gäste wollen bleiben, und Israel fürchtet um den jüdischen Charakter des jüdischen Staates, der durch palästinensische Arbeiter nicht gefährdet würde, denn diese kehren allabendlich zurück und Israel den Rücken.

Fazit: Anders als die meisten (so weit ich sehe: alle) Guerilla-Terror-Krieger zuvor erreichten die Palästinenser ihre strategischen Ziele nicht. Umgekehrt gilt: Israel hat erstmals gezeigt, dass und wie man einen Anti-Guerilla- und Anti-Terror-Krieg militärisch gewinnen kann. Erstmals? Dass die Briten die malaysischen Guerillas besiegt sowie Herzen und Köpfe der Einheimischen gewonnen hätten, wird in der Fachliteratur oft behauptet. Ein seltsamer Sieg, denn die Malaysier liebten die Briten so sehr, dass man sie in Malaysia als Touristen und Geschäftsleute findet, nicht als Kolonialherren.

Hat Israel den Intifada-Krieg auch politisch gewonnen? Die israelische Besatzung, nicht der Besuch von Oppositionsführer Scharon auf dem Tempelberg, war die eigentliche Kriegsursache. Wegen eines Politikerbesuches, zumal eines Oppositionspolitikers, und sei er noch so provokativ, beginnt man keinen Krieg. Kriege führt man gegen feindliche Regierungen, nicht gegen die Opposition im Feindesland. Das Ziel der Palästinenser war die Vertreibung des Besatzers, das Instrument der Krieg. Über Moral oder Unmoral der palästinensischen Kriegsentscheidung mögen andere streiten. Der Wille der Palästinenser ist verständlich, ihr Weg war politisch grundfalsch – ein kapitaler Fehler.

Auch politisch war der Intifada-Krieg für die Palästinenser ein Fehlschlag, wirtschaftlich ohnehin. Israels Reaktionen auf die Aktionen des Intifada-Krieges hatten seit Herbst 2000 den Palästinensern das Leben im autonomen «Palästina» in eine Hölle verwandelt. Ihr neuer Präsident Abbas wusste es schon zu Lebzeiten Arafats und versuchte als dessen Ministerpräsident einen Kurswechsel. Vergeblich. Nun hat er die Möglichkeit, ihn zu verwirklichen. Sein Ziel gleicht dem Arafats und der meisten Palästinenser: er will das Ende der israelischen Besatzung. Wer wollte, sollte und könnte das nicht verstehen? Anders als andere Palästinenser scheint Abbas die politische und wirtschaftliche Unwirksamkeit des blutgetränkten Kriegsinstruments für die Palästinenser erkannt zu haben. Die Waffen sind blutgetränkt, doch politisch stumpf; sie sind mörderisch, noch mehr aber: selbstmörderisch. Abbas wird noch harte Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen leisten müssen, denn besonders die Islamisten und nicht wenige Mitglieder seiner Fatah betrachten Krieg nicht (wie der «reife» Clausewitz) instrumentell, sondern existentiell. Ihr altbekannter Schlachtruf: «Mit Seele und Blut befreien wir dich, Palästina!» Nicht durch Politik und Kompromisse, sondern eben durch Blut. Blut, also Tod, als «Befreiung», der Tod als Symbol des Lebens – ebenso widerwärtig wie widersinnig. Nicht viel anders der frühe Clausewitz in seiner «Bekenntnisdenkschrift» (1812), deren historische Voraussetzungen wir hier ausser acht lassen: «Ich glaube und bekenne, dass ein Volk nichts höher zu achten hat als die Freiheit und Würde seines Daseins. Dass es diese mit dem letzten Blutstropfen verteidigen soll. Dass der Schandfleck einer feigen Unterwerfung nie zu verwischen ist. Dass dieser Giftstropfen in dem Blute eines Volkes in die Nachkommenschaft übergeht und die Kraft späterer Geschlechter lähmen und untergraben wird. […] Dass selbst der Untergang dieser Freiheit nach einem blutigen und ehrenvollen Kampf die Wiedergeburt des Volkes sichert und der Kern des Lebens ist, aus dem einst ein neuer Baum die sicheren Wurzeln schlägt.»

Werden die Palästinenser Clausewitz’ Weg vom existentiellen zum instrumentellen Krieg folgen und dann auch einen Kompromissfrieden schliessen wollen? Wenn sie überleben und nicht «ehrenvoll» untergehen wollen, müssen sie – und muss auch Israel diesen Weg gehen, denn der bald 60jährige Dauerkrieg seit 1948 (und die Kämpfe von 1882 bis 1947) zermürben langfristig auch den militärischen Sieger mental, politisch und wirtschaftlich. Israels demographische Zeitbombe tickt. Rund zwanzig Prozent der Einwohner im jüdischen Staat sind heute muslimisch-arabisch-palästinensische Staatsbürger. Diese Minderheit wächst rapide. Wie kann der jüdische Staat mit wachsenden Bedrohungen von innen und aussen überleben? Nur durch Kompromisse. Das hat, Umfragen beweisen es, die Mehrheit der Israelis begriffen, erst recht Scharon. Deshalb lenkt er ein. Kriege sind auch für ihn Instrumente der von ihm definierten kollektiven Lebenssicherung seines Volkes und nicht Rechtfertigungsbasis für dessen existentiellen Untergang. Abbas und Scharon, viele (die meisten?) Israelis und Palästinenser, haben inzwischen sehr wohl verstanden, dass Krieg nicht der Weg zur Auferstehung nach dem Tod ist. Wie Bismarck 1866 nach dem Sieg über Österreich (und Bayern), könnte, ja sollte Scharon nach dem militärischen Sieg aus dem einstigen Feind zumindest einen nicht-kriegerischen Partner machen. Des Siegers Hochmut wäre ein neuer Tiefpunkt. Des Siegers Grossmut könnte des Verlierers Motivation zum Frieden werden.

Michael Wolffsohn wurde 1947 in Tel-Aviv geboren. Nach Studien in Berlin, Tel-Aviv und New York habilitierte er sich in Geschichte und Politikwissenschaft. Seit 1981 lehrt er an der Universität der Bundeswehr in München. Er ist Autor von über 20 Büchern, die in alle Weltsprachen übersetzt wurden.

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