Im Westen wird über «Polarisierung» geklagt – andere wären froh darum
Viele sehnen sich nach mehr Harmonie in der Gesellschaft. Dabei ist es der Streit, der zu besseren Ideen führt. Er ist Ausdruck einer vitalen Demokratie.
Ganze 98,45 Prozent der Marokkaner stimmten 2011 im Kontext des arabischen Frühlings für eine neue Verfassung. Ein Ergebnis, das selbst Stalin vor Neid erblassen liesse.
Als jemand, der die arabische wie auch die westliche Welt kennt, fällt mir auf, wie unterschiedlich in beiden Kulturräumen mit bestimmten Begriffen umgegangen wird. Was hier als gefährliche «Polarisierung» beklagt wird, würde dort als ersehnte Freiheit gefeiert. In Marokko warnt niemand vor einer Polarisierung der Gesellschaft. Im Gegenteil: Eine polarisierte Gesellschaft wäre dort ein Zeichen der Lebendigkeit, Freiheit und der Möglichkeit, Argumente auszutauschen. Stattdessen herrscht eine erzwungene Harmonie.
Im Westen hingegen wird, frei nach Marx und Engels, das «Gespenst der Polarisierung» an die Wand gemalt. Egal, wer an der Macht ist, egal, welche Meinung geäussert wird: Irgendjemand wird sie als polarisierend empfinden. Trump polarisiert, Biden und Merkel ebenfalls. In der Schweiz polarisieren Cédric Wermuth und Ueli Maurer genauso wie der ehemalige Mitte-Präsident Gerhard Pfister mit seinen Tweets.
Streit ist produktiv
Was viele als Polarisierung bezeichnen, ist in Wahrheit ein Zeichen einer vitalen Demokratie und einer freien, offenen Gesellschaft. Die Philosophin Chantal Mouffe spricht von «agonistischer Demokratie», einer Demokratie, die vom produktiven Streit lebt. Ob Wermuth die Wirtschaft in ein regierungsverwaltetes Utopia nach Planwirtschaftsmodell umwandeln oder Blocher die Schweiz in eine mittelalterliche Festung verwandeln will, beides ist Teil dessen, was John Stuart Mill als «Marktplatz der Ideen» beschrieb.
Gewiss, eine liberale Gesellschaft braucht einen Grundkonsens – etwa über die Unantastbarkeit der Menschenwürde oder die Spielregeln des demokratischen Diskurses. Doch Polarisierung entsteht überhaupt nur dort, wo unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensentwürfe aufeinanderprallen.
In homogenen Kreisen – sei es im Zürcher Kreis 4, wo die privilegierte Akademikerelite beim überteuerten Soja-Latte über korrekte Pronomen fachsimpelt, oder im urnerischen Unterschächen, wo die SVP bei Wahlen weit über die Hälfte der Stimmen holt ‒ gibt es naturgemäss weniger Polarisierung. Aber eben auch weniger geistige Dynamik! Die besseren Ideen entstehen erst durch das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Pole.
«Im Zürcher Kreis 4, wo die privilegierte Akademikerelite beim Soja-Latte über korrekte Pronomen fachsimpelt, oder im urnerischen Unterschächen, wo die SVP weit über die Hälfte der Stimmen holt ‒ gibt es naturgemäss weniger Polarisierung. Aber eben auch weniger geistige Dynamik!»
Diese Kolumne eines neuen Schweizer Kindes mag unschweizerisch erscheinen; unpassend in einem Land, in dem der Streit von Konsens und Kollegialitätsprinzip übertrumpft wird. Doch mitnichten: Sie plädiert nicht für Vulgarität oder Unzivilisiertheit, sondern für mehr Debatten und mehr Durchmischung im Denken. Statt einer Gesellschaft nach Kindergartenvorbild, wo jeder Konflikt sofort wegmoderiert werden muss, brauchen wir eine Streitkultur, vielleicht nach dem Vorbild unserer Parlamentarier: tagsüber kampflustig in der Debatte, abends versöhnlich beim Bier.