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Eine Andere ­Akademie
Bruno S. Frey, zvg.

Eine Andere ­Akademie

Das Punktesammeln im Grundstudium und der Publikationsdruck im Doktorat machen die Universität für kreative Köpfe unattraktiv. Eine neue Hochschule kann den Innovationsgeist wiederbeleben.

 

Es gibt gravierende Mängel an den heutigen Universitäten. Besonders seit der Bologna-Reform ab 1999 haben sich die Probleme verschärft. Die Studierenden müssen sich bemühen, die für das Bachelor-Examen notwendigen Punkte zu sammeln. Deshalb gestalten sie ihr Studium folgendermassen:

  • Eine universitäre Veranstaltung wird hauptsächlich nach den Punkten beurteilt, die sie einbringt. Die Studierenden klären ab, wie hoch der Aufwand sein wird, also wie leicht sie die notwendigen Punkte erwerben können.
  • Dem Interesse am Inhalt weisen demgegenüber die Studierenden wenig Gewicht zu.

Die zur Erfüllung der Punkteanforderungen notwendigen Informationen werden von den Studierenden mündlich oder im Internet gesammelt. Universitäten und Studierende stellen dafür Applikationen zur Verfügung.

Dieses Verhalten ist auf der Bachelor-Stufe dominant, erstreckt sich aber abgemildert auch auf die Master-Stufe, die heute als eigentlicher Abschluss eines Studiums gilt. Auf dieser Stufe werden die wissenschaftlichen Methoden betont, Fragestellungen und Inhalt jedoch tendenziell vernachlässigt. Auch in sozialwissenschaftlichen Disziplinen wird heute grosser Wert auf eine quantitative Orientierung gelegt. Dafür sind Daten notwendig, die jedoch notwendigerweise die Vergangenheit abbilden. Die Forschungsergebnisse beziehen sich deshalb häufig auf die Vergangenheit; sie können aus diesem Grund oft wenig zum Verständnis und zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme beitragen. Daten über das Konsumverhalten zwischen den Jahren 2000 und 2019 sind zum Beispiel wenig geeignet, wenn sich danach die Konsumbedingungen infolge der Pandemie (insbesondere vermehrtes Homeoffice oder Isolierung) stark ändern.

Doktorandinnen und junge Wissenschafter, aber auch etablierte Professoren stehen unter einem starken Publikationsdruck. In vielen Fächern wird keine Dissertation mehr geschrieben, sondern es müssen nur noch drei, manchmal auch vier wissenschaftliche Artikel verfasst werden. Diese müssen nicht überall bereits in einer akademischen Zeitschrift publiziert, sollten aber «publikationsfähig» sein. Doktorierende müssen somit Themen und Methoden wählen, von denen sie erwarten, dass sie für wissenschaftlich anerkannte Zeitschriften von Interesse sind. Da für eine Annahme in einer Zeitschrift die Zustimmung von mindestens drei (zuweilen auch fünf) Gutachtenden nötig ist, bedeutet dies, dass auf keinen Fall umstrittene und ungewöhnliche Thesen vertreten werden dürfen. Eine oder einer der Gutachtenden wird mit einer unkonventionellen Idee Probleme haben – und das bedeutet in aller Regel schon das Ende der Publikationschance. Damit wird auch die Forschung immer angepasster und enger. Als Ergebnis besteht die Wissenschaft zunehmend aus isolierten Silos.

Ein weiterer Mangel der heutigen Universität ist die Gewohnheit, Drittmittel als wissenschaftliche Leistung zu bewerten. Dies wird besonders deutlich, weil in Berufungsverfahren häufig bewertet wird, wie viele Drittmittel jemand eingeworben hat. Dabei handelt es sich natürlich nur um einen Input für die wissenschaftliche Forschung. Ob damit zusätzliche und wertvolle Einsichten gewonnen werden, bleibt offen. Zudem müssen häufig bereits in einem Forschungsantrag die Ergebnisse dargelegt werden. Es ist sogar üblich geworden, Forschungsmittel erst dann zu beantragen, wenn das Forschungsprojekt eigentlich schon abgeschlossen ist. Ein Projektantrag für Drittmittel wird vermutlich abgelehnt, wenn er sich auf schwer zu beantwortende Fragen bezieht, etwa wie die privat angebotenen Weltraumreisen den Tourismus auf der Erde beeinflussen.

