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Ein mörderisches Vergnügen
Frank Urbaniok, zvg.

Ein mörderisches Vergnügen

Krimis sind nicht der Spiegel des Bösen, das unter dem ­zivilisatorischen Deckel in uns allen wohnt. Sie nutzen nur die Sehnsucht nach Sicherheit, die tief in uns schlummert.

 

Das Grundmuster der meisten Krimis ist überschaubar. Es geht darum, einen Täter – zumeist einen Mörder – zu überführen. In der Regel gelingt das innerhalb von 45 bis 90 Minuten; der Krimi endet mit der Verhaftung oder dem Tod des Übeltäters. In Filmen sind Schlusseinstellungen mit klickenden Handschellen, traurig versonnenen Blicken oder lockeren Sprüchen der Gesetzestreuen sehr beliebt. Bis dahin hat sich die Geschichte dramatisch zugespitzt, einen oder mehrere Tote gefordert. Die Actionvariante des Krimis tendiert zu einer höheren Zahl an Todesopfern und zu Lösungen, die weiter entfernt sind von rechtsstaatlichen Handlungen als bei der klassischen Variante des Krimis. Dort war zumeist ein findiger Kommissar am Werk, der schliesslich herausbekommt, werʼs gewesen ist.

Bei so einem simplen Grundmuster kommen unweigerlich Fragen auf: Hätte unser Interesse an Bösewichten und ihren Missetaten angesichts dieser stereotypen dramaturgischen Grundkonstellation, mit der bereits unzählige Generationen von Lesern und Zuschauern konfrontiert wurden, nicht schon längst erlahmen müssen? Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Kriminalromane werden nach wie vor gut ge­lesen, und ein «Tatort» am Sonntagabend bringt regelmässig um die 10 Millionen ­Zuschauer vor den Fernseher und erreicht so einen Marktanteil um die 25 Prozent.1

Legenden und Mythen

Warum nur? Jeder Mensch trage das Böse in verborgenen Untiefen seiner Persönlichkeit in sich, lautet eine gängige Theorie. Der Krimi erfülle somit stellvertretend die ­damit verbundenen Begierden, die üblicherweise nicht sichtbar seien und aus dem ­eigenen Selbstbild verbannt würden. Der Krimi sei faszinierend, weil wir etwas wiedererkennten, das in uns selbst wohne. Es lasse sich im Krimi aus sicherer Distanz betrachten und dadurch auch ein wenig aus­leben, ohne Schaden anzurichten. Mit solchen Einsichten zu den Abgründen der menschlichen Psyche macht man stets eine gute Figur, sei es beim nachdenklichen Kaminfeuergespräch oder im Gespräch an einer Party. Gerade in der Kulturszene und zum Teil im linkspolitischen Spektrum sucht man gerne nach den tiefen philosophischen und gesellschaftspolitischen Wahrheiten hinter der Kriminalität und dem Umgang mit ihr.

«In der Kulturszene sucht man gerne nach den philosophischen

und gesellschafts­politischen Wahrheiten hinter

der Kriminalität und dem Umgang mit ihr.»

Der Gedanke ist zudem wunderbar anschlussfähig für eine Vielzahl weitverbreiteter Theorien. So war zum Beispiel der gesellschaftliche Mainstream der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts von der Ansicht geprägt, dass Kriminalität stets gesellschaftliche Ursachen habe. Frei nach dem marxistischen Motto, wonach das Sein das Bewusstsein präge, lautete die logische Fortsetzung dieser Idee: Die Gesellschaft habe genau die Kriminalität, die sie aufgrund ihrer Versäumnisse und Missstände verdiene. Dazu passt der Gedanke, dass in jedem Menschen das Böse hause und es an einer fliessenden Grenze lediglich von Zufälligkeiten abhängig sei, bei wem es hervorbreche und wer demzufolge zum Mörder werde und wer nicht. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass diese Haltung fatale Folgen hatte. Weil man Kriminalität primär nicht als Ausdruck eines individuellen, sondern eines gesellschaftlichen Pro­blems betrachtete, hatte jeder Täter eine zweite, dritte, vierte und, wenn’s denn sein musste, auch eine zehnte Chance verdient. Individuelle Gefährlichkeitseinschätzungen der Täter waren verpönt. Lebenslängliche Haftstrafen wurden un­abhängig von der Gefährlichkeit immer nach 15 Jahren beendet, Verwahrte im Schnitt nach drei Jahren zurück in die Freiheit entlassen. Es gab viele schwere Rückfälle. Den Preis für die schönen Theorien zahlten die Opfer – und tun es mancherorts auch heute noch.

