Der ewige Wassertropfen
Elif Shafak verwebt vielschichtige Themen zu grossen Geschichten.In ihrem neuen Roman sogar über Jahrtausende hinweg.
Die britisch-türkische Autorin Elif Shafak ist die bekannteste Autorin in der Türkei, doch auch weit darüber hinaus hat sie sich als eine wichtige Stimme der Gegenwart etabliert. Bedacht mit verschiedenen internationalen Preisen, wurden ihre 19 Bücher in über 50 Sprachen übersetzt.
Shafaks Kindheit war sowohl durch häufige Länderwechsel geprägt als auch durch die Trennung ihrer Eltern, wonach sie von ihrer Mutter und Grossmutter grossgezogen wurde. Geboren in Strassburg, wuchs sie in Ankara, Madrid, Jordanien und Deutschland auf. Nach einem Studium in Ankara und akademischen Positionen in den USA lebt sie mit ihrer Familie seit längerem im Grossraum London.
Shafaks Bücher erzählen von Menschen, ihren Sehnsüchten und Lieben, aber auch von Themen wie Ehrenmorden, dem Völkermord an den Armeniern und immer wieder von der Rolle der Frau, besonders in der türkischen Gesellschaft. Dies hat sie in der Türkei sowohl Bewunderung als auch Hass erfahren lassen, von Verfolgung durch das Regime bis zu Massenprotesten, wo ihr Bild bespuckt und verbrannt wurde. Doch trotz dem Widerstand wird der eindrucksvolle neue Roman «Am Himmel die Flüsse» ihren literarischen Aufstieg fortführen.
Minutiös recherchiert
Es ist ein vielschichtiger und komplexer Roman. Auf fast 600 Seiten folgen wir drei Zeit- und Erzählungsebenen, die trotz vieler gemeinsamer Motive und Hintergründe doch lange relativ unabhängig scheinen. Arthur wird 1840 in London geboren, die neunjährige Narin reist 2014 in den Nordirak zu ihrer eigenen Taufe im heiligen Lalisch-Tal, und Zaleekhah lebt 2018 in London.
Es wird schnell klar, dass die Kultur der alten Assyrer in
allen drei Ebenen präsent ist. Das Buch eröffnet mit einem alleinstehenden Kapitel, das den letzten grossen assyrischen König Assurbanipal Mitte des siebten Jahrhunderts v. Chr. am Vorabend des Falls seiner Hauptstadt Ninive zeigt. Wir folgen einem Regentropfen, der als Vorbote eines Gewitters, das sich allegorisch drohend am Horizont aufbaut, in die Haare des Königs fällt. Derselbe Tropfen wird immer wiederkehren, Arthur nach seiner Geburt in den Mund fallen, 2014 in Narins Flasche abgefüllt und 2018 in einer Träne in Zaleekhahs Hausboot vergossen.
So werden dieser Tropfen und Wasser ganz allgemein zum zweiten grossen Leitmotiv des Buches. Arthurs Bruder stirbt durch verseuchtes Wasser an Cholera, die seinen Körper austrocknet. Zaleekhahs Eltern kommen in einer Sturzflut um, sie selbst wird Hydrologin. Und Narins Grossmutter kann Wasseradern erspüren. Doch gibt es zahlreiche weitere Gegenstände und Motive, die zwischen den verschiedenen Zeitebenen wiederkehren, so zum Beispiel einzelne Schrifttafeln aus der berühmten Bibliothek des Assurbanipal oder das Flutmotiv aus dem Gilgamesch-Epos, welches die biblische Sintflut inspirierte.
Es ist bemerkenswert, wie Shafak es versteht, eine Nähe zwischen den verschiedenen Handlungsebenen herzustellen, lange ohne dass sie sich wirklich berühren. Eine weitere beachtliche Leistung ist die Vielzahl und Tiefe historisch-kultureller Themenkomplexe, welche die Autorin miteinander verwebt. Ihrem gewohnten Fokus treu bleibend, stehen vor allem Motive der ökonomischen, religiösen und geschlechtsbedingten Unterdrückung und Ausbeutung im Vordergrund. Arthur wächst in einem Londoner Armenviertel auf, am unteren Ende des englischen Klassensystems des 19. Jahrhunderts. Seine Mutter endet in einem Londoner Irrenhaus mit der Diagnose «Schwermut». Narin ist als Jesidin Teil einer ethnisch-religiösen kurdischen Minderheit und gerät in die Anfänge des vom Islamischen Staat verübten Genozids an ihrem Volk. Shafak schreibt von der unscharfen Trennlinie zwischen Archäologie und Kunstraub, von modernem Sklaven- und Organhandel, vielseitige Themen, die bei ihr mühelos ineinanderfliessen. Nie erscheint die Handlung bemüht.
Arthur Smyth, so erfahren wir in den Anmerkungen der Autorin, ist stark inspiriert von der realen historischen Person des englischen Assyriologen George Smith, dem Entdecker und Erstübersetzer des Gilgamesch-Epos. Nicht nur Smiths Leben und Zeit sowie sein Fachgebiet, sondern alle Gebiete, die Shafaks Roman beleuchtet, sind minutiös recherchiert und ausgearbeitet. Selbst wenn das Lesen einen nicht so in den Bann ziehen würde, müsste man der Autorin dankbar sein für die Weiten und Welten, die sie einem öffnet.
Realität und Mystik
Es würde zu weit gehen, Shafaks Roman dem magischen Realismus zuzuordnen. Doch ist in ihm Arthur mehr als sein historisches Vorbild und vieles mehr als unsere Realität. In «Am Himmel die Flüsse» ist Mythisches Teil einer Welt, in der Wasser Erinnerungen trägt, in der viele zentrale Figuren übernatürliche Gaben haben. Arthur ist sein Aufstieg aus dem Elend nur möglich dank seiner perfekten Erinnerung, die mit dem Moment seiner Geburt ansetzt. Narin ist Nachfahrin einer langen Folge jesidischer Wahrsagerinnen, sogenannter Fahryas. Diese Frauen erleben ihre Welt so wie wir Shafaks Roman, sie «leben in ihrer eigenen Zeit, einer zyklischen Historie».
Zwischen den verschiedenen Zeitebenen des Romans spiegeln sich viele Gegenstände, Orte, Menschen und Handlungselemente. Derselbe Wassertropfen trägt Vergangenes scheinbar in die Gegenwarten der verschiedenen Protagonisten. Im siebten Jahrhundert v. Chr. ermordet und unterdrückt Assurbanipal Anhänger von ihm nicht geduldeter Gottheiten, die Jesiden werden Opfer der an ihnen verübten Völkermorde: 1874 durch den Pascha von Mosul und 2014 durch den Islamischen Staat.
Geschrieben in der Sprache ihrer gewählten englischen Heimat, verbindet «Am Himmel die Flüsse» lebendig Welten, die in der Autorin und Vergangenem liegen. Der Roman gibt dem langen Leiden eines ganzen Volkes eine Stimme und zollt dem Leben Einzelner Tribut, ob George Smith oder der Grossmutter der Autorin selbst, die in vielem die Figur von Narins Grossmutter inspiriert hat. Shafaks Roman ist bedeutend, sowohl aufgrund des narrativen Sogs, den er entwickelt, als auch durch seine technische Konzeption und historische Komplexität. Und so bleibt dem Leser letztlich auch beides: eine Sehnsucht nach Personen, die es so nie gab, und ein Fernweh nach Völkern und Orten, auf deren Rückkehr in Shafiks zyklischer Zeitvorstellung wir ungeduldig warten.