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Dem Kampf gegen Hassrede fällt die Meinungsfreiheit  zum Opfer
Faika El-Nagashi, fotografiert von Minitta Kandlbauer.

Dem Kampf gegen Hassrede fällt die Meinungsfreiheit
zum Opfer

Identitätspolitische Forderungen haben die Gesetzgebung auf EU-Ebene erreicht. Damit könnten Andersdenkende juristisch gemassregelt werden.

Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Überzeugungen und Aussagen einerseits, die kon­trovers, unpopulär oder gar falsch sein mögen, und Äusserungen und Handlungen andererseits, die verhetzen, verleumden oder bedrohen. Dazwischen stehen meist das Strafrecht und Paragrafen, die den Straftatbestand genau beschreiben. Was aber geschieht, wenn die Linie zwischen freier und strafrelevanter Meinungsäusserung nicht nur verschwimmt, sondern sich verschiebt und bis vor kurzem neutrale und triviale Positionen, Interessenvertretungen oder wissenschaftliche Debattenbeiträge neu beschlagwortet werden – und zwar in bezug darauf, was sie bewirken würden (eine nicht näher definierte Verletzung) und wen sie treffen (einen zunehmend uneingegrenzten Personenkreis)?

Die Überschrift dafür hat sich auf ein Schlagwort verkürzt: Hass. Eine menschliche Emotion, die schwer fassbar ist und zwischen Wut, Abscheu, Verurteilung und Verachtung oszilliert. Hass ist eine komplizierte Emotion. Psychoanalytisch ist sie verbunden mit Selbsthass und mit Projektionen eigener Anteile auf andere, dem Überwinden von Ohnmacht und wunschhaften Fixierungen und dem Beanspruchen von Rechtschaffenheit und Wahrheit. In der politischen Verwendung geht diese Vielschichtigkeit verloren und weicht Kampagnen zur Bekämpfung von Hass, die sowohl von konservativer als auch von progressiver Seite getragen werden (können). Dabei hat sich ein Begriffspaar ausdifferenziert, das die zu bekämpfenden Ausformungen beschreibt: Hassrede (Hate Speech) und Hassverbrechen (Hate Crime). Ersteres – Hassrede – wird oft auf «Hass im Netz» zugespitzt und hat in den vergangenen Jahren an Zahl und Wirkung zweifelsohne zugenommen. Bereits vor zehn Jahren hat der Europarat mit dem «No Hate Speech Movement» eine Bewegung etabliert, die sich in über 40 Ländern der Bekämpfung von Hassrede verschrieben hat. Nun möchte die Europäische Kommission Hassrede und Hassverbrechen in die Liste der sogenannten «EU-Straftaten» (gemäss Art. 83 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) aufnehmen. Bei EU-Straftaten handelt es sich um (bislang zehn) Bereiche besonders schwerer Kriminalität, die aufgrund der Art oder der Auswirkung der Verbrechen oder einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Das sind zum Beispiel Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption. In ihrer Rede zur Lage der Union 2020 formulierte die konservative Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen es so: «Wir wollen die Liste der EU-Straftatbestände auf alle Formen von Hassverbrechen und Hassreden ausweiten – sei es in bezug auf Rasse, Religion, Geschlecht oder Sexualität.» Auf Englisch verwendete sie die Begriffe: race, religion, gender or sexuality.1 Der feine Unterschied liegt im Verständnis und der Befüllung der Begriffe, die nun zur Definition und Operationalisierung (inklusive Sanktionierung) von neuen EU-Straftaten herangezogen werden sollen. Und dies wird mitunter zu einer ideologischen Frage.