Anschlussfähigkeit des eingangs dargestellten Gedankens besteht auch zu bestimmten religiösen Vorstellungen. Die Zufälligkeit, aufgrund derer ein bestimmter Mensch zum Mörder wird, ein anderer aufgrund glücklicherer Umstände aber nicht, lässt sich gut mit folgender Annahme vereinbaren: Jeder Mensch ist grundsätzlich gut und der Mörder nur einer, der unglücklich aus der Bahn geworfen wurde. Diese Sichtweise erleichtert es, der christlichen Vorgabe zu folgen, auch dem ärgsten Feind zu ver­geben, um dadurch – zumindest für die nicht direkt Betroffenen – wieder einen harmonischen Zustand herzustellen.

Es ist aber nicht nur an die grossen politischen, philosophischen und spirituellen Interpretationslinien zu denken, sondern auch an die ganz praktischen Interessen. Strafverteidigern kommt es beispielsweise entgegen, wenn der Fokus weg von der Person des Täters und hin zu anderen tieferen oder höheren Themen verlagert werden kann. Denn es ist ja ihr Geschäft: Die Schuld eines Täters nach Möglichkeit in bewährter homöopathischer Manier durch allerlei nützliche und gut durchmischte Argumente in höchstmöglicher Verdünnungsstufe zu präsentieren. Ferdinand von Schirach, seines Zeichens sowohl Anwalt als auch Literat, vereint die dargestellten kulturellen und praktischen Perspektiven in seiner Person in idealer Weise. Nicht überraschend betont er, jeder Mensch könne zum Mörder werden, und bringt das in seinen Krimis deutlich zum Ausdruck.

Persönlichkeits- und Situationstäter

All die hier kurz skizzierten Denkfiguren führen dazu, den Fokus weg von den profanen und unhygienischen Aspekten der Kriminalität hin zu etwas Grösserem, Grundsätzlicherem zu lenken und dem Unterschied zwischen Menschen, die eine Straftat begehen, und solchen, die das nicht tun, einen Aspekt der Beliebigkeit zu geben. Man versteht, warum solche Ideen für bestimmte Kreise attraktiv und bequem sein können. Allein, sie haben einen Nachteil: Sie sind falsch. Es gibt nämlich einen gewichtigen Unterschied zwischen Persönlichkeits- und Situationstätern.

Der Persönlichkeitstäter begeht Straftaten aufgrund seiner Risikoeigenschaften, die ein Teil seiner Persönlichkeit sind. Er benötigt keine speziellen Situationen, sondern er sucht bzw. schafft Situationen, in denen er Straftaten begeht. Persönlichkeitstäter zeigen auch unabhängig von Straftaten problema­tische oder risikobehaftete Verhaltensweisen. Situationstäter dagegen haben eine weitgehend unauffällige Persönlichkeit und ihr ­Verhalten bewegt sich in einem normalen Spektrum. Wenn sie eine Straftat begehen, dann tun sie das nicht aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur, sondern aufgrund einer hochspezifischen Situation.

Wenn im Krieg Tausende von Männern bereit sind, Frauen zu vergewaltigen, weil das erlaubt ist, dann sind die meisten von ihnen Situationstäter. Wären sie nicht in dieser speziellen Situation, würden sie die Tat nicht begehen. Das macht die Taten nicht besser. Aber sie sind zu unterscheiden von einer von einem Persönlichkeitstäter ausgehenden Vergewaltigung, der diese un­abhängig von einer solchen Gelegenheit begeht; denn er hat ein in seiner Persönlichkeit verankertes Bedürfnis, Frauen zu vergewaltigen. So sind die meisten Gewalt- und Sexualstraftäter in unseren Breiten Persönlichkeitstäter. Im Gegensatz zu Situationstätern funktioniert bei ihnen das Abschreckungsprinzip nicht. Denn sie können ihr Verhalten nicht einfach verändern, weil es eine Folge von Risikoeigenschaften ist, die in der Persönlichkeit der Täter fest verankert sind.

«Aus evolutionärer ­Perspektive macht es Sinn, dem Starken, dem Gefährlichen

und dem Bedrohlichen volle Aufmerksamkeit zu widmen.»

Bei Persönlichkeitstätern ist also die Person das Problem, bei Situationstätern die Situation. Um Situationstaten zu verhindern, müssen Situationen verändert werden. Um Persönlichkeitstaten zu verhindern, muss sich etwas an der Persönlichkeit des Persönlichkeitstäters ändern bzw. am eigenen Umgang mit seinen Eigenschaften gearbeitet werden, zum Beispiel mithilfe von Therapien. Es gibt hier allerdings auch eine sehr kleine Gruppe hochgefährlicher und nicht behandelbarer Persönlichkeitstäter. Sie müssen frühzeitig erkannt und – wenn es um schwerste Straftaten geht – langfristig gesichert werden.

