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Der Literaturstreit aus Leipziger Sicht

Mitte des 18. Jahrhunderts gerieten sich Zürich und Leipzig erbittert in die Haare über der Frage, ob die Phantasie in der Dichtung etwas zu suchen habe oder nicht. Die Schweizer gewannen die Auseinandersetzung – in den Augen der Sachsen ein Sieg des Mystizismus und der Dummheit über die Aufklärung.

Eines der wichtigsten Ereignisse der Geschichte der deutschsprachigen Literatur in der Mitte des 18. Jahrhunderts bildete der sogenannte Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich. Jede Darstellung jener Epoche, bis hin zum Schulbuch, berücksichtigt mehr oder minder ausführlich jenes Geschehen, das untrennbar mit den Namen Johann Christoph Gottsched (Leipzig) und Johann Jacob Bodmer bzw. Johann Jacob Breitinger (Zürich), als einander gegenüberstehenden Kontrahenten, verbunden ist. Der Streit blieb jedoch nicht auf Leipzig und Zürich beschränkt, wenn diese Orte auch immer die Mittelpunkte der kämpfenden Parteien bildeten, sondern er erfasste auch andere kulturelle Zentren Deutschlands und der Schweiz. Ein langwieriger Streitschriftenkrieg, dessen quantitative Dimension von der Forschung bis heute nur unzureichend erfasst worden ist, hielt zahlreiche Federn in Bewegung, deren Produkte heute freilich allesamt vergessen sind. Man hat in diesem Kampf alsbald alle Hemmungen fahren lassen und dem Gegner nichts geschenkt. Injurien der gröbsten und der schärfsten Art waren an der Tagesordnung; der Wille, den Gegner zu vernichten, ihm «das Maul zu stopfen», kam immer wieder zum Ausdruck. Der Sieg wird von der Mit- und Nachwelt übereinstimmend den Schweizern zugesprochen, die sich ihres Triumphes allerdings nicht sehr lange zu erfreuen vermochten; denn die literarische Entwicklung schritt rasch über sie hinweg, oft ohne der Anstösse zu gedenken, die Bodmer und Breitinger der nachwachsenden Generation vermittelt hatten. Die Literaturgeschichtsschreibung jedoch billigte später, seit dem 19. Jahrhundert, jenem Ringen immerhin eine wichtige, wenn nicht gar zentrale Rolle in der Entwicklung der Literatur in den Jahrzehnten vor dem Auftreten Goethes zu.

Fragt man nach dem Inhalt des Streites, so erfolgt gemeinhin die Antwort, es sei um die Funktion der Phantasie bzw. des Wunderbaren in der Dichtung gegangen. Der dem Rationalismus der Schule des Philosophen Christian Wolff verpflichtete Gottsched beharrt auf der Kontrolle der Dichtung durch die Vernunft, was unter anderem das Auftreten mythischer Figuren oder das Eintreten unwahrscheinlicher Ereignisse strikt verbietet. John Miltons Epos «Paradise Lost» mit seinen Engeln und Teufeln ist für Gottsched daher der Inbegriff vernunftwidrigen Phantasierens. Dass Bodmer mit seiner immer erneut überarbeiteten Übersetzung diese Dichtung im deutschsprachigen Raum verbreitet, wird Gottsched, der zuerst mit Bodmer über Jahre in brieflicher Verbindung steht, zum wachsenden Anstoss und löst so letztendlich den Streit mit den Zürchern aus. Den Schweizern dagegen geht es um die jenseits der Ratio angesiedelte emotionale Wirkung der Dichtung, um die Rolle der Einbildungskraft im Prozess des Dichtens, dessen Aufgabe darin gesehen wird, das «Wahrscheinliche in die Farbe des Wunderbaren» zu kleiden (Breitinger).