Sprechakte beim Amt

Bislang hatte die Europäische Union nur eine Zuständigkeit zur Kriminalisierung von Hassrede und Hassverbrechen auf der Basis von Gründen, die vom Rahmenbeschluss 2008/913 des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit umfasst waren. Nun sollen Diskriminierungsformen hinzugefügt und damit weitere Personengruppen mit sogenannten «geschützten Merkmalen» umfasst werden. Neben Alter, Behinderung und Religion sind dies also «Geschlecht» (gender) und «Sexualität» (sexuality). Was genau darunter verstanden wird, ist jedoch schwer einzugrenzen und durchaus umstritten. Als Referenz bezieht sich die EU-Kommission unter anderem auf die Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ-Personen 2020–20252, einen umfangreichen Forderungskatalog, der Massnahmen in den Politikbereichen, Rechtsvorschriften und Finanzierungsprogrammen der EU vorsieht. Dazu zählt die Ausweitung der Liste der EU-Straftaten auf Hassdelikte und Hetze gegen LGBTIQ-Personen – eine vielfältige Gruppe, in der sexuelle Orientierungen (lesbisch, schwul, bisexuell) mit diversen Vorstellungen von Geschlechtsidentität (trans, nichtbinär), mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (Intergeschlechtlichkeit) und mit einer recht eigenen Definition von queer («Personen, deren Identität nicht in eine binäre Klassifikation der Sexualität und/oder des Geschlechts passt») zusammengefasst und allesamt miteinander zu einer geschützten Gruppe erklärt werden. Noch stärker verschwimmen die Grenzen – und Interessen – der einzelnen Untergruppen (Buchstaben) in der unspezifischen Bezeichnung «Queerfeindlichkeit» oder der Klammer «Homo- und Transphobie». Dabei gibt es nicht nur unterschiedliche, sondern auch geradezu gegensätzliche Interessen, wenn es um sexuelle Orientierung (eingebettet in eine biologische Zweigeschlechtlichkeit) einerseits und die Geschlechtsidentität (selbst definiert) andererseits geht. Oder aber um Konfliktlinien mit anderen ebenso «geschützten Merkmalen» und Personengruppen wie dem biologischen Geschlecht und den Rechten von Frauen.

Mit dem in mehreren Ländern bereits beschlossenen und in Deutschland vor dem Sommer 2022 angekündigten Selbstbestimmungsgesetz findet eine grundlegende rechtliche und gesellschaftliche Veränderung statt. Jede Person soll durch Selbstbestimmung, also durch einen Sprechakt beim Amt, bestimmen können, mit welchem Geschlecht sie rechtlich geführt wird. Und welchem Geschlecht sie damit als zugehörig angesehen wird, zu welchen nach Geschlecht getrennten Räumen sie damit Zutritt bekommt. In diesem Zusammenhang ergeben sich konkrete und stark aufgeladene Spannungsfelder. Die Debatten darüber zu führen ist unangenehm und herausfordernd, sicherlich auch oft verletzend und verstörend – aber für eine offene Gesellschaft unumgänglich. Wie gelingt das jedoch, wenn der Begriff «Frau» zunehmend durch andere, vermeintlich «inklusivere» Bezeichnungen wie «Gebärende» oder «Menstruierende» oder «FLINTA» (kurz für: Frauen, Lesben, Inter, Trans, Agender) ersetzt wird? Wie kann überhaupt noch über Frauenrechte gesprochen werden? Diejenigen, die zwischen biologischen Frauen und Transfrauen sprachlich und konzeptionell unterscheiden, werden als «TERFs» («trans exclusionary radical feminists») verunglimpft und als transphob beschimpft. Ihnen wird (gewaltvolle) Hassrede unterstellt. Sie würden durch ihre Fragen und Diskussionen die Existenz von Transmenschen gefährden und sie (diskursiv) auslöschen. Fragen danach, wie verhindert werden kann, dass biologische Männer Zutritt zu den Räumen bekommen, die bislang für biologische Frauen vorgesehen waren und in denen sich diese oft in besonders vulnerablen Situationen befinden. Oder wie Fairness im Sport für Frauen sichergestellt werden kann, wenn Personen an Frauenbewerben teilnehmen, die durch ein männliches Wachstum körperliche Vorteile aufweisen. Oder ob Lesben und Schwule – homosexuelle Menschen, die an demselben biologischen Geschlecht interessiert sind – akzeptieren müssen, dass es «Lesben mit Penis» bzw. (viel seltener diskutiert) «Schwule mit Vulva» gibt. All das wäre Hass, sagen nicht etwa nur Lobbygruppen für die Rechte von Transpersonen, sondern mit dem Brustton der Überzeugung auch diejenigen Institutionen, die sich der Bekämpfung des Hasses gegen LGBTIQ-Personen (nämlich gegen alle von ihnen) verschrieben haben.

«Jede Person soll durch Selbstbestimmung,
also durch einen Sprechakt beim Amt, bestimmen können,
mit welchem Geschlecht sie rechtlich geführt wird.»

Brandmarkung liberaler Positionen als «rechts»