Im Gegensatz zu einer Person mit solchen Risikoeigenschaften ist das Risiko, dass eine Person ohne solche eine schwere Straftat begeht, extrem gering – weshalb es falsch ist, die Unterschiede zu verwischen. Es besteht schliesslich ein enormer Unterschied, ob die Wahrscheinlichkeit für eine schwere Straftat aufgrund fehlender Risikoeigenschaften bei 0,001 Prozent oder bei einem Persönlichkeitstäter zum Beispiel bei 70 Prozent liegt.

Fokus auf das Ungewöhnliche

Aber zurück zur Frage, weshalb denn nun der Krimi so beliebt ist. Aus evolutionärer Perspektive macht es Sinn, dem Starken, dem Gefährlichen und dem Bedrohlichen volle Aufmerksamkeit zu widmen. Unsere Vorfahren hatten ein besonderes Interesse daran, den unerwarteten Tod eines anderen Menschen besonders genau zu beobachten. Ob er von einem steilen Felsen stürzte, von einem Tier aufgefressen oder einem Aggressor aus einer anderen Gruppe ermordet wurde, war man gut beraten, genau hinzusehen und zu verstehen, wie es zu dem fatalen Ereignis kommen konnte. Denn nur so konnte man lernen, wie man der Gefahr in Zukunft aus dem Wege gehen oder den Aggressor erfolgreich bekämpfen konnte.

Sicher handelte es sich hier auch um Beobachtungen, an ­denen die Mitglieder der eigenen Gruppe brennend interessiert waren. Unsere Wahrnehmung ist generell nicht auf das Normale, das Gleichförmige, das sich ewig Wiederholende ausgerichtet, sondern auf das Ungewöhnliche, das Ausserordentliche, die Anomalie. Wir kennen das alle: Wenn in einem Restaurant in einer Ecke ein Fernseher läuft, dann kostet es Überwindung, nicht hinzuschauen. Unwillkürlich wird unsere Wahrnehmung durch die Bewegung der sich ändernden Bilder angezogen. Meine Erklärung ist deshalb profan. Ich glaube, es gibt eine tiefe evolutionäre ­Prägung, die dem Krimi, dem Mord und dem Mörder viel Aufmerksamkeit zuteil werden lässt.

Nicht zu unterschätzen ist noch ein weiterer Aspekt, der den Krimi attraktiv macht. Es ist seine Fähigkeit, uns zu guter Letzt – nach viel Aufregung, gefährlichen Zuspitzungen und anderen Abenteuern – doch wieder das Bild einer heilen Welt zu vermitteln. Besonders deutlich wird das in der Variante des sogenannten Thrillers, beispielhaft in einem James-Bond-Film, repräsentiert. Hier ist die Grundkonstellation erheblich zugespitzt und wird uns in Form eines modernen Märchens als Kampf von Gut gegen Böse präsentiert. Dem Helden mit der Lizenz zum Töten steht ein ­Tunichtgut gegenüber, der die Herrschaft der Welt an sich reissen möchte. Drunter macht er’s nicht. Dass ihm dies trotz aller Skrupellosigkeit und Raffinesse am Ende nie gelingt, ist äusserst beruhigend.

Der Krimi-Archetyp und die Realität

Üblicherweise gelingt es dem Krimi-Kommissar am Ende, den Täter zu verhaften. Man kann sich zurücklehnen, die Welt ist wieder in Ordnung. Aufgrund dieses Krimi-Archetyps glaubt die Mehrheit der Bevölkerung, dass die grösste Herausforderung im Umgang mit Straftätern darin bestehe, dass man herausfinde, wer der Täter sei und wer ihn einbuchte. Einmal überführt, ist er weg und bleibt weg. In der Realität jedoch ist die Verhaftung des Täters erst der Anfang der Probleme, werden doch mehr als 99 Prozent aller Gewalt- und Sexualstraftäter zu einer endlichen Freiheitsstrafe verurteilt. Spätestens wenn sie ihre Strafe nach einigen Jahren abgesessen haben, leben sie wieder unter uns. Hier ist es entscheidend, ob es bei einem gefährlichen Täter zum Beispiel durch eine erfolgreiche Therapie gelingt, seine Gefährlichkeit deutlich zu vermindern.

Fiktion und Wirklichkeit sind eben oft sehr verschieden. Das eröffnet Spielräume und hat Vorteile. Es hat aber ebenso Nachteile, wenn diese Unterschiede nicht erkannt werden und in der Bevölkerung zu falschen Vorstellungen führen. Nun aber genug mit Gewalt und Verbrechen. Gönnen Sie sich Entspannung. Ein guter Krimi wäre dafür doch jetzt genau das Richtige.

  1. prisma.de/news/Tatort-2020-die-TV-Einschaltquoten-Muenster-vor-­Koeln,26088337

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