Die Auseinandersetzung zwischen Leipzig und Zürich ist jedoch noch etwas weiteres gewesen als ein Theorienstreit um philosophisch-ästhetische und poetologische Gesichtspunkte, der im Grunde auch zwischen beliebigen anderen Plätzen des literarischen Lebens hätte ausgetragen werden können. Dass der Kampf so lange und so erbittert betrieben worden ist, lässt noch auf zusätzliche Hintergründe schliessen, die die Literaturwissenschaft bisher nicht oder kaum zur Kenntnis genommen hat. Dazu zählen zweifellos die Unterschiede zwischen den geographischen Räumen, in denen sich die Kontrahenten bewegten, also zwischen Sachsen und der Schweiz, mit ihren jeweiligen literarischen und kulturellen Traditionen.

Sachsen bildete eine Kulturlandschaft mit besonders ausgeprägtem Selbstbewusstsein, mit zwei Universitäten, zahlreichen angesehenen Gymnasien, einem wie nirgends sonst florierenden Buchhandelswesen, mit berühmten Bibliotheken und Kunstsammlungen. Fast noch wichtiger war das weitverbreitete Ansehen der «Meissnischen Mundart», die als das beste, das vorbildlichste Deutsch galt. Die «Reinigkeit» der deutschen Sprache, urteilt 1744 ein Zeitgenosse, sei durch den Einfluss des «grossen Musen-Sitzes, dem zwar offt, aber noch nie genug belobten unvergleichlichen Leipzig, endlich auf das hoechste gestiegen». Gelangt das reine Deutsch der Obersachsen in anderen Gegenden deutscher Zunge nicht zur Anwendung, regen sich rasch deren kritische Federn. Das Urteil trifft dann ganze Landschaften: «Allein was die Geschmeidigkeit der Sprache anlanget, so ist es vielleicht einigermassen von der Sprache etlicher Provinzen in Deutschland wahr, dass sie ziemlich steif und unbiegsam ist…»

Dass zu diesen Provinzen nicht zuletzt auch die zwar ausserhalb Deutschlands gelegene, aber grösstenteils deutschsprachige Schweiz gerechnet wird, sollte die weitere Entwicklung zeigen. Während der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts respektierten die Schweizer das Vorbild des sächsischen Deutschs. Bodmer selbst liess seine Texte, darunter auch die Milton-Übersetzung, in Leipzig sprachlich überarbeiten. In den dreissiger Jahren kommt es zu einer grundlegenden Änderung dieser Einstellung. Der sich jetzt herausformende schweizerische Patriotismus erfasst auch die Sprache. Die Schweizer, meint nun Bodmer, benötigten nicht länger den «sächsischen Magister» als Sprachlehrer. Ihr Idiom, ihre Literatur seien vielmehr älter, reicher, kraftvoller, wohlgestalter als diejenigen der Sachsen. Der später so mächtige Mythos der Schweiz als Landes der Freiheit und Unverdorbenheit wird in diesem Zusammenhang deutlich sichtbar. Zu den Charaktereigenschaften der Schweizer zähle, so Bodmer und Breitinger, «frey dencken und kräftig schreiben» zu können, das vermöchten die «sächsischen Magister» mit ihrer «nervenlosen Sprache» nicht. Rousseau lässt aus der Ferne grüssen.

Dem Kreis um Gottsched bieten diese Emanzipationsbestrebungen der Schweizer ein Rätsel, haben doch für ihn Sprache und Literatur in Sachsen ein schon fast nicht überbietbares vorbildliches Niveau erreicht, dank den eigenen, unermüdlichen reformerischen Bemühungen. Beschreiten die Schweizer andere Wege, so laufen sie in die Irre, zählt ihr Land doch zu den eben erwähnten rückständigen Provinzen. Die hier entstehenden Dichtungen – Originale und Übersetzungen – trifft das harte Urteil der sächsischen Kritiker: alles sei Schwulst und Barbarei, denn es sei unnatürlich.

Der Spott über die Sprache der Schweizer verbindet sich ohne weiteres mit der Kritik an dem ganzen kulturellen Zustand der Alpenrepublik. Eine grobe, rauhe, mit Archaismen behaftete Sprache ist für die Leipziger zugleich Ausdruck einer zurückgebliebenen Entwicklung der Kultur, denn Sprache und Kultur bilden für sie eine Einheit.