So kündigte der Vorsitzende der britischen Labour Party, Keir Starmer, vergangenes Jahr an, härtere Gesetze gegen LGBT-Hassverbrechen einführen zu wollen, in denen Vergehen wie «misgendering» bei Straftaten als erschwerend behandelt werden; also das Ansprechen einer Person auf eine Art und Weise, die nicht zu ihrem selbst definierten Geschlecht passt, zum Beispiel mit den falschen Pronomen. Ebenfalls 2022 begann in Kanada die Disziplinaranhörung durch den Fachverband British Columbia College of Nurses and Midwives gegen die Krankenschwester Amy Hamm, der – ausserhalb ihres Jobs – diskriminierende und abwertende Aussagen gegenüber Transpersonen vorgeworfen werden. Es ging um Statements wie: «Männer sind keine Frauen. Der Mensch ist eine dimorphe Spezies. Frauen und Männer sind biologisch verschieden voneinander. Aufgrund dieser Unterschiede haben Frauen und Mädchen geschlechtsspezifische Rechte. Diese Rechte sind bedroht.» Kanada hat bereits 2016 «Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck» als gegen Hassrede geschützte Charakteristiken in die Gesetzgebung aufgenommen. In Norwegen ermittelte die Polizei wegen Hassrede gegen die Feministin Christina Ellingsen, die wegen Twitter-Postings angezeigt wurde. Darin schrieb sie unter anderem, dass Männer keine Mütter sein könnten. Norwegen hat 2020 Hassrede gegen Transmenschen verboten und für private Aussagen eine Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr, für öffentliche Aussagen von bis zu drei Jahren festgelegt.3

Aber nicht nur Gesetze begrenzen durch eine ausschweifende Auslegung von Hassrede und durch das Ignorieren der manifesten Interessenkonflikte unter den vor Diskriminierung geschützten Personengruppen die Debatte. Immer mehr Unternehmen folgen den Kampagnen und Activist-Influencern auf Social Media und in sozialen Jugendbewegungen und ändern ihre Richtlinien oder führen neue ein. Bezahldienstleister wie PayPal, Verkaufsplattformen wie Etsy oder Crowdfundingseiten wie GoFundMe sperren Konten von Personen, die zuvor durch Shitstorms oder gezielte Medienberichte als extremistisch gebrandmarkt wurden – darunter Feministinnen, Lesben und Schwule, Linksliberale, Bürgerliche. Der Vorwurf? Förderung, Unterstützung oder Verherrlichung von Hass oder Gewalt gegenüber geschützten Gruppen.

Mit Rechtsextremen in einem Topf

Damit konfrontiert wurde auch die LGB Alliance, eine Organisation, die sich für die Rechte und gegen die Diskriminierung von homo- und bisexuellen Männern und Frauen einsetzt: «Wir erkennen an, dass das Geschlecht binär ist, weiblich und männlich, und dass (für die grosse Mehrheit der Menschen) das Geschlecht bei der Empfängnis bestimmt, bei der Geburt (oder im Uterus) beobachtet und aufgezeichnet wird. Wir lehnen es ab, die seltenen medizinischen Unterschiede in der sexuellen Entwicklung (DSDs/Intersex) zu vereinnahmen, um die binäre Natur des Geschlechts in Frage zu stellen.» Ihre Haltung gegenüber Transmenschen formuliert die LGB Alliance so: «Wir unterstützen Transmenschen in ihrem Kampf um Würde, Respekt und ein Leben frei von Bigotterie und Angst. Wir sind der Meinung, dass die Probleme und Prioritäten von Menschen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen (homosexuell/bisexuell), andere sind als die von Transgenderpersonen, und deshalb konzentrieren wir uns stattdessen auf Lesben, Schwule und bisexuelle Menschen, während es eine Reihe von Organisationen gibt, die sich auf Transmenschen und Transthemen konzentrieren.» Aber auch diese klaren und unspektakulären Positionen konnten die Diffamierungen nicht verhindern. Eine NGO, die «gegen Hass und Extremismus» arbeitet, erhob auf ihrer Webseite Anschuldigungen gegen die LGB Alliance. In einem «Länderbericht» wurde sie in rufschädigender und tendenziöser Weise in einer Liste mit rechtsextremen Gruppen angeführt und darin als «Anti-Transgender» vermerkt (unter anderem, weil sie sich gegen Unisex-Klos ausgesprochen hätte). Die Parameter für Hass – und Extremismus! – werden just an den Schnittstellen zwischen den Interessen verschiedener geschützter Gruppen entnommen und letztlich ideologisch verhandelt.

«Es geht nicht mehr nur um Aussagen, die verhetzen, ­verleumden oder bedrohen und zu Recht strafbar sind. Es geht auch um die Durchsetzung von Interessen in gesellschaftspolitischen Debatten.»

Es geht bei Hassrede also nicht mehr nur um Aussagen, die verhetzen, verleumden oder bedrohen und zu Recht strafbar sind. Es geht auch um die Durchsetzung von Interessen in gesellschaftspolitischen Debatten und darum, wie diese überhaupt geführt werden können. Und es geht damit um die Grundfesten einer offenen liberalen Gesellschaft, die Rede- und Meinungsfreiheit nicht als Gefühlsperformance versteht, sondern ihren Wert gerade im Widerspruch, im Dissens und in der Konfliktaustragung sieht.

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