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Der Souverän

Langsam geht der alte Mann die Strasse hinunter, Schritt für Schritt trippelt er seinem Schatten hinterher. Es ist noch früh am Tag. Kühl bestrahlt das Sonnenlicht die Szenerie, schneidet die Steine aus der Hauswand heraus, zeichnet die Körnungen und Kerben im Asphalt nach. Es ist der Tag der Entscheidung. Doch der Alte trägt keinen Sonntagsstaat, nur ein grosskariertes Flanellhemd, eine […]

Langsam geht der alte Mann die Strasse hinunter, Schritt für Schritt trippelt er seinem Schatten hinterher. Es ist noch früh am Tag. Kühl bestrahlt das Sonnenlicht die Szenerie, schneidet die Steine aus der Hauswand heraus, zeichnet die Körnungen und Kerben im Asphalt nach. Es ist der Tag der Entscheidung. Doch der Alte trägt keinen Sonntagsstaat, nur ein grosskariertes Flanellhemd, eine Weste, eine abgewetzte Hose. Das Licht streicht ihm über Kopf, Rücken und Arme. Stumm blickt er auf den Schatten vor sich. Am Boden sieht er sich selbst. Den linken Arm hält er leicht angewinkelt, als könnte er nicht mehr nach vorn ausgreifen. Unsicher, hüftsteif wirkt sein Gang, aber auch kleine Schritte führen zu dem Ziel, zu dem ihn der überlange Schatten führt. Er ist sein verlässlichster Gefährte. Nur in der Dunkelheit verlässt er ihn. Er zeigt ihm, dass er noch nicht verstummt ist. In der linken Hand hält er die Stimme, die er gleich abgeben wird. Unbehelligt geht er die Strasse hinunter.

Es ist die erste Wahl ohne Bedrohung, Einschüchterung oder Sabotage. Vor kurzem haben die Aktivisten im Untergrund der Bombe abgeschworen. Es blieb ihnen keine Wahl, nachdem man ihre Anführer verhaftet hatte. Die Niederlage des Terrors ist die Freiheit des Volkes. Erstmals seit einem Jahrzehnt werden Separatisten im spanischen Parlament ihre Wählerschaft wieder tatsächlich repräsentieren. Ohne Blutvergiessen wird der Wahlsonntag verlaufen, auch in Ibarra, der kleinen Heimatgemeinde des alten Mannes mit ihren rund 4000 Einwohnern. Mehr als fünfzig Prozent der Stimmen wird dort das neue Bündnis linksnationalistischer baskischer Parteien erringen.

Einsam ist der Weg zum Wahllokal. Zwar wird der Alte vor der Urne Bekannte wiedertreffen, frühere Kollegen vielleicht, Nachbarn, Verwandte, Zechgenossen, Gesinnungsfreunde. Viele werden vermutlich so abstimmen wie er. Doch ist die Wahl geheim. Laut und lärmend sind die Zeiten davor und danach, die Kampagnen der Parteien, die öffentlichen Versammlungen, Aufrufe und Reden, die Jubelfeiern der Sieger und die Trauer­rituale der Unterlegenen. Manche Bürger treffen ihre Wahl gemeinsam, bevor sie ihre Stimmzettel in den gläsernen Kasten werfen. Sie debattieren miteinander, gehen zusammen die Kandidatenliste durch, besprechen die Wahlregeln, um keine ungültige Stimme abzugeben.Wahre Souveränität indes verlangt Schweigen, soziale Abkehr, Einsamkeit. Demokratie erschöpft sich nicht in endloser Debatte. Wahlen verteilen Macht, Ämter und Legitimität. Dazu bedarf es der Diskretion. Ohne Geheimnis keine freie Wahl.

Allein hat der alte Mann sich auf den Weg gemacht, allein geht er zum Wahlort, allein hat er sein Urteil getroffen. Souverän ist, wer unabhängig von anderen seine Wahl trifft, auch wenn die Entscheidung zuletzt ganz durchschnittlich ausfällt. Nicht Einzigartigkeit, sondern Eigenständigkeit zeichnet den souveränen Charakter aus. Zwar kann sich niemand äusseren Einflüssen, Meinungen, Gefühlen entziehen. Der Druck zur Konformität obsiegt meist über den Mut zur Selbständigkeit. Nachahmung, Gewohnheit und Trägheit lassen die Menschen in fremde Fussstapfen treten und ihre eigenen Verstandes­­­kräfte vergessen. Wahlzeiten sind stets Hochzeiten der Überredung, der kollektiven Aufwallung und Gefolgschaftstreue. Davon macht sich der Souverän frei. Zwar empfindet auch er Anhänglichkeit, neigt Stimmungen zu, will falschen Gründen glauben und sich selbst täuschen. Doch zuletzt entscheidet er für sich. Es bedürfte der Mühen der Abwägung gar nicht, wäre das Gemüt frei von den Neigungen der Zeit. Aber weil er imstande ist, sich allein auf den Weg zu machen und sein Urteil in der Geheim­kammer seines Gehirns zu treffen, trägt der Bürger die Chance zur Souveränität in sich. Sie ist eine Quelle seiner Freiheit und politischen Macht. Das Geheimnis hält den Wahlausgang offen – und die Eliten in heilsamer Unruhe. Müssten die Repräsentanten den Souverän nicht mehr fürchten, wäre es mit der Demokratie vorbei.

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