Die jeweilige Naturlandschaft hat in dieser Sicht entscheidenden Anteil an der Formung des Charakters ihrer Bewohner, an der Höhe der kulturellen Entwicklung. Berge und Gebirge gelten in jener Zeit noch als Relikte der in der Sintflut zerstörten Schöpfung. Bergige Gegenden sind für Gottsched «ein wüstes, rauhes Land… Wo kein gesittet Volk in schönen Städten hauset». Apollo als Gott der Musen meidet solche Gegend: «Warum? sie wies ihm nicht die Schönheit der Natur. Sie ist der Schreibart gleich, die von den Alpen stammet,/ Rauh, höckricht, hart und steif; wie er sie stets verdammet.» Der einsame Bergbewohner ist für Gottsched vor allem auch abergläubisch, denn «er lernt nicht sich, nicht andre Leute kennen./ Sein Gott wird jeder Klotz, vor dem er thöricht kniet».

Der Kampf gegen den Aberglauben bildet jedoch eines der Grundanliegen der Leipziger Aufklärer. Es geht ihnen um die Behauptung der gesunden Vernunft, um den Sieg der Aufklärung über Aberglauben, Dummheit und Mystizismus. Der Kampf ist mühsam, denn die Aufklärungsgegner sind allerorten auszumachen: Katholiken, orthodoxe lutherische Geistliche, Pietisten und eben auch die Schweizer – soweit sie sich dem Reich der Vernunft widersetzen.

Besitzt das Reich der Vernunft Grenzen? Für die Schweizer ist eine solche Linie klar erkennbar. Sie wird von der Poesie und von der Religion gezogen; deren Reiche erstrecken sich über die Grenzen der Vernunft hinaus. Beide sind aufeinander bezogen. Es gilt, sagt der Hallenser Professor Georg Friedrich Meier als einer der eifrigsten Anhänger Bodmers, «die wahre Religion in der erhabensten und feurigsten Poesie vorzutragen». Milton und Klopstock sind es, die diese Aufgabe vollbracht haben bzw. vollbringen werden. Die Schweizer stehen ganz auf ihrer Seite. Für Gottsched und seinen Kreis jedoch erhebt hier niemand anders als der alte Feind sein Haupt: Aberglaube und Barbarei. Vernunft und Religion können in keinem Widerspruch zueinander stehen, denn eine Religion, die den berechtigten Anspruch erheben will, eine solche zu sein, muss eine vernünftige Religion sein, die alle Elemente des Wunderbaren und Widervernünftigen von sich weist. Vernünftige Religion und vernünftige Dichtung bedingen einander. Teufel, Hexen und Gespenster kann es nicht in der Religion und kann es nicht in der Dichtung geben. Indem die Schweizer gegen den Intellektualismus Front beziehen, die «Einbildungskraft» kultivieren, das Prinzip der «natürlichen» Erklärung alles Geschehens leugnen, bestätigen sie ihren Leipziger Gegnern nochmals das schon gefällte Urteil: sie zählen zum Lager der Feinde der Aufklärung, und damit stehen sie, modern gesprochen, auf der Seite der Verlierer.

Ein Hintergrund des Literaturstreites, so sei nochmals festgehalten, ist also im Gegeneinander der Selbstbilder der Schweizer und der Sachsen zu sehen. Damit verbindet sich, deutlicher noch für die sächsische Seite, die Frage nach dem Charakter der Aufklärung. Eine jede Seite betrachtete sich der anderen gegenüber als überlegen, wobei allerdings der Kampfgeist der sich von früheren Abhängigkeiten lösenden Schweizer der entschiedenere war. Eine friedliche Beilegung des Streites lag so gänzlich ausserhalb aller Möglichkeiten.

DETLEF DÖRING, geboren 1952, ist nach einem Studium der Theologie und der Bibliothekswissenschaften seit 1995 an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften tätig und ausserplanmässiger Professor an der Universität Leipzig.

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