Die erwähnten Defizite der heutigen Universitäten haben eine oft übersehene Wirkung: Manche an wissenschaftlichen Inhalten besonders interessierte junge Leute vermeiden bereits diese Art der Ausbildung. Das angebotene Studium wird gerade für engagierte und kreative Jugendliche immer weniger attraktiv. Sie wenden sich Möglichkeiten zu, bei denen der Inhalt und die Gegenwartsprobleme im Vordergrund stehen. Umgekehrt bringt ein Universitätsabschluss zunehmend wenig Chancen im Berufsleben. Der frühere Personalchef von Google, Laszlo Bock, hat es deutlich ausgedrückt: «Es gibt keinerlei Verbindung zwischen Studienerfolg und Leistung im Job» und «…nicht nur die Note ist irrelevant, sondern immer häufiger auch das Studium selbst».

Eine zukunftsfähige universitäre Ausbildung

In einer Anderen Akademie sollten drei Aspekte im Vordergrund stehen:

  • Die Erkenntnis über unsere Welt muss im Zentrum stehen. Methoden sind nur ein Hilfsmittel, um diese Erkenntnisse zu gewinnen, und sind deshalb sekundär. Im Zentrum müssen die wissenschaftlichen Inhalte stehen, wie dies auch der Nobelpreisträger George A. Akerlof betont. Auch (noch) nicht beantwortbare Fragen sind wichtig. Es sollte nicht nur bekanntes ­Wissen miteinander verknüpft werden und darauf aufbauend Lösungen gesucht werden. Vielmehr sollte man sich jenen Fragen zuwenden, für die es bisher keine Lösungen gibt.

«Die Andere Akademie knüpft teilweise an die Vorstellungen an,

die wir mit der klassischen athenischen Akademie verbinden.»

  • Wir brauchen eine Andere Akademie, die Originalität, innovative Gedanken, ungewöhnliche Vorschläge und sogar bizarr erscheinende Ideen zulässt und fördert. Gefragt sind Gedanken, die nicht im «Zeitgeist» mitschwimmen, sondern im Gegenteil weit darüber hinausgehen. Das bedeutet auch, dass politische Korrektheit, Cancel Culture und Woke keine Rolle spielen sollten und abweichende Meinungen ausgehalten werden müssen.
  • Die Diskussion und der Austausch von Argumenten bilden die Essenz der Anderen Akademie. Die Debatten müssen zivilisiert ablaufen. Es darf keine Rolle spielen, wer ein Argument vorbringt, sondern wie weiterführend und spannend dieses ist. Erst nachdem ein Thema ausführlich diskutiert worden ist, kommen die Untersuchungsmethoden zum Zuge; sie sind nur ein Hilfsmittel, um Erkenntnisse zu gewinnen.

Die Diskussion darf kein blosser Austausch von Ansichten sein. Diese müssen anschliessend sorgfältig empirisch analysiert werden. Damit wird vermieden, dass die Andere Akademie nur ein Ort unverbindlichen Gesprächs wird. Die Vor- und Nachteile der Methode zur Überprüfung der vorgebrachten Thesen sind mit Spezialisten der verschiedenen Methoden (zum Beispiel Umfragen, ökonometrische Analysen, Experimente) vertieft zu diskutieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die künstliche Intelligenz auch in dieser Hinsicht grosse Fortschritte gemacht hat. Es wird in absehbarer Zeit möglich sein, präzise Auskunft darüber zu erhalten, welche Methode für die Beantwortung welcher Thesen sinnvoll ist. Die Datenerhebungen und Schätzungen werden mit algorithmischer Unterstützung weitgehend automatisch durchgeführt werden können. Es ist somit immer weniger wichtig, die mathematischen Grundlagen der verwendeten Methoden zu verinnerlichen; es genügt, sie nachvollziehen und bewerten zu können.

Konstruktion einer Anderen Akademie

Eine Andere Akademie sollte sich vom eingeschlagenen, starren Weg der Universitäten lösen und stattdessen die Vermittlung und Akkumulierung des Wissens besser den Bedürfnissen der Gesellschaft anpassen. Damit dies gilt, sind sechs Aspekte zu beachten:

  • Fürs Studium werden Personen ausgewählt, die sich durch ungewöhnliche, innovative und selbständige Gedanken auszeichnen und motiviert sind, diese weiterzuverfolgen. Auf eine Alterslimite nach unten oder oben ist zu verzichten, es können sich also auch ganz junge Personen und solche im fortgeschrittenen Alter bewerben. Ebenso wird kein bestimmter Schulabschluss vorausgesetzt. Eine Lehre sollte genügen; es braucht nicht unbedingt eine Matura oder ein Abitur. Die Auswahl ist durch ein Gremium durchzuführen, das den Vorschlägen des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman entspricht. Die Bewerbenden müssen von mehreren Gutachtern gemäss einer vorgegebenen Zahl von Indikatoren bewertet werden. Die Gutachter müssen die Entscheidung unabhängig voneinander treffen, um unerwünschte Gruppendynamiken in Gremien zu vermeiden. Die endgültige Entscheidung wird auf Basis der aggregierten Einzelentscheidungen getroffen.
  • Die Studierenden können die angebotenen Studienthemen, Fächer, Kurse, Kolloquien und Seminare frei wählen. Die getroffene Wahl soll dann mit den Studierenden der Anderen Akademie diskutiert und begründet werden.
  • Die Studierenden erhalten ein Stipendium zum Beispiel von 50 000 Euro pro Jahr oder insgesamt 150 000 Euro. Diese Mittel sind von privaten Quellen aufzubringen, also von Stiftungen und Einzelpersonen.
  • Es gibt keine klassische Abschlussprüfung. Nach drei Jahren wird in einem ausführlichen Gespräch mit einzelnen Dozentinnen und Dozenten erörtert, ob ein Studierender während des Studiums an der Anderen Akademie genügend zusätzliche Einsichten und Fähigkeiten erworben hat. Das Ergebnis wird wie­derum mit dem von Kahneman propagierten Entscheidungsmechanismus gefällt.
  • Es wird kein übliches «Diplom» ausgehändigt, sondern nur eine Bestätigung, dass ein Studierender sich aktiv betätigt und sich im abschliessenden Gespräch als würdiger Absolvent oder würdige Absolventin erwiesen hat. Vorausgesetzt, der Anderen Akademie gelingt es, ihre Ziele zu erreichen, wird ein solcher Abschluss ausserhalb des akademischen Bereichs gewürdigt werden: Es genügt zu zeigen, dass die Ausbildung an einer derartigen Akademie erfolgt ist. Die Praxis wird bald die Vorzüge dieses Bildungsganges zu schätzen wissen und Absolvierende nachfragen.
  • Die heutigen Universitäten sind stark an internationalen Rankings orientiert. Es wird ein grosser Aufwand betrieben, um in diesen Ranglisten gut dazustehen. Damit ist ein starker Druck auf eine gleichförmige Forschung verbunden. Was zählt, ist die Zahl der Publikationen in den führenden Fachzeitschriften und der Zitierungen durch andere Wissenschafter. Die Andere Akademie beteiligt sich nicht an diesem höchst fraglichen Wettbewerb, in dem wenig oder nichts über die Qualität der Forschung ausgesagt wird.

Wettbewerb mit Universitäten
Die Andere Akademie soll die bisherigen, durch die Bologna-Reform geprägten Hochschulen nicht verdrängen. Vielmehr sollen sie im Wettbewerb nebeneinander bestehen. Die meisten heute an Universitäten eingeschriebenen Studierenden sind dort vermutlich besser aufgehoben, weil sie durch das Punktesystem zu einem geregelten Studium gezwungen werden.

Die Andere Akademie hält sich bewusst klein. Sie soll die begrenzte Zahl an unkonventionellen Personen anziehen, die das heutige System wenig schätzen, dabei scheitern oder einen Ausweg daraus suchen. Erfüllen mehr Personen die durch die Gutachterinnen und Gutachter überprüften Anforderungen, als Studierplätze zur Verfügung stehen, ist eine zufällige Auswahl vorzunehmen.

Fokus auf Fragen

Eine neuartige Andere Akademie in Europa ins Leben zu rufen und zu gestalten, bedarf eines grossen Aufwandes, der sich jedoch lohnen kann. Denn im globalen Wettbewerb sind technologische Innovationen und Erfindungen bedeutender geworden, um sich wirtschaftlich zwischen den USA und China behaupten zu können. Um in diesem Wettrennen zu bestehen, braucht es, empirischen Untersuchungen zufolge, heute wieder eher Generalisten als stark spezialisierte Personen. Die Andere Akademie knüpft teilweise an die Vorstellungen an, die wir mit der klassischen athenischen Akademie verbinden. Es gibt jedoch erhebliche Unterschiede. Neben der besonderen Art der Aufnahme ist insbesondere auf die grosse Bedeutung der aufgeworfenen Fragen im Vergleich zu den Methoden hinzuweisen. Im Unterschied zur heutigen universitären Ausbildung, in der die Methoden oft eine dominante Rolle einnehmen – und dann irgendwann gefragt wird, auf welche Fragen und Daten sie sich denn wohl anwenden liessen –, sollen sie in der Anderen Akademie nur als Hilfsmittel dienen. Im Vordergrund steht die Analyse von Gegenwartsproblemen und mögliche zukünftige Entwicklungen. Die methodischen Ansätze sollen bestmöglich angewendet werden, ohne dass sie die gesamte wissenschaftliche Aktivität dominieren. Stattdessen soll sich die Andere Akademie auf kreative und ungewöhnliche Ideen konzentrieren – ein Bereich, zu dem die fortschreitende Digitalisierung wenig oder gar nichts beitragen kann. Die Andere Akademie ist somit zukunftsfähiger als herkömmliche Universitäten.

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